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hatte. Zu allem Über­fluss ergriff auch noch Charlotte Partei gegen ihn, was ihn furchtbar kränkte. »Ich werde sie suchen gehen!«, versuch­te Tim sie schließlich zu beschwichtigen, aber dazu kam es nicht mehr, weil Tim bei diesen Worten erwachte. Wo war nur sein sonniges Gemüt ge­blieben?

      Am Montagabend nach der Arbeit zog Tim eine Zwischen­bilanz: Die Leichenteile waren so gut wie einwandfrei iden­tifiziert, Regina so gut wie sicher tot, und er hatte so gut wie keine Spur. Der einzige brauchbare Hinweis, über den er noch verfügte, war der Anhänger. Der Anhänger! Den hatte er ja ganz vergessen Charlotte zu zei­gen. Dabei hatte er ihn doch in seiner Hosentasche dabeigehabt. Tim konnte das Ver­sehen gut verschmerzen, hatte er doch nun einen unverfänglichen Grund, um Char­lotte binnen kurzem einen erneuten Besuch abzustatten, was ihm, um es vorsichtig zu formulieren, nicht gerade ungelegen kam. Am Mittwochabend betrat er zum zweiten Mal das weiße Landhaus. Charlotte empfing ihn mit derselben Freundlich­keit und servierte wieder einen heißen Tee. Das passte gut, denn es war plötzlich sehr kalt geworden. »Na, wie stehen die Nachforschungen, Herr Detektiv?«, erkun­digte sie sich mit einem Lächeln, das ihre wunderbar weißen Zähne blitzen ließ, als er im Wohnzimmer Platz genommen hatte.

      »Ich habe beim letzten Mal etwas Wichtiges vergessen«, kam Tim gleich zur Sache und brachte wie ein Zauberer aus seinem Zylinder den goldenen Kettenanhänger zum Vor­schein. »Hast du das Ding hier schon mal gesehen?«, fragte er, nachdem er ihn auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. Charlotte staunte nicht schlecht. Sie nahm das Schmuck­stück in die Hand, sah es sich von allen Seiten genau an und schüttelte schließlich zu Tims großer Enttäuschung den Kopf.

      »Da steht zwar Regina drauf«, sagte sie wieder mit diesen Skepsis verratenden ge­senkten Brauen, »aber du kennst das ja: Nicht überall ist das drin, was draufsteht. Der stammt bestimmt nicht von ihr, ist auch gar nicht ihr Stil gewesen, so was. Wo­her hast du das?«

      »Das Ding stammt aus der skelettierten Hand deiner Schwester. Sie hielt es wohl um­klammert, als sie starb, und es wurde mit dem Arm begraben.« Tim machte eine Pau­se, um nachzudenken. »Hm, das passt mir nun gar nicht ins Konzept. Ich dachte, es könnte vielleicht eine Spur sein, eine Spur zu demjenigen, der, aus welchem Grund auch im­mer, den Arm deiner Schwester, ähm –«

      »Du meinst, zu ihrem Mörder«, sagte sie kaltschnäuzig. »Nennen wir die Dinge ru­hig beim Namen.«

      »Oder ihrer Mörderin.«

      »Oder ihren Mördern.«

      »Ja. Und du bist dir ganz sicher, das Teil noch nie gesehen zu haben?«

      »Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern.«

      »Deine Mutter?«

      »Sie schläft. Ich möchte sie jetzt nicht wecken. Aber ich kann dir versichern: Wenn das Ding jemals in diesem Haus aufgetaucht wäre, wüsste ich darüber genauso gut Bescheid wie Mama. Glaub mir.«

      Tim glaubte ihr – obwohl er ein sehr kritischer und pedanti­scher Mensch war, je­mand, der alles genauestens unter die Lupe nahm, ehe er mit Hilfe seines messer­scharfen Verstan­des seine Schlüsse zog. Gab es auch nur den geringsten Grund, Charlotte nicht zu vertrauen?

      »Wenn das Ding dem Mörder gehörte, wie du hoffst, ist das ja auch kein Wunder, wenn ich es nicht kenne, oder?«

      »Es sei denn –«, dachte Tim laut. Doch dann wechselte er rasch das Thema: »Was war Regina für ein Mensch? Habt ihr euch gut verstanden?«

      »Oh ja«, versicherte Charlotte. »Regina war etwas Beson­deres. Sie stürmte ins Leben wie ein junges, ungestümes Fohlen. Alles interessierte sie. Sie liebte es, Eindrücke zu sammeln, Sinnes­eindrücke jeder Art. Alles Mögliche schrieb sie auf, was sie innerlich berührt hatte: der Anblick einer schönen Kathedrale, ein Rapsfeld im Frühling, ein Gemälde von Canaletto, eine Mücke beim Blutsaugen oder ein hoffnungslos betteln­der Penner in der Großstadt. Jede Erfahrung, ob gut oder böse, hatte für sie ihren Wert, der ihr Leben bereicherte wie ein Schatz, den es nicht zu verlieren galt. Sogar ihr Handbruch, erinnere ich mich, war für sie so ein Erlebnis, das sie in gewisser Hin­sicht als bereichernd empfand. In der Schule – sie war zwei Schuljahre über mir – ge­hörte sie in jedem Fach zu den Top Ten ihrer Klasse. Sie schrieb zwar nicht am lau­fenden Band Einsen, aber da sie alles irgendwie faszinierte, fiel ihr auch zu jedem Fach was ein, und sei es auch nur eine kluge Frage. Sie hat einfach zu jedem Thema ihren Senf dazu­gegeben, und das gab in jedem Fall 'ne gute mündliche Note. Das war dann schon die halbe Miete für ein gutes Zeugnis. Dass sie keine abgehobene Überfliegerin oder Intelligenzbestie war, machte sie dabei nur umso sym­pathischer. Alle mochten sie. Es fiel schwer, ihrem Charme nicht zu erliegen.«

