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so schnell. Erst mal warf er sich in Deckung. Nun muss man natürlich wissen, was für ein Ehrgeiz und Eifer die Jäger beseelt und welches Konkurrenzdenken. Wer die meisten Abschüsse hat, ist der King. Und King möchte be­kanntlich jeder gerne sein. Da reagiert der Finger am Abzug schon mal schneller als das Gehirn. Mein Va­ter hatte ein wahres Feuerwerk ausgelöst. Alles schoss auf den armen Hasen. Mein Vater lag am Boden und konnte nur hoffen, nicht verwechselt zu werden. Aber er hatte die Rechnung ohne seine saublöde Mütze gemacht! Die ragte nämlich verräte­risch aus der Deckung hervor, und das Schwänzchen baumelte lustig hin und her, weil es im Herbst in diesen Breiten­graden mitunter ganz schön windig sein kann. Ein paar Jäger haben natürlich mitgekriegt, dass da irgendwas schief­lief. Die ganze Sache wäre ja auch nicht richtig tra­gisch, wenn nicht kurz vor der Katastrophe der rettende Ausweg sich noch aufgetan hätte. Aufgeregte Rufe gellten zwischen den Schüssen durch die Luft, aber sie nützten nichts mehr. Ein übereifriger junger Schnösel aus dem Verbandsnach­wuchs, der gerade acht Wochen seinen Jagd­schein hatte – mit Bravour bestanden! – und in der Mittagspause schon ein paar Jägermeister gekippt hatte, hielt ihn wohl für einen besonders listigen Fuchs, der sich hinter die Reihen der Jäger davonschleichen wollte, und verpasste ihm einen satten Kopfschuss. Voll­treffer! Kein Fuchs hätte das überlebt. Aber was da mausetot mit einem Riesenloch im Kopf am Boden lag, war kein Fuchs, son­dern mein Daddy. Selbst der blindeste Jä­ger konnte den Un­terschied sehen. Übrigens ein wahrer Glücksfall für die vor­gesehenen Opfer, den flinken Hasen und ein paar aufge­schreckte Eichel­häher. Die nutzten die allgemeine Verwir­rung und waren auf und davon. Waid­mannsheil!« Charlotte hielt inne und wandte ihren Kopf ab. Tim war bestürzt, nicht nur über ih­ren Bericht, sondern mehr noch über ihren Sarkasmus. Dann aber sah er, dass ihr Tränen über beide Wangen liefen, was ihn erst recht betroffen und außerdem schrecklich hilflos machte. »Dem jungen Schnösel ... tat das natürlich alles furchtbar leid«, schluchzte Charlotte. »So ein selten blöder Hund!« Sie fing sich wieder, zwang sich zu einem Lächeln und konnte schließlich ihren Bericht zu Ende führen. »Am Ende gab's dann ein höchst feierliches Jägerbegräbnis mit allen Ehren im Stile der Hubertus­messe, und mein Vater wurde von der Jagdhorn­bläser­kapelle höchst traditionsgemäß ›verblasen‹ wie'n totes Karnickel. ›Has is dod‹, ›Fuchs is dod‹, ›Jäger is dod‹. Ich hätte sie alle umbringen können mit ihren verdammten Flinten. Die ganze Zeit auf dem Weg zum Grab mussten Regina und ich Mama stützen. Sie wäre sonst unweigerlich zusammenge­brochen. Dann, am Grab, als der Prediger und der Jäger­häuptling vor dem versammelten, fast komplett aufmar­schierten Dorf ihren Sermon abgelassen hatten und Mama mit dieser komischen Schaufel­attrappe Erde auf den hinab­gelassenen Sarg schaufeln sollte, war es so weit. Da konnte sie nicht mehr. Und wir konnten sie nicht mehr halten. Ich werde das nie vergessen. Dieser Schmerz. Sie stolperte, taumelte und sank mit den Knien in den aufgeworfenen Erdhaufen ein. Als sie unter Tränen und aus voller Kehle über den Friedhof schrie: ›Martin! Ich werde dich immer lieben‹, da musste jeder erst mal schlucken, da gefror einem das Blut in den Adern. Es kam einem vor, als würde ihr Schrei durch das ganze Weltall hallen, durch das ganze Weltall!« Tim nickte und schwieg. »Das war 1984. Weißt du noch, das Jahr, wo alle von diesem Orwell-Buch redeten. Drei Jahre später verschwand Regina. Das hat meiner Mutter den Rest gegeben. Sie traf der Schlag – buchstäblich. Zuerst war sie nur eine ver­zweifelte Frau. Jetzt ist sie ein seelisches Wrack. Und ihr Körper hat diesen Verfall, wie zur sichtbaren Bekräftigung, mitgemacht.« Wieder herrschte Schweigen im Wohnzimmer der Wilhelmsens. »Tut mir leid, ich tische dir hier Geschichten auf, die dich eigentlich gar nicht –«

      »Nein, nein, ist o.k., ist schon o.k.«, wehrte Tim ab. »Gab es denn überhaupt keine Hinweise auf Reginas Verbleib?«

      Charlotte musste tief durchatmen. »Sie war mit Freundin­nen in einer Disco in Kiel. Später sah sie ein Besoffener in irgendein Auto steigen. Eine tolle Spur ...«

