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PUZZLE - Mord am Kanal. Martin Berthold Heinrich Diebma
Читать онлайн.Название PUZZLE - Mord am Kanal
Год выпуска 0
isbn 9783742755919
Автор произведения Martin Berthold Heinrich Diebma
Жанр Языкознание
Серия Tim Schlüter ermittelt
Издательство Bookwire
In eben dieser Laune betrat Tim schließlich durch die Haustür an der Frontseite seines Anwesens, die in ihrer ganzen Breite zur Straße hin zeigte, sein Heim. Von der Straße aus betrachtet, wirkte das Haus jünger, als es der Wahrheit entsprach – war der Wohntrakt des Hofes doch vor fünf Jahren komplett erneuert worden. Die Fassade sah aus wie die eines zu lang geratenen Einfamilienhauses mit den für diese Gegend Deutschlands so typischen dunkelroten Backsteinen. Die Haustür war aus massiver Eiche; gleichmäßig traten große Quadrate ein paar Zentimeter aus ihr hervor, an den Rändern leicht verziert; vor ihr ein einfacher Tritt aus Beton und Fliesen und ein etwa zehn Meter langer Gehweg, der zur Pforte im eisernen Gartenzaun führte, der das Grundstück von der Straße abschloss. Dieser Gehweg aus demselben alten Kopfsteinpflaster wie der Hof durchschnitt eine große, grüne Fläche Wildwuchs: Tims Garten. Er mähte den Rasen nur zwei bis drei Mal im Jahr mit einer Sense. Und so glich er mehr einer Wiese als dem, was man gemeinhin unter einem Rasen versteht. Aber Cano liebte ihn so. Und wen sonst ging der Rasen etwas an? An allen Rändern des Gartens und des Hofes wuchsen außerdem noch jede Menge wilder Sträucher. Mächtige Nadelbäume sowie ein paar Obstbäume umrahmten das ganze Grundstück. Zum Glück ließen die hohen Lärchen hinter dem Haus genügend Lücken, um den Blick auf die hinter ihnen liegenden endlosen Äcker zu erlauben, auf das leicht gewellte weite Land, das zwar zum Teil auch noch zu Tims Erbschaft gehörte, aber sinnvollerweise an Landwirte aus der Nachbarschaft verpachtet war und erst bei dem Fichtengehölz am Horizont endete. Aus Tims Schlafzimmerfenster im Obergeschoss hatte man einen fabelhaften Ausblick auf dieses Land, das vor allem im Morgengrauen wunderschön anzuschauen war, wenn wie jetzt im Oktober über die riesigen, halbtransparenten, über die Felder gespannten Laken von herbstlichen Dunstschwaden langsam die Sonne ihr strahlendes Angesicht erhob und alles in ein gleißendes Orangerot tauchte. Dann hielt es Tim auch an freien Tagen manchmal nicht länger im Bett, von Cano ganz zu schweigen, und gemeinsam stürzten sie aus dem Haus, über den Hof, unter Fichten- oder Lärchenzweigen hindurch auf die feuchten Wiesen oder tiefschwarzen, vom Pflug aufgerissenen Äcker, in deren aufgeweichtem Boden sie tiefe Spuren hinterließen, dem Sonnenlicht im Osten entgegen. Wie konnte man in einem solchen Augenblick nicht glücklich sein?
Doch andere, finsterere und weniger heitere Gedanken beschäftigten Tim, der mit Cano in seinem großen Wohnzimmer Platz genommen hatte, dessen einziger nennenswerter Reichtum eine schier unermessliche Anzahl von Büchern in endlosen Regalen war. Wenn Freyas Hypothese, die ja im Prinzip auch die seine war, stimmte, dann ging es um einen brutalen, mit unerbittlicher Konsequenz und menschenverachtender Grausamkeit erfolgreich vertuschten Mord. Bei diesem Gedanken musste Tim in seinem tiefen Ledersessel erst mal tief durchatmen. Nach einer Weile stand er auf, um den goldenen Anhänger noch einmal genau zu betrachten, den er auf seinem Schreibtisch verwahrte. Damit musste doch was anzufangen sein. Irgendjemand musste dieses Ding kennen. Was bedeutete »Regina«? War es einfach nur »Königin« auf Lateinisch? Vielleicht nur ein Firmenname? Oder war Regina die Leiche? Oder lebte Regina noch und konnte einen Hinweis auf den Toten oder den Täter oder beides geben? Auf jeden Fall war dieses goldene Schmuckstück eine wertvolle Spur, vielleicht die wichtigste in diesem Fall. Tim war entschlossen, sie mit äußerster Verbissenheit zu verfolgen.
