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bleiben konnten. »In der Mitte«, fügte sie erklärend hinzu, »hier.«

      »Ja, eine böse Geschichte«, sagte Tim, Lautstärke und Ton­fall von Charlotte imitie­rend, und musste dabei ein bisschen um die Kontrolle über seine Stimme ringen. Denn zum einen machte ihn Frau Wilhelmsen – bei diesem Namen wollte er der Ein­fachheit bleiben – mit ihren greisenhaften Zügen unsäglich betroffen, zum andern gellte in seinem In­nern ein Jubelschrei des Triumphs.

      »Mittelfingerhandknochen«, wiederholte die Alte mit wis­sendem Blick. Und wäh­rend Charlotte sie unter einem Vor­wand wieder aus dem Zimmer geleitete, brabbelte sie im­mer noch wie geistes­abwesend vor sich hin: »Und alles nur für einen einzigen Finger. Mittel­fingerhand­knochen. Sie schreibt ja so gerne. Andere Kinder in der Schule wären wohl froh ...«

      »Es bricht einem das Herz«, sagte Charlotte, als sie zurück war und wieder in ihrem Sessel Platz genommen hatte. Ihre Augen waren ein wenig feucht geworden und der traurige Ausdruck in ihnen kam jetzt so zur Geltung, als hätte je­mand durch das Aufziehen eines Theatervorhangs den Blick auf die Bühne freigegeben.

      »Ja, ein Trauerspiel«, sagte Tim. »Wo haben Sie sie hinge­bracht?«

      »Sie schält in der Küche Kartoffeln, das kann sie gut. Es beschäftigt sie und lenkt sie ein wenig ab. Sie kommt sich nützlich vor, auch wenn kein Mensch so einen Berg Kartof­feln essen kann. Sie schält nämlich immer für die ganze Fa­milie. Vielleicht soll­ten Sie mal zum Essen kommen.« Da lächelte sie wieder.

      Gute Idee, dachte Tim. »Wohnt sonst niemand hier?«, frag­te er.

      »Nein. – Hören Sie, Herr – Entschuldigung, ich habe Ihren Namen vergessen ...«

      »Tim«, sagte Tim.

      »Hören Sie, Tim ...« Sie hielt einen Moment inne, als sei ihr etwas Wichtiges eingefal­len. »Meinen Sie, wir könnten uns duzen?«

      »Ich denke schon, denke ich«, stammelte Tim, der solche Situationen wegen der ih­nen eigenen Peinlichkeit hasste. »Ich meine, mich stört's nicht, Sie, ich meine, dich ... hab' sowieso schon gedacht, dass das komisch ist –«

      »Komisch mich zu siezen?«, lachte sie. »Hoffentlich ver­kraftet mein Selbst­wertgefühl das.«

      Tim lächelte verlegen.

      »Willst du mir, wo das jetzt geklärt ist, nicht endlich sagen, was du weißt und warum du hergekommen bist? Dann er­zähle ich dir 'n bisschen was über meine Fa­milie, einver­standen?« Man musste diese Charlotte einfach mögen.

      Als Charlotte Tims Kriminalgeschichte in ihren wesentli­chen Zügen kannte, sagte sie mit traurig gesenktem Blick: »Ich wusste es ja, ich wusste es die ganze Zeit. Sie konn­te nicht mehr am Leben sein.« Tim verspürte ein Verlangen, sie tröstend in den Arm zu nehmen, aber das ging natürlich nicht. Das hier war kein Film. »Dieses Haus ist kein glückliches Haus«, fuhr Charlotte fort. »Du wirst es vielleicht nicht für möglich halten, aber meine Mutter ist erst 54, und es gab Zeiten, da schätzte man sie jünger, als sie war. Sie war das blühende Leben, ein Mensch voller Schwung, voller Witz und Energie, Lebensfreude pur. Sie war glücklich verheiratet, hatte zwei halbwegs wohl geratene Töchter auf dem Weg zum Abi und wirkte wie eine Studentin im ersten Semester. Na gut, sie fing nachher langsam an zu ergrauen, aber nur sehr langsam. Du wirst es nicht glauben, aber auf dem Foto hier ist sie 37.« Sie holte das Familienfoto vom Kaminsims und zeigte es Tim. Er erkannte Charlotte im Backfischalter, mit forschem Blick und glänzendem Haar. Aber sein eigentliches Interesse galt dem Mädchen neben ihr, das ihn sofort unnatürlich anzog. Ja, das musste Regina sein. Sie war blond, etwas größer und reifer als Charlotte und auf diesem Bild auch hübscher, eine bereits voll entwickelte Schönheit, ein attraktiver Teenager, dem man trotz oder auch wegen seiner Uner­fahrenheit Lust auf jede Menge Abenteuer zutraute und dem man eine noch größere Menge schnippischer Antworten auf Vorhaltungen der Eltern förmlich von den Augen ablesen konnte. Neugierig, erwartungsfroh, ein wenig frech auch und herausfordernd blickte sie in die Kamera, vielleicht hatte sie so auch in die Welt hinausgeblickt, die eigentlich noch vor ihr lag, als sie sie plötzlich und unerwartet verlassen musste. Und wieder hatte Tim, wie zuvor im Zeitungs­archiv, das Gefühl, irgendwo in den Untiefen seines Gedächtnisses ließe sich vielleicht eine Spur von Erinnerung ausmachen, wenn er sich genug anstrengte. Nur – nicht jetzt.

