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Sonne geht über der Stadt unter, ich stehe so, dass ich das Hafenportal mit seinen Türmen und der dahinter untergehenden Sonne knipsen kann. Schöne Fotos. Ich bin berauscht, setze mich auf eine Bank, ziehe mir die Kapuze über den Schädel und genieße den Anblick der Abendröte. Es sind schöne, unvergessliche Stunden in La Rochelle. Auf der anderen Seite der schmalen Bucht laufe ich einen Spazierweg entlang, blicke immer wieder über das Wasser zur Altstadt mit seinen drei Türmen. Lichter gehen an, die Nacht ist da, auch das ist ein schöner Anblick.

      Zurück am Vieux Port laufe ich an den Marktbuden vorbei, ohne irgendwo zu stoppen, weil ich kein Geld habe und noch wichtiger, weil mich die Leute erdrücken. Am letzten Verkaufsstand, in Richtung Hafenausfahrt, blickt der Verkäufer auf meinen Rucksack und spricht mich an. Er ist neugierig, wo meine Reise hingeht. Wir schwatzen kurz und dann zeigt er mir, was er und seine Frau verkaufen. Dabei handelt es sich um Schmuck (Halsketten, Armbänder), den vor allem sie herstellt. Sie haben sich für drei Tage den Stand gemietet, teuer, aber der Verkauf ist dank der vielen Touristen gut. Sie kommen aus den Pyrenäen. Sie spricht kein Englisch, ich versuche es auf Französisch und bin schon dankbar, wenn dabei überhaupt einmal etwas Verständliches aus meinem Mund kommt. Gegen Mitternacht werden die Zelte um die Verkaufsstände geschlossen, wenn ich möchte, kann ich die Nacht in ihrem Zelt verbringen. Sie räumen nachher alles zusammen und kommen am nächsten Morgen wieder. Ab und an kommt ein Sicherheitsmann vorbei, aber dieser könnte mich im Inneren des Zeltes nicht sehen. Falls er mich doch bemerkt, soll ich aber nicht sagen, dass die Beiden es mir erlaubt hätten, denn dann würden sie Ärger bekommen. Alles klar, ich danke.

       Der Schlafplatz erweist sich als nicht die beste Wahl. Die Laternen bleiben die ganze Nacht über an, es ist recht hell und selbst drei Uhr ist noch Radau, vor allem Männer grölen auf dem schmalen Weg neben dem Zelt herum. Einer pisst gegen die Plane, der Gestank macht sich im ganzen Zelt breit, mir wird übel – die Nächte in der Zivilisation bringen auch den Gestank der Zivilisation mit sich. Ich sollte nicht mehr mitten in Städten pennen. Im ersten Tageslicht habe ich genug und ziehe weiter. Das ewig selbe Bild eines Stadtzentrums am frühen Morgen spielt sich vor meinen Augen ab, keine Touristen mehr, nur die Reinigungskräfte sind unterwegs, ansonsten Totenstille, wie angenehm. Der Gang raus aus La Rochelle ist wenig erfreulich, im Gegenteil, im Zickzack geht es durch Industriegebiet. Ich habe schon zehn Kilometer in den Beinen, als ich noch immer in La Rochelle bin und an der drei Kilometer langen Brücke zur Île de Ré stehe. Ein Ausflug auf die Insel bleibt aus, ich bin nicht gut drauf, will einfach nur vorankommen. Außerdem müsste ich den gleichen Weg wieder zurück, was ich ja beim Tode nicht ausstehen kann. Die Fähre zurück zum Festland – was eine schöne Abkürzung wäre – kann ich mir nicht leisten. Statt der Abkürzung muss ich um die Bucht l'Aguillon laufen, eine frustrierende Angelegenheit, denn die Bucht führt gerade kein Wasser, es ist warm und das Laufen auf dem Fahrradweg eine monotone Angelegenheit. Auch die Aussichtspunkte über das Naturreservat bringen keine Freude, lediglich kurze Verschnaufpausen. Ich schalte Musik ein, versuche mich abzulenken – wie so oft folgt einem glücklichen Tag ein Tag düsterer Melancholie. Ein paar Radler sind unterwegs, die meisten sind augenscheinlich Urlauber, so weiß wie sie sind. Um über den Fluss Sèvre Niortaise zu kommen, geht es einige Kilometer landeinwärts, der zweite Umweg heute. Nach der Mündung des Sèvre Niortaise macht das französische Festland einen großen Bogen zum Atlantik hin; woraus ein dritter Umweg resultiert, von zwei Tagesmärschen, im Vergleich zum direkten Weg nach Nantes. Aber weil ich am Meer bleiben möchte, nehme ich es in Kauf. In der Mitte der Brücke über den Sèvre Niortaise beginnt Département Nummer fünf meiner Frankreich-Wanderung: Vendée. Wie die anderen Départements zuvor noch nie gehört. In Vendée stehen 200 Kilometer Atlantikküste bevor, ansonsten scheint es hier nichts Besonderes zu geben, zumindest keine mir bekannten Städte. Ein Blick auf die Karte verrät auch nicht gerade viele Ortschaften in dieser Region. Einsame Tage stehen bevor, vorerst auch im Landesinneren, umgeben von Feldern und Kanälen, ohne Aussicht aufs Meer. Ich treffe auf ein älteres Pärchen, ausgerüstet mit Wanderstöcken, wir laufen ein paar Kilometer zusammen, sehr langsam. Sie verstehen kein Englisch, was die Unterhaltung recht lustig werden lässt, dank meines ungeheuren Talents, mich mit Mimik und Gestik zu verständigen. Bei einem Bauernhof verabschieden wir uns voneinander, sie geben mir noch Tipps zur Route und kehren um. Ich laufe gleich weiter. Der ohnehin schon frustrierende Tag bekommt seine Pointe, als ich feststellen darf, dass der Fahrradweg permanent im Zickzack verläuft, was locker das Doppelte an Strecke mit sich bringt und somit auch die Aussicht, am Abend zurück am Meer zu sein, aussichtslos werden lässt. An sich ist es gar nicht so übel zum Wandern, also die einsame Gegend, keine Straßen, der ausgeschilderte Radweg (gleichzeitig auch Fernwanderweg), Entfernungsangaben zum nächsten Ort, die vielen Vögel, aber irgendwie kann ich mich am ersten Tag noch nicht mit Vendée anfreunden. Ich werde nun einige Tage länger brauchen, um in Nantes die Loire zu erreichen. Hätte ich das Ziel nicht, spätestens bis Mitte November am Nordkap zu sein (sein zu müssen), wäre es nicht weiter beunruhigend, aber so … ich muss halt aufpassen, dass der Rückstand nie zu groß wird, ich darf nie in die Situation kommen, dass ich mein Ziel zu Fuß nicht mehr erreichen kann.

