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keinen, der – sagen wir mal – etwas aus dem Rah­men fiel, dessen Gefühle et­was zu sehr, wie du es nennst, in Aufruhr gerieten?«

      Sie dachte nach. »Doch, aus dem Rahmen fiel schon einer. Es war nämlich ein richtig süßer dabei, ein hübscher Ben­gel. Benjamin hieß er, glaub' ich, ja, und Benni wurde er genannt.«

      »Und weiter?«

      »Peemöller, Benjamin Peemöller«, kam die Antwort über­raschend schnell. »Konnte aus dem Nichts die herbsten Sprüche klopfen. Der erste von ihren Freunden, den so­gar ich mochte. Aber Regina hatte auf diesem Gebiet einfach kein Glück. Ihr war so viel in die Wiege gelegt: ihr Ausse­hen, ihr wacher Geist, ihre Aufge­schlossen­heit, ihr heiter-über­schwäng­liches Wesen, ihre Empfind­samkeit ... Aber mit dem Glück ist das so eine Sache, wie gesagt, es ist eine lau­nische Diva. Jedenfalls passten die beiden so gut zusammen wie 'n Elch und 'ne Wüsten­springmaus. Sie verband nichts. Sie war rasch im Rausch der Gefühle, er spröde und vor­sichtig. Sie war warmherzig, er kühl. Sie war impulsiv, er überlegt. Sie plauderte endlos, er warf in den Sprech­pausen einen geistreichen Satz ein. Glaubst du daran, dass Gegen­sätze sich anziehen, Tim?«

      »Bei Magneten schon.«

      »Bei Menschen.«

      »Menschen zieht alles an, wenn nur ihre Einbildung groß genug ist.«

      »Mit andern Worten, du hältst das für ausgemachten Blöd­sinn, und vermutlich hast du recht damit. Als Benni irgend­wann nicht mehr kam und von ihm auch nicht mehr die Rede war, wollte ich von ihr wissen, wieso. ›Der war doch so nett‹, sagte ich. ›Ach, das verstehst du nicht‹, meinte sie nur geknickt. ›Wir hatten einfach nicht die­selben Träume!‹«

      »Würdest du sagen, sie hat den Tod deines Vaters besser verkraftet als du?«

      »Auf jeden Fall. Du musst wissen, Emotionen waren bei Regina wie Vulkanausbrüc­he. Von extremer Heftig­keit war folglich auch ihre Trauer über Papas Tod.« Es rührte Tim und bereitete ihm eine kleine Freude, dass sie in seiner Ge­genwart von Mama und Papa sprach, als wären es auch für ihn enge Verwandte. »Sie wurde von Wein­krämpfen nur so geschüttelt, drei Wochen lang. Und als Mama am Grab vor Schmerz zusammen­brach, fehlte nicht viel und sie wäre ebenfalls unter Tränen in die Knie ge­gangen. Geheult haben wir ja alle wie die Schlosshunde, aber bei ihr ging es dann irgendwann wieder. Siehst du, ein Vulkan­ausbruch ist kurz und heftig, und wenn er vorbei ist, dann ist erst mal Ruhe. Dann kann Schritt für Schritt wieder zur Tagesordn­ung übergegangen werden. So war es bei meiner Schwester. Bei mir war der Schmerz eher wie eine schleichende Vergiftung, die noch Generationen später erbliche Schäden verursacht. Selbst als ich dir von Papas Unfall erzählte, kamen mir ja noch die Tränen. Naja, und Mama –«

      »Dann bist du also der ruhigere Typ von euch beiden.«

      »Ja, ich galt immer als still und aufmerksam, aufmerksam im Sinne von freundlich«, erläuterte sie mit dem Anflug ei­nes Lächelns, der perfekten Veranschau­lichung ihrer Worte.

      »Nie neidisch auf sie gewesen?«, fragte er ein wenig provo­zierend, aber ohne eine Spur von Argwohn ahnen zu lassen. Trotzdem nahm Charlotte die Bemerkung per­sönlich. Ihr Lächeln erstarb förmlich auf ihren Lippen, und ihre Ant­wort zischte durch die Luft wie ein Arm­brustpfeil: »Auf Regina? Wir verstanden uns gut. Sagte ich das nicht?«

      »Man kann ja trotzdem mal ein bisschen neidisch sein«, hakte Tim nach und setzte seine Sonntagsnachmittagsunschulds­miene auf, um allen Wind wieder aus den Se­geln zu nehmen, den er unbeab­sichtigt entfacht hatte.

