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von Nutzen ist. Tim liebte die Stadt nicht. Und er liebte die Menschen nicht. »Nichts flößt mir weniger Vertrauen ein als Menschen«, hatte er in der Anfangszeit einem Kollegen gestanden, dem er offen­sichtlich sympathisch war. Das beruhte allerdings nicht auf Gegenseitigkeit. »Hast du Lust mit rüber zum Döner-La­den?«, hatte der einmal sogar gefragt. Einige aus dem Ver­lag aßen dort regelmäßig zu Mittag. Aha, so'n sozial Kompetenter, hatte Tim gedacht, der Menschen gern heim­lich analysierte. Er hatte auf seine Tupperdose mit Schwarzbrot-Stullen verwiesen, verlegen gelächelt und dankend abgelehnt. Er rechnete sich selbst, und zwar völlig ungehemmt, der Spezies seltsamer Einsiedler zu. Irgendetw­as hielt ihn von der Menschheit fern, irgendeine unbestimmte Angst. Schon als Kind hatte er den Alm-Öhi aus »Heidi« bewundert, vor allem in der Lebensphase vor Heidi. Tatsächlich erinnerte seine Lebensweise von ferne an das literarische Vorbild: Zurückgezogen lebte er in einem renovierten Bauernhaus. Statt der Berge gab es den Kanal. Die nächste Siedlung, eine Art »Dörfli«, war fünf Kilometer entfernt und ihr wichtigstes Gebäude ein Altenheim. Man kann schwerlich umhin, aus all diesen Beobachtungen zu folgern: Tim brauchte keinen Menschen auf der Welt. Und vielleicht war es auch keine Übertreibung zu sagen: Andere Menschen waren ihm total egal. Aber sollte er das alles seiner alten Studienkollegin anvertrauen? Was würde sie davon halten?

      Tim antwortet: »Ach, man leibt und lebt.« Und erst als der Satz schon ausgesprochen im Raum stand, bemerkte er, dass er die Reihenfolge der beiden Verben durcheinan­der gebracht hatte. Das mit dem Verlag erwähnte er auch noch kurz. Dann nahm er einen Schluck Tee und schlürfte dabei leicht.

      Als die Dämmerung einsetzte, verabschiedete sich Tim ebenso plötzlich, wie er mit dem Telefonanruf nach so lan­ger Zeit aus der Versenkung aufgetaucht war. Dieser Tim Schlüter war doch ein unergründlicher Kerl. Aber Freya mochte ihn, sie mochte seine unterkühlte, scharfsinnige und bisweilen ironisch-spitzfindige Art. Und sie hatte gleich ge­wusst, dass sie ihm seine Bitte nicht würde abschlagen kön­nen. Sie versprach ihm also, sich um die erwünschte Analy­se zu bemühen. »Sobald die Er­gebnisse vorliegen, ruf' ich dich an. Deine Nummer hab' ich noch irgendwo. Immer noch das einsame, alte Bauernhaus zwischen Kiel und Rendsburg, das du von dei­nem Opa geerbt hast?«

      »Inzwischen mit komplett renovierten Wohnräumen. Man­che Träume werden eben doch Wirklichkeit.«

      »Wusste gar nicht, dass man beim Verlag so gut verdient.«

      »Man braucht im Leben immer etwas Glück. Neben allem Können. Bis dann also, ich verlass' mich auf dich.«

      »Und ich verlass' mich darauf, dass du die Polizei infor­mierst. Du hast es verspro­chen.«

      »Klar.«

      Allein in der Teeküche ihrer Station zurückgeblieben, nipp­te Freya an ih­rem kalten Tee und knabberte den letzten Keks auf, während sie mit der anderen Hand an ihrem hüb­schen Zopf drehte und mit wachen Augen auf Menschen­knochen starrte.

      3 Bürger X

      Abgeschieden war fast noch geschmeichelt. Das alte Bau­ernhaus, das Tim sein Eigen nennen durfte, wirkte von ei­nem erhöhten Standpunkt aus betrachtet wie eine einsa­me Schaluppe in den Weiten des Ozeans. Das Grundstück war einen halben Hektar groß. Zum Hof, der vor vielen Jahr­zehnten nach damaliger Sitte mit Kopfstein ge­pflastert wor­den war, gehörte auch eine gewaltige Scheune. Das Kopf­steinpflaster machte sich vor allem in Form von ein paar riesigen Schlaglöchern bemerkbar, wenn Tim im Auto saß.

