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Händen setzte er, nicht minder aufgeregt als Cano, dessen Arbeit fort. Plötz­lich zuckte er zusammen. In einem Aufbäumen von Ekel, als wäre ihm eine Giftspinne über die Finger gelaufen, stieß Tim etwas von sich: einen menschlichen Fingerknochen, Teil einer ganzen Hand, die im schwarzen Erdreich immer deutlicher zum Vorschein kam. Der grausige Fund machte Tims Verdacht zur Gewissheit. Nachdem er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, bemühte er sich mit aller Vorsicht darum, die Lage der skelettierten Hand im Erdreich mög­lichst wenig zu verändern, um nichts zu zerstören, nicht ir­gendwelche Beweismittel zu vernichten. Was ihm fehlte, war eine vernünftige Ausrüstung. Er musste so schnell wie möglich nach Hause zurück.

       Mit dem Auto, mit Schaufel, Plastikkisten, Tüten und Ta­schenlampe kam er wieder. Eine nervöse Hektik hatte von dem sonst so ruhigen und beherrschten jungen Mann Besitz ergriffen. Den halben Nachmittag verbrachten Tim und Cano damit, im schwarzen Erdreich des Fundortes herum­zubuddeln. Bis zu einem Meter Tiefe durchforsteten sie den Boden. Dabei kamen die Knochen für einen menschlichen Arm, soweit er das beurteilen konnte, weitgehend vollstän­dig zusammen. Tim pack­te alles sorgfältig in seine Kisten, schleppte diese fast einen Kilometer durch den Wald, pack­te alles in den Kofferraum seines alten Fords und fuhr nach Hause. Als sich seine Haustür quietschend hinter ihm schloss, fühlte er sich wie Holmes und Watson in einer Per­son.

      Allein in seinem großen Haus nahm sich Tim die Zeit, sei­nen Fund von der schwar­zen Walderde zu befreien. Insbe­sondere die Hand, die immer noch in der grauen Plastikbox lag, war dabei mit großer Vorsicht zu behandeln, damit ja nichts durch­einander geriet. Sie schien zum Zeitpunkt des Todes zu einer Faust geballt gewesen zu sein. Er hätte bes­ser auf den Versuch, sie umzudrehen, verzichtet. »O nein!« Gleich eine ganze Reihe von Knochen fiel von dem Erd­klumpen ab. Hilflos hielt Tim einen kleinen Handknochen in der Hand. Jetzt konnte er zusehen, wie er das wieder zu­sammenpuzzelte. Was Tim zunächst übersehen hatte, war, dass außer den einzel­nen Knöchlein auch ein mattgolden glänzender Metallklumpen in die Kiste zurück­gefallen war. Neugierig nahm er ihn wieder heraus, reinigte ihn in der Küche unterm Wasserhahn und kam zu dem Schluss, dass es sich um den Anhänger einer Halskette oder etwas in der Art handeln müsse. Tatsächlich fand er wenig später in der grauen Kiste auch ein ver­gammeltes Metallband: an dieser Kette musste der Schmuck befes­tigt gewesen sein. Tim un­tersuchte den Anhänger etwas genauer. Er war rund, etwa so groß wie ein Zweipfennigstück und offenbar aus purem Gold. Sonst hätte ihm die lange Zeit unter der Erde sicher mehr zugesetzt. Den Rand zierten kleine, kunstvolle Orna­mente, und auf beiden Seiten fand sich in der Mitte dieselbe Gravur: ein Name. War es Regina oder Reginald? Oder Re­gula? Sie war schwer zu erkennen, diese äs­thetisch ge­schwungene Schreibschrift. Tim nahm ein Taschentuch, feuchtete es rasch mit dem Reinigungsbenzin aus seiner un­tersten Küchenschublade an und putzte den Anhänger mit fieberhafter Ungeduld, bis er glänzte. Ab und zu hauchte er ihn an wie ein unsauberes Brillenglas. Schließlich konnte er den Schriftzug entziffern. Unzwei­deutig war der Name Re­gina zum Vorschein gekommen. War das der Name der To­ten? Ob es sich um eine männliche oder weibliche Lei­che handelte, das musste doch wohl anhand der Knochen herauszufinden sein. Mit irgendeinem von diesen moder­nen wissenschaftlichen Tests. Tim wusch die Knochen in seiner Badewanne – ein bisschen schräg kam er sich dabei schon vor – und versuchte sie schließlich auf dem dunkelbraunen Teppich seines Wohnzimmers in die anatomisch richtige Reihenfolge zu bringen: Fingerknochen – Mittelhandkno­chen – Handwur­zelknochen und schließ­lich Elle, Speiche und Oberarm. Er war sich nicht bei allen Teilen seines ma­kaberen Puzzlespiels so ganz sicher, schließlich war er kein Arzt. Aber so ungefähr kam das hin: Ein rechter Arm hatte Gestalt angenommen, fast professionell sah das aus. Tim war, sofern man das in Anbetracht einer so nahen Begeg­nung mit dem Tod sagen kann, mit seinem Ergebnis zufrie­den, auch wenn ihm das Ganze, vor allem jetzt, da er ruhig vor seinem Puzzle im Sessel saß, den einen oder anderen Schauer über den Rücken jagte. Cano hatte er während der ganzen Prozedur ausgesperrt halten müssen. Hunde und Knochen – das ist schließlich so eine Sache. Bellend und immer wieder erwartungsvoll an seinem Herrn hochsprin­gend, hatte Cano bis zu seiner Aussperrung nicht aufgehört, seine Ansprüche auf den Knochenfund geltend zu machen. Er wollte einfach nicht einsehen, dass das nicht irgendwel­che gewöhnlichen Knochen sein sollten, wie die, an denen man Hunde ungeniert zu Hause in Herrchens Garten her­umknabbern lässt.