      Nach 52 Kilometern an diesem Tag – und somit Einstellung der bisherigen Bestmarke – erfülle ich mir einen Wunsch, nämlich einmal mitten in einem Getreidefeld zu pennen. Das erweist sich schnell als Fehler, denn ich werde mitten in einer Mückenoase nächtigen. Aber der Erfahrung wegen! Die Sonne geht halb zehn hinter einem anderen Feld unter, weit und breit kein Haus zu sehen, Abendröte. Es wäre so schön romantisch, wenn nicht diese Biester wären, dieses pausenlose tzzzzzzzzzzzz macht mich ganz kirre, passt aber auch irgendwie zum ganzen Tag. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren, das hilft. Meinen Körper mumifiziere ich mit meinem Schlafsack, das hilft auch. Da ich aber nichts mehr höre, befürchte ich am Morgen von einem Trecker überrascht zu werden, spätestens dann, wenn er über mich rollt.

      Ich schlafe jedoch gut, und mitten in der Nacht ist auch das tzzz verklungen, dafür schlägt nun die Nässe zu, ohne dass es regnet. Aber der Schlafsack hält und so war die Nacht doch viel besser, als zuerst befürchtet. Zum Sonnenaufgang packe ich meine Sachen, die Mücken schlafen noch, ein Trecker ist nicht zu sehen, und wenig später bin ich auch schon wieder auf dem Radweg unterwegs. Kurz darauf bin ich zurück am Meer, am Horizont macht sich die Île de Ré breit. In L'Aiguillon-sur-Mer habe ich Glück, finde einen Super U, wo ich meine leeren Nahrungsvorräte auffüllen kann. Nach dem Großeinkauf bleiben mir noch genau 18 Euro, davon kann man leben, zumindest in nächster Zeit. Im Zickzackkurs geht es weiter, Fahrradweg neben der Düne und im nächsten Moment wieder zwei Kilometer davon entfernt, bis ich genug davon habe und direkt am Ufer laufe, wo ich mich ohnehin am wohlsten fühle, trotz der zusätzlichen Anstrengung, die beim Laufen auf Sand vonnöten ist. Ich erreiche La Tranche-sur-Mer und ärgere mich, dass ich auch hier hätte einkaufen können, stattdessen so die letzten Kilometer mit unnötigem zusätzlichen Gewicht gelaufen bin, und dann noch bei dieser Hitze. Ich trinke fünf Liter an diesem Tag, der ereignisarm zu Ende geht. Drei Kilometer vor Saint-Vincent-sur-Jard lege ich mich am Waldrand hin, blicke aufs Meer und döse ein.

       Immer weiter am Strand, stehe ich schließlich vor einer Sandwüste, durch die sich mäanderförmig ein Fluss schlängelt. Auf meiner Touristen-Karte ist davon nichts zu sehen, auch nicht zuvor auf den regionalen Karten am Wegesrand. Ich ziehe meine Schuhe aus, ziehe alles aus, bis auf die Boxershorts, laufe langsam, Fuß vor Fuß durch das Wasser, habe zwölf der siebzehn Meter geschafft und auf einmal fällt die Flussrinne ins Bodenlose. Wie zum blanken Hohn steht auf der anderen Uferseite ein Angler, stoisch, bemerkt mich vielleicht nicht einmal, reicht mir auch nicht die Leine, an der ich mich durch die Strömung ziehen könnte. Während ich so verloren im Wasser stehe, kommt auf einmal völlig überraschend ein Schauer runter … das muss ein Bild für die Götter sein: ein Bild eines Idioten, der durch den Fluss waten möchte, wo jeder andere sofort gesehen hätte, dass es ein unmögliches Unterfangen ist. Ich gehe zurück, genauso langsam wie zuvor, stehe wieder auf der Sandbank, der Regen hört schlagartig auf. Ich fühle mich veräppelt. Aber ans Aufgeben denke ich nicht. Laufe einige Meter flussaufwärts, suche eine andere Gelegenheit, versuche es ein zweites Mal und muss wieder kurz nach der Flussmitte mein Vorhaben abbrechen. Ich fühle mich schließlich dann doch beobachtet, zumal auf der anderen Uferseite eine Familie picknickt. Ich laufe auf Sand noch weiter am Flussufer lang und nach all den Biegungen weiß ich irgendwann gar nicht mehr wo ich bin. Die Sandbank

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