      »Auch den Jungs?«

      »Ach, ihre zahllosen Verehrer! Das fand sie natürlich höl­lisch interessant, und es schmeichelte ihr. Ich glaube, es juckte sie ein bisschen in den Fingern, damit zu spie­len, ihre Ausstrahlung wie eine Hand in den Löwenkäfig zu ste­cken und zu sehen, was passiert. Sie empfand wohl eine ge­wisse Macht. Schließlich war sie kein hässli­ches Entlein. Du hast sie auf dem Foto gesehen.«

      »War sie wirklich nicht«, erwiderte Tim sachlich. Du aber auch nicht, dachte er.

      »Aber bei so was«, fuhr Charlotte fort, »wenn Gefühle in Aufruhr geraten, kann auch eine Queen wie Regina vom Thron gestürzt werden. Ich meine die Gefühle der Jungs, mit denen sie Umgang hatte. Davor schützen einen keine Käfigstäbe. Ich weiß nicht, ob sie sich der Gefahr richtig bewusst war, vielleicht übertreibe ich auch. Über Jungs hat sie mit mir gar nicht viel gesprochen. Ich war damals für das Thema noch zu klein und ... unerfahren. Jedenfalls hat sie keinen von denen so richtig rangelassen an sich. Den meisten hat sie irgendwann den Laufpass gegeben. Wenn einer auf sie stand, ich meine, richtig scharf war, machte er garantiert 'ne Bauchlandung. Vor al­lem, wenn er auf ein erotisches Abenteuer aus war. Wahrscheinlich, so schätze ich sie ein, verstand sie das erst mal gar nicht oder fand es voreilig, und dann zog sie die Reißleine. Sie hatte es ja nicht nötig, Typen bei Laune zu halten. Gar nichts hatte sie nötig, wenn es um Jungs ging. Wenn sie ausging, in Discos und so, zog sie sich zwar nicht gerade jungfräulich an, und wie sie sich so gab, hätte man es nicht erraten können, aber was sie eigentlich wollte, war: reden, sich austauschen über interessante Erfahrungen aus der bunten, weiten Welt, ge­meinsame Interessen entdecken wie vergrabene Schätze, gemeinsam staunen, in die Ferne schweifen, in Träumen schwelgen und auf Wolken dahinschweben. Das schwebte ihr von einer Freundschaft vor. Und sonst spielte sich nichts ab.«

      »Eine Romantikerin.«

      »Natürlich eine Romantikerin, eine hemmungslose! Wie sollte ihr früher Sex da nicht vorkommen wie gemeiner Verrat, wie eine Taktlosigkeit, Unflätigkeit, Rüpelhaftig­keit ...«

      »Die klassische Unschuld vom Lande, hm?«

      »Also, das wäre ein bisschen viel gesagt. Dazu passt nicht ihr Sinn für Macht und Spiel. Bestimmt entdeckte sie das Erotische so nach und nach. Ich glaube, es reizte sie schon, es kitzelte sie. Nur rangelassen hat sie, soweit ich weiß, kei­nen.«

      »Aber sie hat dir ja nicht alles erzählt.«

      »Umso weniger, je älter sie wurde. Bis sie verschwand.«

      »Ihre letzten Wochen sind demnach von einer Art Geheim­nis umwölkt?«

      »Möglich. Es gab in ihrem letzten Jahr vor dem ... vor dem Ende jedenfalls eine ganze Reihe von Jungs, mit denen sie vor der Schule rumknutschte oder die gelegentlich bei uns zu Gast waren. Offiziell geht's bei so was bekanntlich um gemeinsames Ler­nen für Klausuren, Haus­aufgaben­machen und so. Aber die meisten von den Typen waren mittelmäßig­e Pickel­gesichter, die mit Geschichten nervten, die keinen Men­schen auf der Welt interessierten, und denen Regina jeglichen Schneid abkaufte. Kei­ner hatte ihr For­mat. Keiner war, fand ich damals, ihrer so richtig würdig. Keiner passte zu ihr. Entweder hatte sie keinen Geschmack oder unwahr­scheinliches Pech. Das war mein Eindruck, der Eindruck einer Fünfzehnjährigen, muss man wohl ein­schränkend hinzu­fügen, die es übrigens reichlich ungebühr­lich fand, dass ihre Schwester sich so kurz nach dem Tod ihres Vaters in solche Affären stürzte. Aber vielleicht war das eben ihre Art, damit fertig­zuwerden,

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