      Endlich – so gegen sieben Uhr abends – tat Tim, was manch anderer gewiss schon längst getan hätte: Er griff zum Telefonhörer. Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme. »Polizeirevier Kiel-Mitte«, sagte sie. »Was kann ich für Sie tun?« Tim zögerte. Er brachte kein Wort heraus. Irgendetwas schoss ihm durch den Kopf, et­was, das er nicht in Worte zu fassen vermocht hätte. Ein Impuls, dem er nachgab. Er legte auf. Von sich selbst überrascht starrte er auf das reglose Telefon. Und dann war ihm auf einmal klar: Die Geschichte, die sich hinter diesem Knochenfund verbarg, wollte er sich von niemand anderem erzählen las­sen. Tim griff erneut zum Hörer. Diesmal meldete sich die Kieler Universitätsklinik.

      »Ja, guten Abend, mein Name ist Schlüter. Ich hätte gern mit Frau Dr. Meisenberg gesprochen. – Ja – vielen Dank.« Das Ausharren am Hörer wurde belohnt. Da war sie schließlich, die vertraute Stimme, vertraut aus vergangenen Uni-Tagen. »Ja, Freya? Kleine Überraschung, hier ist Tim, Tim Schlüter. – Ja, das wird sich vielleicht bald ändern. Ich hab' hier nämlich ein kleines Problem, bei dessen Lö­sung du mir be­stimmt behilflich sein kannst, hoffe ich zu­mindest. – Es geht um ein paar Knochen, die ich heute bei einem Spaziergang im Wald gefunden hab'. Die sind mir nicht ganz geheuer. Meinst du, es wäre möglich, bei euch eine Laboranalyse machen zu lassen, um so Aufschluss über Alter, Herkunft und so zu bekommen? Gibt's so was über­haupt, so'ne Analyse? – Ja, ich weiß, dass sich das jetzt etwas merk­würdig anhört, aber ...«

      Aber Tim bekam sein Rendezvous in der Uniklinik. Am Sonn­abend, in zwei Tagen also, konnte er kommen mit sei­nen merkwürdigen Knochen. Einem alten Freund schlug man eben keine Bitte ab, auch wenn sie, wie in diesem Fall, vielleicht ein we­nig sonderbar war.

      2 Freya

      Es war mitten in der Nacht, und Tim stapfte schon wieder mit Cano durch den Wald, in dem sie den skelettierten Arm gefunden hatten. Da mussten doch noch mehr Teile zu fin­den sein. »Such!«, befahl er seinem Hund. »Such! Such!« Aber Cano stellte sich nur provozierend vor ihm hin und bellte ihn an wie einen Unbekannten oder wie je­manden, der ihm etwas schuldig ist. Irgendetwas nahm er ihm an­scheinend furcht­bar übel. Nur was? Hatte er denn etwas Unrechtes getan? Aber ja: Er hatte Cano noch nicht für die vorenthaltenen Knochen entschädigt. Wütend fletschte Cano die Zähne, immer aggressiver wurde sein Gebell, als wollte er seinen Herrn, den er kaum noch zu respektieren schien, im nächsten Augenblick anfallen. Du meine Güte, dachte Tim, hoffentlich finde ich noch den Kopf, den muss ich ihm schon geben, da­mit er wieder Ruhe gibt. Erschro­cken, unsicher wich er zurück, stolperte über einen am Bo­den liegenden Ast und bemerkte erst beim Aufstehen, als er sich nach dem Grund für seinen Sturz umsah, die wahre Ur­sache für Canos Aufregung. Der Ast, über den er gestolpert zu sein glaubte, war kein Ast, es war ein gewaltiger Kno­chen wie von einem menschlichen Oberschenkel. Jetzt sah er aus dem Dunkel weitere Ske­lett-Teile vor seinen entsetz­ten Augen auftauchen: Ein Bein lag links, rechts noch ein Arm, Rippen weiter hinten, Wirbel­knochen ... Nur der Kopf fehlte. Wo war nur der Kopf? Unter Tims Füßen begann plötzlich die Erde zu beben. Oder bildete er sich das nur ein? Nein, auch die Knochen vibrierten, bewegten sich, fingen an zu tanzen. Pa­nik ergriff Tim. Er wollte nur noch weg. Als er den ersten Schritt tat, stellte er mit Entsetzen fest, dass es nicht die Erde war, die sich bewegt hatte, son­dern der Ober­schenkelknochen des Skeletts, das sich nicht erheben konnte, solange er darauf her­umstand. Die Skelett-Teile waren nämlich alle dabei, sich zu sammeln und in der richtigen Ordnung wieder zusammenzufügen. Tim sah, wie einzelne mit einem schlürfenden Geräusch Fleisch ansetzten, blutiges, rotes Fleisch. Ein ekelerregen­der Anblick. Bei alledem machte das Skelett eine höchst be­mitleidenswerte Figur. Es war eine arme, geschundene Kreatur oder, besser gesagt, Ex-Kreatur. Natürlich war Tim inzwischen längst klar, dass er sich in einem widerlichen Alptraum befinden musste, aber wie daraus entkommen? Nun vernahm er auch noch eine gehauchte weibliche Geis­terstimme, die sagte: »Der Kopf! Gib mir meinen Kopf!« Erst jetzt bemerkte Tim, woher die

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