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Kirchen, die zurzeit fast alle tagsüber durchgängig offenstehen, könnte ich auch bei Bedarf meine Akkus aufladen, gut zu wissen. Und klar, mich reizt natürlich auch, mal eine Nacht in einer Kirche zu verbringen, denn das hatte ich noch nicht. Ich kann mich kaum motivieren, den ruhigen, „warmen“ und windgeschützten Platz wieder zu verlassen. Geht es so Menschen, die sich irgendwann einmal für ein Leben im Kloster entschieden haben? Aber ich kann auch nicht bleiben, aus Angst, abends verjagt zu werden. Die Ostseite der Bucht ist fast durchgängig besiedelt. Viel Wasser bekomme ich nicht zu sehen, es ist Ebbe. Zufälligerweise bin ich dann auf dem Jakobsweg, der direkt an der Bucht langführt. Der starke Wind bläst mir meinen Hut vom Schädel, echt unangenehm. Darum ist hier, von einem Pärchen und einem Jogger abgesehen, auch niemand zu sehen. Nach vierzig Kilometern erreiche ich halb neun den Hafen von Cassy, ein kleiner Fischerort, zwischen Lanton und Andernos-les-Bains gelegen. Mittlerweile hat sich der Himmel wieder verfinstert, noch bevor die Nacht beginnt. Es droht wieder zu regnen. Ich schaue mich im Hafen um, außer weniger Ausnahmen sind keine Menschen zu sehen. Ich entdecke einen alten Fischerschuppen, zum fünf Meter entfernten Wasser hin offen, ansonsten geschlossen und mit einem Dach, ein Fußweg führt hier nicht vorbei. Viel Werkzeug liegt rum: Bleche und Netze, an denen Seetang hängt und von denen ein starker Fischgeruch ausgeht. Es ist gar nicht so einfach, zwischen all dem Kram genug Platz für meine Matte zu finden, das Zeug ist alles so sehr nach oben gestapelt, dass es mühsam wäre, irgendetwas umzulagern … außerdem bin ich ein nichtzahlender Gast, also will ich auch keine Unordnung schaffen. Nah am Eingang quetsche ich mich durch das Gerümpel durch und finde eine Möglichkeit, meine Matte auf dem harten Steinboden fast komplett der Länge nach auszulegen. Durch die Sachen vor mir bin ich von draußen aus nicht gleich auf dem ersten Blick zu erkennen, aber wer außer vielleicht der Eigentümer kommt hier überhaupt mal vorbei? Ich geh noch mal raus, setze mich auf eine Bank, um noch mal zu überprüfen, ob irgendwelche Probleme vorhersehbar sind. Aber nichts, niemand ist zu sehen oder zu hören. Auch die Straße ist 300 Meter entfernt. Das einzige Geräusch, das man hier hört, ist ein Geräusch, dass ich schon mein Leben lang liebe, welches erzeugt wird, wenn sich die Jachten und Boote langsam mit dem Wasserpegel hoch und runter schaukeln. Schaukeln trifft es ganz gut, es klingt ähnlich wie bei einer quietschen Schaukel.

      Die Nacht ist ruhig, es bleibt warm und niemand weckt mich auf. Die Knie mucken herum, weil sie die stundenlange, angewinkelte Liegeposition nicht vertragen. Der Regen bleibt aus. Halb sieben Aufbruch. Kurze Zeit später in Arès, Verschnaufpause in der Kirche, was vor allem dann verlockend ist, wenn es draußen grau und trist ausschaut. Ich komme in ein bewaldetes Naturreservat, ein angenehmer Wanderweg direkt neben dem Ufer, wo weder Autos noch Fahrräder fahren dürfen. Dahinter bin ich wieder am Atlantik, da der Fahrradweg auf der „falschen“ Seite der hohen Düne langläuft, sieht man das Meer beim Wandern nicht, außer man nimmt dafür ein mühsames Wandern direkt auf Sand in Kauf … macht aber auch nur die halbe Geschwindigkeit. Ich bin hier auf dem Jakobsweg mit dem Namen Voie de Soulac … dieser führt vom Ästuar der Gironde bis nach Irun … aber jedoch bei weitem nicht so gut markiert, wie die Wege in Spanien, sonst hätte ich ja die ganze Zeit auf diesem Jakobsweg laufen und mir somit einige Asphaltritte ersparen können. Neben Strand und Düne beginnt der riesige Pinienwald, der nirgendwo ein Ende zu haben scheint und irgendwie die einsamen Geister in mir heraufbeschwört. Straßen, die parallel zur Küste verlaufen, gibt es hier nicht. Der Himmel ist heute phänomenal, von ganz grau am Morgen bis zu einer weißen Dunstschicht am Nachmittag … und auf einmal, innerhalb von nur 60 Sekunden verzieht sich die Dunstschicht komplett und über mir zeigt sich erstmals seit Tagen ein klarer, blauer Himmel. Das ist für mich das Zeichen! Rauf auf die menschenleere Düne, dem Atlantik gewunken, Matte ausgerollt, Bier herausgeholt, Sachen ausgezogen und langgemacht. Endlich mal wieder richtig Sonne, das muss ich mit meinem ganzen Körper teilen! Für einen Moment zieh ich sogar meine Boxershorts aus, aber das ist mir dann doch zu viel des Guten, beziehungsweise Schlechten. Ich lege viel wert auf Ästhetik. Die Knie schmerzen nach der unbequemen Nacht. Ich mache mir ihretwegen mal wieder Sorgen. Außerdem bereitet es mir Sorgen, dass ich trotz des vielen Glücks in den letzten Tagen weit weniger zufrieden bin, als ich es in den ersten Wochen am Mittelmeer war. Woher kommt das? Schon genug gesehen? Satt? Abenteuer-Akku bereits wieder bei 100 Prozent? Mehr geht nicht? Das kann doch nicht sein! Wenn ich die täglichen Geschenke nicht mehr zu schätzen weiß, wozu werde ich dann überhaupt noch beschenkt? Also reiß dich zusammen! Genieß den Augenblick, sonst wirst du es irgendwann bereuen, wenn du es nicht getan hast.