Gegen acht Uhr abends öffnete Tim eine Dose Ravioli und gab Cano knapp die Hälfte davon ab. Er entspannte sich ein paar Stunden vorm Fernseher und ging schließlich, mit Cano im Gefolge, zu Bett. Nachts träumte er von Freya, die, natürlich ganz in Weiß, mit einem Totenschädel Fußball spielte und einen Treffer nach dem anderen erzielte. Im Tor stand nämlich er, Tim, und sie rügte ihn mit ironisch erhobenem Zeigefinger: »Timmi, Timmi, Timmi! Was machst du bloß für Sachen? Du musst aufpassen. Du musst besser auf den Ball aufpassen!«, während der einzige Zuschauer, Cano, nicht aufhörte zu bellen. Solche Dinge passieren, wenn man tagsüber mit einem Beutel Menschenknochen ins Krankenhaus fährt und abends Das aktuelle Sportstudio guckt.
◊
In ungeduldiger Erwartung verbrachte Tim die nächsten Tage. Abgelenkt ging er seiner Arbeit nach. Am Montag und Donnerstag fuhr er in den Verlag und hinterließ dort bei den Kollegen einen noch verschlosseneren Eindruck als ohnedies schon. Sie kannten und schätzten ihn als zügigen, zuverlässigen Arbeiter mit einer angemessenen Portion trockenen Humors. Ansonsten gab er sich ihnen gegenüber norddeutsch kühl und reserviert, mitunter geradezu unnahbar. Außerberuflichen Aktivitäten, geselligen Abenden oder der alljährlichen Weihnachtsfeier, blieb er konsequent fern. Er sagte dann für gewöhnlich, er wohne zu weit weg und wolle seinen Hund nicht so lange allein lassen. Und das stimmte ja auch.
An diesem Donnerstag verblüffte er ein paar von ihnen allerdings mit der Frage, auf wie alt sie einen Kochen schätzen würden, den sein Hund im Wald aufgestöbert habe. Dabei hielt er ihnen einen kleinen Fingerknochen aus seinem Fund unter die Nase, den er in seiner Hosentasche stecken hatte. »Keine Ahnung«, war der Tenor, »wozu willst 'n das wissen?« »Das hängt davon ab, wo er die ganze Zeit gelegen hat.« »Und davon, wie viele Hunde ihn vorher im Maul hatten.« Einer meinte: »Sieht aus wie von einem menschlichen Finger. Du solltest das mal von einem Experten begutachten lassen.«
»Quatsch!«, sagte Tim. Nicht von einem Experten, sondern von einer Expertin. Das sagte Tim nicht.
Die Expertin rief endlich am Freitag an. »Timmi?«, begann sie. »Aller Wahrscheinlichkeit nach stammt der Arm von einer jungen Frau, vielleicht zwanzig, vielleicht jünger, kaum älter. Etliche Jahre vor ihrem Tod hat sie sich, wie ich schon sagte, einen Bruch zugezogen, der Mittelhandknochen des Mittelfingers muss dabei ziemlich heftig zersplittert sein, und sie hat mindestens einen Monat lang einen Gipsverband tragen müssen. Daran wird sich ja vielleicht noch jemand erinnern. Wie stehen denn die Ermittlungen?«
»Hm«, antwortete Tim. »Und wie lange hat der Arm da gelegen? Lässt sich dazu nichts sagen?«
»Also, da kann man vorläufig nur schätzen. Wenn man davon ausgeht, dass der Arm die ganze Zeit unter der Erde gelegen hat –«
»Geh mal davon aus.«
»O.k., dann höchstens fünfzehn, mindestens zehn Jahre, würde ich sagen.«
»Sehr vage«, murmelte Tim in den Hörer.
»Tut mir furchtbar leid, dir nicht besser zu Diensten sein zu können«, empörte sich Freya. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie einige Leute mich hier angeguckt haben, als ich mit deinen komischen Knochen ankam? Glaubst du vielleicht, man kann hier mal schnell einen Radio-Karbontest durchführen und keiner runzelt die Stirn?«
»Naja, ich dachte, an einer Uni-Klinik« – Tim sprach das Wort Uni aus, als wäre es ein Nobelpreisträger – »wird doch sowieso ständig gelehrt und geforscht. Und Studenten müssen Tests –«
»Ich hab' irgendwelche Krimi-Märchen erfunden«, unterbrach Freya ihn, »über einen mit besonderen Befugnissen ausgestatteten Zivilermittler. Ich musste für dich lügen!«
»Wieso? Das stimmt doch. Ich ermittle und benehm' mich stets zivilisiert.«
»Sehr lustig. Hast du wenigstens schon die Polizei informiert?«
»Was denn, sind die noch nicht bei dir gewesen? Da sieht man mal, wie die arbeiten. Also, ich bin dir was schuldig.«
»Was denn?«
»Na, Dank, 'ne Menge Dank. Ich komme irgendwann