      Er fuhr seinen blauen Escort, Baujahr 1985, vor die Hofein­fahrt, die durch eine lange Kette abgeriegelt und so breit war, dass früher ein Mähdrescher durchgepasst hatte. Dann stieg er aus, um die Kette zu lösen, die am linken und rech­ten Rand der Ein­fahrt an kleinen Metallpfeilern befestigt war. Von denen steckte einer nur lose in der Erde. Er konnte mühelos herausgezogen werden, wodurch sich die Kette so­fort der Länge nach senkte. Das war der ganze Trick – kein Schloss, kein magisches »Sesam, öffne dich«. Im Grunde war diese alte, rostige Kette vollkommen unnötig. Wer soll­te in diesem entlegenen Winkel schon daherkommen und Tims Hof als Parkplatz zweckentfremden? Noch weniger stellte die Kette ein besonders aufsehen­erregendes Hinder­nis für Eindring­linge anderer Art dar. Aber Tim liebte es nun mal, sich von der Außenwelt abzuschotten, und sei es nur symbolisch. Sein Wagen befand sich nach einigen Me­tern mitten auf dem Hof, genau zwischen dem großen Wirt­schaftsgebäude und einer recht baufällig wirkenden alten Scheune. Das Haus hatte zwei Eingänge: die Haustür auf der Frontseite und den Zugang über die Diele, markiert von einem mehrere Meter breiten und hohen, an der Oberseite gewölbten, von Holzwürmern zerstochenen Tor, das vor etlichen Jahren einmal rostbraun gestrichen worden war. Die Scheune gegenüber war wie das Bauernhaus von einem nicht mehr ganz wasser­undurch­lässigen Blechdach bedeckt, das den Großteil seiner rostbraunen Farbe zwar dem vor allem in Form von Regen unaufhörlich nagenden Zahn der Zeit hatte opfern müssen. Aber das wäre selbst den Vögeln in der Luft, die gelegentlich dort Zwischen­station machten, nicht aufgefallen (wenn es sie interessiert hätte). Denn wo die Farbe abgeblättert und das nackte Metall zum Vorschein gekommen war, hatten alltägliche chemische Prozesse die Lücke im Nu mit einem natürlichen Rostbraun geschlossen. Diese alte Scheune, in deren hinterem Teil noch gammelige Heu- und Strohballen aus längst vergangenen Tagen lagerten, diente Tim als Garage, und er hatte eine Methode entwickelt, seinen Wagen, und zwar rückwärts, so darin zu parken, dass er nie von einem einzigen Tropfen Wasser behelligt wurde, das sonst an erstaunlich vielen Stellen durch das Dach eindrang. Tim liebte das Alte, das Ursprüngliche, Unveränderte und Unver­wüstliche, und so hatte er seit seinem Einzug mit achtzehn Jahren den Hof im Wesentlichen so belassen, wie er ihn nach dem Tod des Großvaters vorgefunden hatte, soweit es sich nicht um renovierungs­bedürftigen Wohnraum handelte. Sogar eine alte, verrostete Egge lag noch in einer Ecke der Scheune. Tim hatte den Versuch, das rostige alte Ding zu veräußern, von vornherein als aussichtslos eingestuft. Der eigentliche Clou aber war ein alter Pferdepflug, natürlich ohne Pferd, dafür aber mit antikem Charme. Tim störten die alten Geräte nicht. Für sein Auto blieb ja genug Platz in der geräumigen Scheune, die übrigens fast so hoch war wie das Wohnhaus gegenüber, das unter dem Dach noch über einen alten Heuboden verfügte. Nachdem Tim den Wagen gewohnheits­gemäß abgestellt und das Scheunentor verriegelt hatte, stand er im Hof dem rustikalen Dielenportal des Bauernhauses gegenüber. Doch das Tor blieb, obwohl die lange Diele dahinter an den ehemaligen Kuhställen vorbei zu Tims Küche führte, immer verschlossen. So ziemlich alles an ihm klemmte nämlich, sowohl das Portal an sich als auch die kleine darin eingeschnittene Tür normaler Größe. Nichts ließ sich hier ohne übermenschliche Kraftanstrengung und ohrenbe­täubendes Knarren oder Quietschen öffnen, und als es zum letzten Mal dennoch jemand gewagt hatte, hatte man sich des beunruhigenden Gefühls, durch diesen Gewaltakt das ganze Haus zum Wackeln gebracht zu haben, nur mühsam erwehren können. Es schien sich zu empören wie ein Greis, den man in den Krieg schicken wollte, oder noch eher wie ein Geist, den man zur Unzeit aus seiner wohlverdienten Totenruhe aufgeschreckt hatte. Also ließ Tim lieber die Finger davon. Es blieb verschlossen, und man brauchte es auch nicht weiter zu sichern. Jeder Einbrecher hätte sich, da sich der Gebrauch von Motorsägen bei Einbrüchen in bewohnte Häuser aus verschiedenen Gründen verbietet, an dem Tor vermutlich die Zähne ausgebissen. Abgesehen davon konnte es auch keinen Einbrecher geben, der schlecht genug informiert war, um in Tims Haus etwas so Wertvolles zu vermuten, dass er die Strapazen und Risiken eines Einbruchs auf sich nehmen würde. Zu schlicht, zu bescheiden und zu unauffällig war Tims Lebensstil. Ein Blick in Tims Kleiderschrank genügte, um das fest­zustellen: Viereinhalb Hosen, eine dazu passende Anzahl an aus der Mode gekommenen Pullovern, ein paar schlichte und ein paar karierte Hemden, ein paar farblose T-Shirts sowie Socken und Unterwäsche für ein bis zwei Wochen, sofern man sie spätestens jeden zweiten Tag wechselte, ließen seinen Kleiderschrank nicht gerade überborden. Hinzu kamen ein zeitloser schwarz-brauner Anzug, ein Erbstück seines Großvaters (alle anderen hatte er dem Roten Kreuz vermacht), den er gleichermaßen zu Hochzeiten und Beerdigungen oder vergleichbaren feierlichen Anlässen zu tragen pflegte, nebst passender dunkelbrauner Krawatte sowie – für die Arbeit – zwei völlig identische graubraune Jacketts. Drei Paar Schuhe – für alltags eins, für feiertags eins und für den Sport (früher mal) eins – und ein Paar Stiefel – für den Winter

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