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PUZZLE - Mord am Kanal. Martin Berthold Heinrich Diebma
Читать онлайн.Название PUZZLE - Mord am Kanal
Год выпуска 0
isbn 9783742755919
Автор произведения Martin Berthold Heinrich Diebma
Жанр Языкознание
Серия Tim Schlüter ermittelt
Издательство Bookwire
Tim gehörte eigentlich nicht zu den zart Besaiteten, aber die Ereignisse des abgelaufenen Tages hätten wahrscheinlich auch bei noch härteren Gemütern als dem seinen im seelischen Grenzbereich zwischen Bewusstem und Unterbewusstem ein Auslassventil in Gestalt nächtlicher Spukgeschichten gefunden. Daran, dass ihm dieser Alptraum einen gewaltigen Schrecken eingejagt hatte, der erst mal verdaut sein wollte, änderte diese Erkenntnis nichts. »Pfui! Pfui!«, sprach Tim noch einmal leise zu sich selbst. Er vergewisserte sich, dass weder links noch rechts von seinem Bett irgendwelche Skelett-Teile herumlagen, noch Cano, der neben seinem Bett zu nächtigen pflegte und ihn nun wegen der zusammenhanglosen Pfuis verstört aus müden Augen ansah, einen Kopf im Maul hatte, und machte bis zum Morgengrauen kein Auge mehr zu.
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Dr. med. Freya Meisenberg musste nach Meinung ihrer männlichen Kollegen jeden Morgen ein beachtliches Maß an Zeit aufwenden, um ihr langes, mittelblondes Haar zu jenem Zopf von besonderer Perfektion zusammenzuflechten, der jeden von ihnen neugierig darauf machte, wie sie mit offenem Haar aussehen mochte. Nie hatte einer die begabte junge Orthopädin anders gesehen als eben mit diesem kunstvollen Geflecht im Nacken. Freya selbst hielt ihre Frisur vor allem für eine pragmatische Lösung. Sie hatte es auch überhaupt nicht nötig mit ihrem Aussehen zu kokettieren, seit sie im Anschluss an das »mit Auszeichnung« bestandene zweite Staatsexamen und ihre AIP-Zeit eine nicht ganz unbedeutende Funktion in der Orthopädie der Kieler Universitätsklinik ausübte. Mit Knochen kannte sie sich aus.
Der Anruf des alten Mitstreiters aus Uni-Tagen war nach all den Jahren doch etwas überraschend gekommen. Und die Geschichte, die er ihr am Telefon kurz angedeutet hatte, kam ihr noch merkwürdiger vor. Knochen von einem Waldspaziergang. Was mochte das sein: ein Hirsch, ein Reh? Dafür war doch wohl eher ein Förster oder Tierarzt zuständig! Wie auch immer, die Aussicht, Tim nach so langen Jahren wiederzusehen, löste bei ihr eine kaum zu unterdrückende Vorfreude aus. Die hatte Freya zwar Mühe sich einzugestehen, aber es gab sie. Warum hatte sie Tim eigentlich immer so gern gehabt? Weil er nicht übel aussah – natürlich. Und dann war er keiner von diesen unausstehlich arroganten Schürzenjägern mit Titel und Kittel, mit denen sie sich hier ständig herumzuschlagen hatte. Vor allem aber hatte er diese geheimnisvoll tiefgründigen dunklen Augen. Auf die Augen kommt es an; das war Freyas Überzeugung schon immer gewesen. Niemals hätte sie sich in einen Typen mit diesen mattblauen bis trüb-grauen Augen verlieben können, die auch charakterlich jeden Tiefgang vermissen ließen – die Augen als Spiegel der Seele. Inzwischen war sie zwar so gut wie verheiratet, aber Tim war ... Tim. Haben konnte man ihn sowieso nicht. An ihn war unmöglich heranzukommen. Das Vorhaben, den Schiefen Turm von Pisa zurechtzurücken, schien entschieden aussichtsreicher. Tim umgab eine mysteriöse Mauer fast schon priesterlicher Unantastbarkeit, eine Mauer, die selbst die Posaunen von Jericho nicht zum Einsturz hätten bringen können. So jedenfalls war es ihr immer vorgekommen. Man wagte einfach nicht, ihn um eine Verabredung oder Derartiges zu bitten. Es kursierten ein paar sehr abschreckende Anekdoten über Fälle, in denen jemand versucht hatte, ihn aus der Reserve zu locken. Und die Moral dieser Geschichten lautete immer gleich: Finger weg.