      »Hm«, machte Tim. »Konnte man denn den Abend nicht ir­gendwie rekonstruieren?«

      »Was willst du da rekonstruieren? Der eine hat dies gese­hen, der andere das. Die Polizei hatte am Ende so viele ver­schiedene Aussagen, wie es Fischsorten im Indi­schen Ozean gibt. In dem Schuppen herrschte ein Riesen­gewusel, und die drei Mä­dels haben sich ziemlich schnell aus den Augen verloren.«

      »Der Schuppen, das war das Dream, oder? Warst du schon –?«

      »Traum«, fiel Charlotte ihm ins Wort. »Weißt du, manch­mal träum' ich nachts davon, wie es früher war, wir, eine glückliche Familie in einem gemütlichen Landhaus mit al­lem, was man zum Leben braucht, Frühstück zu viert auf der Terrasse an einem herrlichen Sommer­morgen, die freie Natur um uns herum, zwitschernde Vögel ... Und wenn ich aufwache, dann braucht es eine ganze Weile, bis ich kapie­re, wie die Realität aussieht, wie trostlos sie ist und in wel­chem eklatanten Gegensatz sie steht zu diesem Traum- oder Wunschbild. Man fragt sich, wie sich Dinge so ändern kön­nen, so grundlegend. Manchmal stell' ich mir vor, Papa und Regina kommen zur Tür herein, als wäre nichts gewesen. Regina bringt irgend­einen ironischen Spruch, und Papa gibt Mama einen Kuss und sagt: ›Tut mir leid, Schatz, es ist et­was später ge­worden!‹ Komisch, nicht?« Tim verspürte wieder diesen Drang, Charlotte an sich zu ziehen. Aber sol­chen spontanen Impulsen nachzugeben war seine Stärke nicht. Er sah sie statt­dessen lange an und sagte schließlich: »Ich muss gehen.«

      »Was willst du denn jetzt tun? Zur Polizei?«

      »Ja, muss ich wohl.«

      »Bitte geh nicht zur Polizei.«

      »Warum nicht?«

      »Wegen Mama. Die werden kommen und die ganze Ge­schichte wieder aufwühlen. Ich weiß nicht, ob Mama das verkraften würde.«

      »Naja, ich habe die Polizei bis jetzt nicht informiert, weil die Sache ja wohl keine Eile hat. Aber irgendwann, denke ich, wird sich das nicht mehr umgehen lassen.«

      »Ich habe noch eine Bitte«, sagte Charlotte. »Ich möchte gern die Knochen haben.«

      »Die liegen noch in der Uniklinik. Aber ja, du ... kannst sie haben. Ich, ähm, werde sie dir besorgen.«

      »Und noch was«, bat sie.

      »Ja?«

      »Ich möchte, dass du mich über alles auf dem Laufenden hältst, was du über Regina herausfindest. Wirst du das tun?«

      »Ich verspreche es«, sagte Tim.

      Als Tim das Haus der Familie Wilhelmsen hinter sich ge­lassen hatte, überkam ihn ein regelrechter Schüttelfrostanf­all. Da verbringt man also ein paar Jahrzehnte seines Le­bens in Freude und Unbeküm­mertheit, und auf einmal über­fällt einen das Schicksal mit solcher Wucht, dass selbst Hamlet seines dagegen nicht hätte tauschen mögen. Man kann derartige Dinge so wenig aufhalten wie den Sonnen­untergang am Ende eines je­den Tages. Tim fiel dieser Ver­gleich ein, weil er der Abend­sonne genau entgegen­fuhr. Ihre Strahlen fielen durch die Wind­schutzscheibe in sei­nen Wagen und hatten wegen ihrer Blend­wirkung etwas ent­schieden Feindliches. »Du lässt Nacht werden und du bringst an den Tag«, sagte Tim. »Sollte ich mich stören an deinem Licht?«

      5 Diva

      Tim hatte auch in dieser Nacht wieder eher unerfreuliche Begegnungen. Anfangs ging's ihm noch gut. Er aß mit Charlotte und ihrer Mutter, die auf wundersame Wei­se ihr jugendliches Aussehen von dem Foto wiedererlangt hatte, zu Mittag wie in ei­ner heilen Familie. Dass sein eigener Va­ter mit am Tisch saß, verblüffte ihn überra­schend wenig. Beim Nachtisch kam Tim versehentlich auf Regina zu spre­chen. Er wollte die erfreuliche Mitteilung machen, dass er sie gesehen habe, lebend. Im Nu verfinsterte sich Vera Wil­helmsens Miene. Eine schaurige Meta­morphose ließ ihren Körper zucken wie in einem Gruselfilm. Verwandelt in die Alte vom Sonntagnachm­ittag, sah sie ihn jämmerlich und vorwurfsvoll zugleich an und fragte: »Regina! Wo ist ei­gentlich Regina? Sie haben sie zuletzt gesehen. Was haben Sie mit Regina ge­macht?«

      »Du hast einen schweren Fehler begangen«, rügte sein Va­ter mit ernster Miene. Tim verteidigte sich, er sei unschul­dig. Doch die Worte kamen

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