      Der lange Strand (100 Kilometer durchgehend!) ist von der Zivilisation so gut wie unberührt, die Unmengen an Sand würden wohl jeden Ort unter sich begraben. Mal ein Sanitärtrakt für Badegäste oder auch mal eine Imbissbude, mehr ist nicht. Vereinzelt tauchen Surfer auf, auch ein paar Leute, die sich sonnen oder am Strand spazieren. Ich suche einen Windschutz, aber kein Bunker in Sicht. Bei Le Porge-Océan, also der Strandabschnitt der zum Ort Le Porge (fast zehn Kilometer im Landesinneren) gehört, sehe ich am Strand ein skurriles „Bauwerk“ … drei Holzpaletten wurden so zusammengebaut, dass es einen winzigen Unterstand ergibt … das sieht so knuffig aus, dass ich beschließe dort zu übernachten. Regen scheint nicht zu drohen und etwas Windschutz bietet das 1x1 Meter „große“ Palettengerüst auch. Ich finde auf der Düne noch ein paar Bretter, mit denen ich das Dach abdichte. Falls es doch regnet, könnte ich mich wenigstens hinsetzen und würde nicht allzu nass werden … bei einem Sturm würde das natürlich anders aussehen. Aber die Sonne scheint, geht direkt vor mir über dem Atlantik unter. Ich krame mein Tagebuch raus: Jetzt mal gemütlich auf der Couch sitzen, einen Kaffee trinken, was Warmes zum Abendessen und mit ihr etwas in der Glotze schauen. Aber ich habe deswegen ja immer rumgejammert, wie mich das alles einschränkt, dass das ja gar nicht ich bin … das hier und jetzt, bin das etwa ich? Ich werde beim Schreiben unterbrochen, vier gutaussehende junge Kerle tauchen mit ihren Surfbrettern von hinter der Düne direkt neben mir auf. Sie beachten mich nicht, laufen in ihren schwarzen Surfanzügen direkt in die hohen Wellen hinein, pünktlich zu den letzten Minuten des Sonnenuntergangs, also das passt ja mal ins Klischee … aber ich kann sie verstehen, die rote Sonne und die folgende Abendröte, das macht schon Spaß. Denk ich mir zumindest, denn ich stand noch nie auf einem Surfbrett. Kurz vor der Dunkelheit kommen die Jungs raus und verschwinden wieder hinter der Düne, nun bin ich endlich allein und denke an die vielen schönen Momente dieser Reise. Der Sternenhimmel beruhigt und inspiriert. Die Konstruktion um mich herum hält dem Wind stand, eine gute Wahl. Die Nacht ist warm und trocken.

      Die Morgendämmerung beginnt mittlerweile kurz nach fünf. Im Februar war das immer mein Startsignal, zurzeit kann ich mich nicht dazu motivieren, mit dem ersten Tageslicht auch aufzubrechen, dabei könnte ich so ordentlich Strecke machen. Die vier Surfer vom Abend tauchen sieben Uhr wieder auf, Zeit für mich zusammenzupacken und aufzubrechen. Auf die Düne rauf und wieder runter zum Fahrradweg, auf dem man nur äußerst selten eine Menschenseele antrifft. Der Lauf durch den Pinienwald ist eine Tortur … überall fiese Bremsen, die einem ständig beißen wollen. Andauernd schlage ich um mich, eine Pause ist nicht drin, nicht einmal für fünf Sekunden, weil sonst schlagartig ein Dutzend dieser Blutsauger auf dir hocken. Und verdammt, wenn sie einem wo auch immer beißen, ist das deutlich unangenehmer als bei Mücken. Und was mich so richtig nervt, diese Viecher kriegt man nur schwer totzuschlagen, oft muss man zwei- oder dreimal auf sich selbst einschlagen, um das Vieh auf der Haut zum Schweigen zu bringen. Manchmal schlägt man auch vorbei und trifft nur sich selbst. Hundert, zweihundert, vielleicht sogar dreihundert Schläge bekommt man hier pro Stunde ab, so muss sich das Leben eines Boxers anfühlen. Ich habe mir überlegt, ob ich trotz der Wärme beim Laufen lange Klamotten anziehe, aber ich habe ja gar keine Chance (Zeit!) mich umzuziehen. Wenn ich jedoch meinem Lebensmotto treu bleiben und hinter allem etwas Positives sehen möchte, gelingt das auch hier: Man läuft und läuft und läuft … so ist es nicht schwer, über vierzig Kilometer am Tag zu laufen. Das Gefühl auf der Flucht zu sein ist die beste Motivation, die man haben kann. In Lacanau-Océan treffe ich dann endlich mal auf ein paar Menschen; ein Urlauber aus Mönchengladbach füllt meine Wasserflaschen auf. Auch in diesem Ort sind wieder viele Surfer unterwegs, dieser Küstenstreifen muss ein richtiges Surferparadies sein. Dass hier guter Wind herrscht, kann man an den hohen Dünen erkennen. Vom kleinen Urlaubsort geht es wieder in den Pinienwald hinein und zurück zu meinen Freunden. Menschen sind keine zu sehen und die Kilometerangaben der Wegweiser auf dem Radweg sind schon sehr demotivierend … da sind es auf einmal 16 Kilometer

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