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PUZZLE - Mord am Kanal. Martin Berthold Heinrich Diebma
Читать онлайн.Название PUZZLE - Mord am Kanal
Год выпуска 0
isbn 9783742755919
Автор произведения Martin Berthold Heinrich Diebma
Жанр Языкознание
Серия Tim Schlüter ermittelt
Издательство Bookwire
Mit dem Versprechen, in einer Minute zurück zu sein, kehrte die schwarzhaarige Schönheit Tim den Rücken zu, dem er einen interessierten Blick hinterherwarf. Keck tänzelte und wippte der Pferdeschwanz auf ihrem Rücken, während sie den gemütlich warmen Raum verließ. Mit dem Ansatz eines Lächelns, der das Traurige, Schwermütige in ihren Augen nicht auszulöschen vermochte, kehrte sie in Begleitung einer dampfenden Kanne Tee, einer Zuckerdose und dem nötigen Geschirr auf einem Tablett zurück. Tim schätzte Menschen, die Gastfreiheit für selbstverständlich erachten und solche Dinge einfach aus einem Impuls heraus tun, ohne fragen oder lange nachdenken zu müssen. Er selbst war nämlich völlig anders gestrickt und hatte mit jeder Art von Selbstverständlichkeit erhebliche Mühe. Als sie beide bequem saßen und einen ersten vorsichtigen Schluck Tee geschlürft hatten, sagte sie mit ihrer sehr hellen, aber klaren und festen Stimme: »Es stimmt, ich bin Reginas Schwester. Wissen Sie, dass wir seit über zwölf Jahren nichts von ihr gehört haben?« Während sie an ihrer Teetasse nippte, sah sie ihm über den Tassenrand hinweg immer noch kritisch ins Gesicht, musterte ihn, als forsche sie im Gesicht eines Tatverdächtigen nach irgendeiner schrecklichen Wahrheit. Dabei wirkte sie wie eine Schachspielerin auf der Hut vor einer Falle.
»Nein«, erwiderte Tim. Er zögerte, mehr zu sagen.
»Sie ist damals spurlos verschwunden, von einem Tag auf den andern. Was wissen sie von ihr? Ist sie am Leben?« Das schien sie selbst nicht zu glauben.
»Ich weiß eigentlich gar nichts von ihr«, übte Tim sich in Zurückhaltung. »Das Ganze ist eine höchst merkwürdige Geschichte. Ich habe einen Hund. Sein Name ist Cano. Und mit ihm mache ich regelmäßig so meine Spaziergänge. Sie müssen wissen, ich wohne in der Nähe des Nord-Ostseekanals, und da –«
»Sie ist tot, nicht?«, fuhr sie auf einmal ganz ruhig dazwischen.
»Das kann ich noch nicht sagen, ich meine, das kann ich überhaupt nicht sagen, aber ... Hatte Ihre Schwester mal einen Unfall, bei dem sie sich die rechte Hand gebrochen hat?«
»Ein Handbruch? Wie kommen Sie ...? Moment. Ja! Ja, da war mal so eine Geschichte, ein ganz unangenehmer Bruch, den sich Regina beim Volleyball in der Schule zugezogen hat. Sie war angerempelt worden und gestürzt. Der ganze Arm wurde eingegipst.«
»Versuchen Sie sich ganz genau zu erinnern, denn das ist jetzt wichtig«, sagte Tim. Eine fieberhafte Spannung ergriff wieder Besitz von ihm. Und geradezu beschwörend stellte er seine entscheidende Frage: »Um welche Knochen handelte es sich?«
»Du meine Güte! Meinen Sie, wir haben das Röntgenbild von damals bei uns an der Wand hängen? Das muss an die zwanzig Jahre her sein. Ich war damals vielleicht gerade zehn oder elf, was interessieren einen da anatomische Details? Sie hatte eben einen Bruch, fertig.«
»Es ist wichtig«, beharrte Tim und nahm einen geradezu hypnotischen Blick an.
»Tut mir leid, ich muss meine Mutter fragen. Wenn sie gleich reinkommt, kriegen Sie bitte keinen Schreck, und sagen Sie ihr nichts, was sie aufregen könnte, vor allem nicht über Regina. Ihren Namen am besten gar nicht erwähnen. Und egal, was ich meiner Mutter erzähle, nicken Sie einfach nur, nicken Sie die ganze Zeit. Haben Sie verstanden?« Sie wiederholte: »Nicken Sie!« Tim nickte.
