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er hinter einem grauen Vorhang im Hinter­grund des Ladens. Tim hörte das Geräusch von auf- und zugeschobenen Schubladen. Der Juwelier brummte etwas vor sich hin. Dann kehrte er stolz mit einem glänzenden Stück Schmuck wieder, das Tims Fund so täuschend ähnlich war, dass er sich mit einem raschen Blick auf die Theke vergewisserte, ob es sich nicht um dasselbe handelte, nur perfekt aufpoliert. Doch »sein« Anhänger lag unberührt da, wo ihn der Juwelier wenige Minuten zuvor abgelegt hatte. »Wie ein Ei dem andern, nicht wahr?«, freute sich der Juwelier, als er sein Schmuckstück neben das von Tim gelegt hatte. Dozierend fuhr er fort: »Nur die Gravur fehlt, die wird ja individuell angefertigt. Aber genau die hat mich auf die Spur gebracht. Sehen Sie diesen Schnörkel am R? Es sieht fast aus wie ein B, nicht wahr?«

      »Ja?«

      »Diese Spirale am Anfang ist nicht gewöhnlich. Sehen Sie, die macht fast zwei Um­drehungen, völlig unüblich. Das ist die Handschrift von Eisenkrug.«

      »Ist es möglich, sich zu erinnern, wann diese Gravur hier angefertigt wurde?«

      Der Mann zuckte mit den Achseln. »Ich führe das Geschäft hier erst drei Jahre«, er­widerte er.

      »Sagen Sie nicht, Ihr Vorgänger ist tot!«, rief Tim in einem Anflug von Panik.

      »Keine Bange. Der alte Eisenkrug ist viel zu reich, um schon totzubleiben. Er hat sich irgendwo zwischen hier und Eckernförde in einer stattlichen Villa zur Ruhe gesetzt, um gemeinsam mit seiner Frau das Rentnerdasein zu genießen – wohlverdient nach einem langen, arbeitsreichen Ge­schäftsleben wie dem seinen. Aber wie das Leben so spielt: Alles war wunderbar hergerichtet oder hingerichtet – wie sagt man? – na, je­denfalls renoviert. Eine wahre Idylle, in der es richtig Spaß bringen musste, alt zu werden. Und dann, vier Monate nach dem Einzug, stirbt ihm die Frau weg – Krebs! –, und die Lebensfreude ist dahin. Da fragt man sich doch: Wozu das alles? Wofür müht man sich nun sein ganzes Leben mit Geldverdienen ab, wenn man's nach­her nicht mal anständig genießen kann?«

      »Es gibt eine Menge Misstöne auf der Klaviatur des Le­bens«, sagte Tim leise. »Kön­nen Sie mir nicht seinen Na­men und vielleicht seine Anschrift sagen?«

      »Du meine Güte, wozu ist denn das bloß so wichtig? Nach all den Jahren kann man doch an dem Teil nichts mehr re­klamieren.«

      »Es handelt sich um eine wichtige, persönliche Angelegen­heit«, erklärte Tim.

      »So, so, ein wichtige, persönliche Angelegenheit. Na, von mir aus. Wissen Sie, der alte Eisenkrug ist nicht etwa mit mir verwandt. Ich hab' eigentlich gar nichts mit ihm zu tun. Ich hab' lediglich sein Geschäft gekauft ... und den Namen beibehalten. We­gen der Ironie. Sie verstehen: Juwelier – Ei­senkrug. Lustig, oder?« Der Juwelier lä­chelte Tim an. Doch dem war nicht zum Lachen zumute. »Außerdem darf man seine Kunden nicht überfordern. Es gibt nichts Konser­vativeres als Kunden, vor allem hier oben. Wenn Sie Ihr Kind halb tot prügeln, dann stört das keinen, aber ändern Sie nie was, was schon immer so war! Wenn Sie aus einem altmodischen, provinziellen Läd­chen ein neues, profes­sionell geführtes Geschäft machen wollen, dann geben Sie den Laden lieber gleich auf und bringen Ihr Guthaben auf die Bank, solange Sie noch welches haben. Hier gleich um die Ecke gab's früher mal die Drogerie Lindemann, geführt seit Ende des Krieges von einem alten Herrn gleichen Namens. Vernünftige Arzneien gab's da nicht, aber dafür Dauerlutscher, kleine, bunte, steinharte Zucker­kügelchen für einen Pfennig das Stück, bei uns als Kindern der Renner. Weit und breit war sonst für einen Pfennig nämlich nirgendwo was zu kriegen. Der alte Herr starb, und mit ihm erlosch die Drogerie Lindemann. Sie wurde von Edwin Pingel aufge­kauft, dem Inhaber eines gut gehenden Lebensmittel­geschäfts in diesem Stadt­teil, jemand mit Expansions­absichten. Pingel steckte jede Menge Geld in den Laden und renovierte wie der Teufel: alter Fußboden raus, neuer Parkettboden rein, alte Re­gale raus, neue rein und so weiter. Am Ende strahlte der Laden wie aus dem Ei ge­pellt und war nicht wiederzu­erkennen. Natürlich hieß er auch nicht mehr Linde­mann, sondern Pingel, Drogerie Pingel. Der Warenbestand war erheblich aufgestockt worden. Was es allerdings nicht mehr gab, waren Opa Lindemanns Dauerlutscher für einen Pfennig, wie einem alle Kinder enttäuscht mitteilten. Ich weiß nicht, viel­leicht hatte der alte Lindemann die selber hergestellt, was Edwin Pingel natürlich nicht konnte. Er war ja kein richtiger Drogist, nur ein Kaufmann. Vielleicht war das sein Problem. Jedenfalls, ohne Dauerlutscher schien der Laden nicht mehr zu laufen. Und ein Jahr später konnte Pingel seine Drogerie dicht­machen. Sie hätten fragen können, wen sie wollten: Jedem im Viertel tat es leid, dass es nun keine Drogerie mehr hier gab. Aber dort eingekauft hatte keiner. Sie können ja gleich mal daran vor­beigehen. Heute befindet sich ein gut gehendes Blumen­geschäft darin, immer noch auf Edwin Pingels schickem, neuem Parkettboden. Jetzt wissen Sie, warum ich Stücke im Sortiment habe, die ich eigentlich unmöglich finde, und warum ich dem alten Eisenkrug dankbar dafür sein muss, dass ich das Geschäft unter seinem Namen weiterführen durfte. Eisenkrug – was für ein Name für ein Juwelier­geschäft! Das klingt nach billigem Ramsch, den keiner braucht. Mein Name ist Oldmann. Passt der nicht viel besser zu kostbaren Juwelen? Aber der Kunde ist König. Und er liebt es so. – Wie waren wir darauf gekommen?«