      Hinter den vor ihnen knienden Töchtern standen deren El­tern, ein seriös wirkender, ansehnlicher Mann in den besten Jahren mit schwarzem Vollbart und Charlottes kastanienb­raunen Augen, und die Mutter, blond, jugendlich, strahlend im blumig-bun­ten Sommerkleid, ganz so, wie Charlotte sie beschrieben hatte.

      »Kaum wiederzuerkennen, nicht?«

      »Nein«, pflichtete Tim gedankenverloren bei, »kaum wie­derzuerkennen. – Dein Va­ter?«

      »Ja, das ist mein Vater. Als er starb, brach unsere Welt zum ersten Mal zusammen. Es war sozusagen der tragische Wendepunkt. Von da an ging es nur noch bergab. Ein Un­glück kommt selten allein. Weißt du, das Glück ist eine lau­nische Diva. Sie kommt und man heißt sie willkommen, ohne so recht zu wissen, womit man eine solche Ehre ver­dient hat, und man weiß auch nicht, wie man sich richtig verhält, damit sie bleibt, aber man gewöhnt sich schnell an ihre Gegenwart, viel zu schnell. Und plötz­lich geht sie wie ein ungebetener Gast. Hat man sie vielleicht beleidigt, ohne es zu ahnen, fragt man sich ratlos. Aber nein, sie hat eben nur ihre Launen. Und als sie gegangen war, blieben nur Trümmer übrig, die Trümmer unserer heilen Familienwelt, zerbrochen in tausend wertlose Scherben.«

      Tim seufzte betroffen.

      »Dass ein Mann mit vierzig plötzlich stirbt, hängt in den meisten Fällen mit Krebs, Herzinfarkt oder einem Autoun­fall zusammen. Nicht so bei meinem Vater. Für ihn gab das Schicksal eine extravagante Sondervorstellung. Eigentlich ist die Geschichte, wie er ums Leben gekommen ist, zu blöd, um wahr zu sein, und wenn sie nicht so traurig wäre, müsste man wahrscheinlich lauthals darüber lachen, so ab­surd und lä­cherlich ist sie.« Aber Charlotte lachte nicht, sie wurde nur viel trauriger, und hin und wieder musste sie ab­brechen, um ihre versagende Stimme durch einen Schluck kalten Tee zu stärken, während sie erzählte: »Mein Vater war ganz in Ordnung. Er hatte nur, wie alle Männer, einen Tick, der ihn manchmal für die Normalen, das heißt diejenigen, die diesen Tick nicht haben, schwer erträglich machte. Wenn du dich hier umsiehst, errätst du schon, worum es sich handelt.«

      »Er war vermutlich ein leidenschaftlicher Jäger.«

      »Ja, an der Leidenschaft hat es nicht gefehlt, aber ein guter Jäger wäre aus meinem armen Daddy in tausend Jahren nicht geworden. Die ganzen Trophäen hier an den Wänden – lass dich ja nicht täuschen. Alles gekauft. Er hatte eben diesen Tick. Den ganzen Herbst und Winter rannte er mit so einer albernen Pelzmütze in der Walachei rum, so 'ner Trap­permütze mit einem schicken Schweif aus Wolfs- oder Fuchsfell, was weiß ich. Ich glaub', wir haben ihm das Ding mit ins Grab gelegt.«

      »Aber er war kein Jäger?«

      »Das war sein persönliches Drama: Er hat den Jagdschein abgeben müssen, den er in jungen Jahren gemacht hatte. Er war ein Jäger ohne Knarre, ein Treiber. Jedes Jahr im Herbst finden hier in dieser Gegend Treibjagden statt, um den Wildbestand zu regu­lieren. Dabei postieren sich die Jä­ger an der Flanke eines Feldes. Das Gelände vor diesem Feld gehört den Treibern, die wie eine Kette – man nennt das eine Treiberket­te – mit lautem Gegröle und Getöse über das Land oder durch den Wald ziehen, um das Wild aufzu­scheuchen. Auf freiem Feld lauert der Tod. An der Seite ste­hen näm­lich, quer zur Marschrichtung der Treiber, die gan­zen Jäger mit ihren Gewehren. Das aufgescheuchte Wild hat kaum eine Chance. Es läuft in die Falle und wird abge­ballert. Manchmal, wenn der Wind günstig steht, laufen die Tiere sogar direkt auf die geladenen Schrotflinten zu, leich­te Beute. Aber manchmal erwischt es auch Men­schen. Solche Idioten wie meinen Vater, der natürlich keine Treib­jagd ausgelas­sen hat. Weiß der Geier, was ihm eingefallen ist, den Jägern vor die Flinte zu laufen. Irgendwie muss er in einem Waldstück den Anschluss an die anderen Treiber verlo­ren haben – und dann die Orientierung. Vielleicht musste er pinkeln und sein Reiß­verschluss klemmte, was weiß ich , irgendso'ne saublöde Geschichte. Als er hinter ei­nem

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