Jeder kennt Anekdoten von Menschen, denen der Kummer auf geradezu übernatürliche Weise zugesetzt hat. So soll es vorgekommen sein, dass jemand vor Entsetzen, Trauer oder Schmerz gleichsam über Nacht im wahrsten Sinne des Wortes alt und grau geworden ist. Chronisten berichten von plötzlichem Haarausfall oder völliger Entfärbung der Haare. Von anderen liest man, dass ein Zusammenbruch erfolgt sei, von dem es keine völlige Genesung mehr gegeben habe, oder dass eine dauerhafte Schwäche und Mattigkeit Besitz von ihnen ergriffen habe. Menschen hätten den Verstand verloren, seien »an gebrochenem Herzen« gestorben, eine andere Erklärung sei nicht zu finden. Tim glaubte nicht an derart unwissenschaftliche Erklärungen für Krankheitsbilder. Aber er änderte seine Meinung beim Anblick von Frau Vera Manstein, einst verehelichte Wilhelmsen. Denn wenn er diesen Anblick mit dem Familienfoto auf dem Kaminsims verglich, auf dem dieselbe Person abgebildet war, so konnte kein Zweifel daran bestehen, dass Vera Manstein ein Musterbeispiel für gleich alle der oben beschriebenen Syndrome war. Sie sah so mitleiderregend aus, dass jeder, der sie so sah, auch Tim, sich sagen musste, sie wäre besser an gebrochenem Herzen gestorben. Niemals zuvor hatte er in ein derart verwüstetes Gesicht geschaut. Die Furchen im blutleeren Antlitz der Alten waren so unnatürlich tief, dass man auf die Idee kommen konnte, der Schmerz persönlich wäre vorbeigekommen und hätte ihr jede einzelne selbst mit einem Messer in die Haut geritzt. Es waren Falten wie Narben. Ihre Augen waren blutunterlaufen und blickten müde und trübe aus tiefen, düsteren, feuchten Höhlen. Schwerfällig blinzelten sie ab und zu. Das Haar hing ihr in langen, zerzausten, grauen Strähnen lustlos und ungepflegt auf die Schultern herab. Ihre nach unten verzogenen Mundwinkel, aus denen manchmal, offenbar unkontrolliert, Speichel zum Kinn hinabfloss, ihre schlaff herabhängenden Lippen und Tränensäcke vervollkommneten den Eindruck von Trostlosigkeit, den diese Frau erweckte, eine Greisin, wie jedermann unvoreingenommen geurteilt hätte.
»Mama, dieser junge Mann hier ist ein alter Freund von Regina«, sagte Charlotte laut und vernehmlich und machte dazu erklärende Handbewegungen so überdeutlich, dass man hätte meinen können, die Angeredete sei taubstumm oder Ausländerin. Die ausgezehrte und gebeugte Gestalt der Alten setzte sich in den Schaukelstuhl, der am Kamin stand, und begann sanft hin- und herzuwippen. Dabei schaukelte ihr Kopf ein wenig mit. Vielleicht war es auch ein bewusstes Nicken oder jenes Nicken, das alte Menschen bisweilen auf Grund eines Defekts im Nervensystem überkommt. Man konnte es nicht eindeutig sagen.
»Ein Schulfreund«, brachte sie schließlich mit ihrer zittrigen, belegten Stimme so langsam und bedächtig und zugleich so unkontrolliert laut hervor, dass es sich anhörte wie eine künstlich verlangsamte Tonbandaufnahme, bei der allerdings der Lautstärkeregler zu weit aufgedreht war. Auch konnte man nicht zweifelsfrei entscheiden, ob es sich der Intonation zufolge um eine Frage oder um eine Bestätigung des Gesagten handeln sollte. Noch bevor sie gesprochen hatte, war ein kleiner Tränentropfen am Unterlid des linken Auges hervorgequollen und rann nun im Schneckentempo – passend, ja wie abgestimmt auf die langsame Redeweise – die Wange hinunter. Tim rührte der Anblick dieser gebrochenen, kranken Frau zutiefst, und obwohl er wie gesagt ein rationeller, kontrollierter und seelisch gefestigter Mensch zu sein glaubte, würgte ihn doch in seinem Halse ein Knoten des Mitgefühls. Er nickte, und Charlotte fuhr fort: »Er kann sich sogar noch an ihren Sportunfall erinnern. Weißt du noch, Mama, sie hatte so lange einen Gipsverband. Wir haben alle unsere Namen draufgeschrieben. Dauerte es nicht über einen Monat, ehe er abkam? Und –«
»Und das alles für einen einzigen Finger«, setzte die Alte plötzlich ein, immer noch mit dieser Schneckentempo-Stimme. Ihre feuchten Augen stierten geradeaus, als stünde sie unter Hypnose. »Die arme Regina, sie kann gar nicht mehr schreiben, dabei schreibt sie doch so gerne in ihr Tagebuch, kleine Gedichte. Andere Kinder in der Schule wären wohl froh, die rechte Hand in Gips zu haben, man braucht ja nicht mehr zu schreiben und keine Hausaufgaben mehr zu machen ... Aber Regina nicht! Regina ist traurig. Sie schreibt ja so gerne ... Und alles nur wegen eines einzigen Fingers ...«
»Finger, Mama? War es nicht die Hand, die gebrochen war?«
»Ja, ja, der Finger von der Hand.« Mit einer sanften