      »Ihr Vorgänger, wo –?«

      »Ach so, ja. Alfred Eisenkrug. Der Ort, wo er seine Villa stehen hat, warten Sie mal, das war ... in ... in Gettorf, glaube ich. Aber fragen Sie mich bloß nicht nach der Straße!«

       ◊

      An einem Sonntagnachmittag stand Tim bei sonnigem Spätherbst­wetter zum zwei­ten Mal vor dem Haus der Wil­helmsens. Er bog andächtig in die Zufahrt zum wei­ßen Haus ein und lenkte seinen alten Ford geradewegs auf den Mittelpunkt des An­wesens zu, die Haustür, die sich schon aus der Ferne groß und dunkelbraun von dem weißen Putz abhob. Der Vorhof des Hauses war kreisförmig mit Kiesel­steinen ausgelegt, auf denen Tim, während sie unter ihm knirschten, dahergerollt und schließlich zum Stillstand kam. Er parkte direkt vor ein paar kahlen Rosensträuchern an der trüben Hausfassade, wo gleich neben ihm schon ein roter Golf stand, zweite Generation. Dann stieg er drei überaus breite Stufen empor, las neugierig das Na­mensschild auf dem Briefkasten und erlebte eine böse Überraschung. Der Name lau­tete nicht Wilhelmsen, sondern Manstein. Umgezogen, geisterte es durch seinen Kopf. Er zögerte und entschloss sich dann, trotzdem zu klingeln. Es öffnete ihm eine junge, schwarzhaarige Frau in Jeans und Pullover, eine form­vollendete Schönheit, deren große, weit auseinander liegende und etwas traurige Augen ihn neugierig und skeptisch anblickten und deren silberne Ohrringe eine leichte Erschütterung erken­nen ließen. Tim musste unwillkürlich an die Schauspielerin Svenja Pages denken, die er mehrfach in Derrick gesehen hatte und eine Zeit lang für die zweitschönste Frau der Welt gehalten hatte, übertroffen nur noch von Winona Ryder.

      »Guten Tag, äh«, brachte er unsicher und ohne jegliche An­stalten näherzutreten her­vor, »mein Name ist Tim Schlüter. Sie kennen mich nicht, aber –« Er bemerkte, dass sie befremdet ihre feinen, schwarzen Augenbrauen senkte, was ihren Blick noch skeptischer und Tim noch unsicherer machte. Hinzu kam eine gehörige Portion die­ser eigenarti­gen Fahrigkeit und Nervosität, mit der wohl jeder Erwach­sene bei der ersten Begegnung mit einem Menschen des an­deren Geschlechts von äußerst anzie­hendem Äußeren schon Bekanntschaft gemacht hat, eine nur bedingt angenehme Be­kanntschaft. Sie hatte definitiv Ähnlichkeit mit Svenja Pages, vor allem im Profil. Vielleicht war Svenja Pages nur ein Künstler­name und die Schauspielerin lebte unter ihrem echten Namen zurück­gezogen in einem einsamen Landhaus in Schleswig-Hol­stein. »Sind Sie Frau Pa...nstein, Frau Manstein? Oder Fräulein ...? Ich bin näm­lich auf der Suche nach einer gewissen –«

      »Wilhelmsen«, fiel sie ihm ins Wort.

      »Äh, ja, genau. Wie –?«

      »Ich bin Charlotte Wilhelmsen. Manstein ist der Mädchen­name meiner Mutter. Sie hat ihn wieder angenommen aus Gründen, die für Sie wohl kaum von Belang sind.«

      »Vielleicht doch. Ich bin hier, weil ich möglicher­weise et­was weiß über Regina Wil­helmsen, Ihre Schwester, wie ich annehme?«, stieß er nun rasch hervor, womit die Rollen vertauscht waren. Jetzt war er der Wissende und sie die Ver­unsicherte. Bei seinen letzten Worten war sie merklich zu­sammengezuckt. Sie kniff nachdenklich ihre blass roten Lippen

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