      »Vielleicht«, sagte sie kurz angebunden.

      »Was hast du eigentlich nach dem Abitur gemacht?«, wech­selte Tim das Thema. Er suchte nach einem Weg, ihr zu si­gnalisieren, dass er keine bösartigen Absichten heg­te.

      »Woher willst du wissen, dass ich Abitur habe?«

      »Hab' ich mir so gedacht.«

      »Dann kannst du dir den Rest bestimmt auch denken.«

      »Denken und hellsehen sind bekanntlich zwei verschiedene Dinge.«

      »Ich bin Juristin.«

      »Na, wer hätte das gedacht!«, staunte Tim.

      »Ich arbeite für eine Versicherung. Aber nur halbtags. We­gen Mama. Genau genom­men lebe ich gleich doppelt von Versicherungen.«

      »Wieso?«

      »Weil eine andere Versicherung damals bei Papas Tod ganz schön blechen musste. Lebens­versicherung, Schmerzensg­eld, da ist ganz schön was zusammen­gekommen. Papas Le­bensversicherung muss uns so lange eine Rente zahlen, bis die ganze Fami­lie ausgerottet ist. Aber wenn das Glück uns weiter so lacht wie bisher, kann das ja nicht mehr ewig dau­ern.« Wieder dieser bittere Sarkasmus, der einem die Kehle zu­schnüren konnte. »Ich hab' mal 'ne Sendung im Fernse­hen gesehen«, fuhr Charlotte fort, »zum Thema Pechfors­chung. Ehrlich, in England gibt es so genannte Pechfor­scher. Irgend so'n verrückter Wissen­schaftler hat die These aufgestellt, Pech sei keine Frage von Zufall, sondern von Geburt oder nenn' es meinetwegen Karma. Jedenfalls soll es bestimmte Personen geben, denen das Pech buchstäblich an den Fersen klebt. Zum Beweis hat man das Leben einer Frau untersucht, deren Familie innerhalb von ein oder zwei Jahren komplett ausgelöscht wurde, der schon zwei Häuser abge­brannt sind und bei der kein Mensch im Auto mitfah­ren möchte wegen der vielen Unfälle, deren Opfer sie ohne jede Mitschuld immer wieder wird. Ich finde das plau­sibel. Ich glaube daran, dass das Leben ungerecht ist. Und ich glaube definitiv nicht an die so genannte ausgleichende Ge­rechtigkeit.«

      »Doch, die gibt es. Einmal wurde Bayern München am letzten Spieltag deutscher Meister, nachdem Werder Bre­men die ganze Saison über Tabellen­führer gewesen war. Die ganze Stadt blies Trübsal. Man hatte für den letzten Spieltag sogar schon Wimpel, Trikots und Schals herstellen lassen, auf die der Meistertitel gedruckt war – alles für die Katz'. Aber ein paar Jahre später war es genau umgekehrt. Da wurde Bayern nach souveräner Führung ebenfalls kurz vor Saisonende noch abgefangen und Bremen –«

      »Fußball!«, beschwerte sich Charlotte spöttisch. »Männer!«

      Tim begrub das Thema Fußball und fuhr fort: »Vielleicht trifft es am ehesten deine Theorie von der launischen Diva. Jenseits von Eden gibt es eben keine Garantie auf Glück.«

      »Ja«, stimmte Charlotte zu, »das steht fest. Das Paradies ist hier nicht. Das ist weit, weit weg. Es krampft sich mir jedes Mal das Herz zusam­men, wenn ich Mama in diesem klapp­rigen, alten Schaukel­stuhl vorm Fenster sitzen und mit erlo­schenen Augen in die Ferne starren seh'. Manchmal sitzt sie stundenlang da, wippt hin und her und spricht kein einziges Wort.« Einen Moment lang schwiegen beide. Dann neigte sie sich zu ihm hinüber und bat mit einem gut gezielten Blick in seine Au­gen: »Darf ich die Stelle sehen, wo du sie gefunden hast, ich meine, ihren Arm?«

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