Natürlich hatte Tims unorthodoxer um nicht zu sagen: exzentrischer Umgang mit dem anderen Geschlecht der Fantasie einiger (es kann sich nur um die Autorinnen besagter Anekdoten handeln) mächtige Flügel verliehen. »Du musst irgendwann mal ganz übel auf die Schnauze gefallen sein«, hatte Tim sich sagen lassen müssen oder (die verständnisvoll-feinfühlige Variante): »Dir muss jemand mal sehr weh getan haben.« Gemeint war natürlich, dass Tim von seiner großen Liebe brutal enttäuscht worden war und deswegen ein Trauma mit Langzeitwirkung erlitten hatte. Tim dagegen leuchtete überhaupt nicht ein, warum man gleich ein Trauma-Geschädigter sein musste, wenn man nicht darauf bestand, einen unkomplizierten und unproblematischen Lebensentwurf zu korrigieren. Und so konterte er: »Genau umgekehrt: Solche traumatischen Erfahrungen sind es gerade, die ich auf diese Weise geschickt umgehe.« Denn so viel verstand Tim auch damals schon von der Welt, wenn auch aus bloßer Theorie, dass er die mit Abstand größte Problemquelle im Leben eines Mannes zielsicher ausmachen konnte (und damit zugleich die Quelle potentieller Traumata, denn was ist ein Trauma anderes als das traurige Ergebnis eines Problems, das scharfe Krallen ausfahren kann?). Außerdem fragte er sich, warum manche Leute einfach nicht begreifen konnten, dass ein Leben ohne Frau das Einfachste von der Welt und vor allem in jedem Fall einfacher war als eines mit, insbesondere wenn man das Wort »einfach« einfach mal wörtlich nahm. Und selbst wenn man selbiges aus irgendeinem Grunde nicht einzusehen befähigt war, gab es deswegen noch längst keinen Grund, von sich auf andere zu schließen.
Die Sachlage war also eindeutig und Tim eine geheimnisvolle, uneinnehmbare Festung. Was nicht bedeutete, dass man sich mit ihm, dem Philosophen, nicht vortrefflich unterhalten konnte. Tim verfügte, nicht nur seines Studienfachs wegen, über ein ausgesprochen umfangreiches literarisches Wissen. Seine Allgemeinbildung war phänomenal. Ihm fiel zu so ziemlich jedem Fachgebiet – sei es Medizin, Recht, Chemie oder sonst was – genug ein, um einem Experten über die Dauer eines Small-talks hinaus folgen zu können, egal ob es um den Vietnamkrieg, den Zitronensäurezyklus oder Ethnien im Regenwald von Papua-Neuguinea ging. Schwierig wurde es erst, wenn man auf Privates zu sprechen kam, auf seine Biografie. Es schien, als hätte er die meisten Brücken zur Vergangenheit abgebrochen. Von seinem Vater wusste man gar nichts, seine Mutter lebte in Hamburg, er aber hatte es vorgezogen, in Göttingen und Kiel zu studieren, und nur selten ließ es sich vernehmen, dass er mal für ein Wochenende seine Mutter besuchte; vom Vater ganz zu schweigen.
Kennen gelernt hatten sich Freya und Tim in der Evangelischen Studentengemeinde, die regelmäßig zum »Philosophisch-religiösen Zirkel«, kurz PRZ, lud. Einmal wöchentlich hatten sich Studenten – oder Studierende, wie man heute an deutschen Hochschulen sagt, wenn man nicht unangenehm auffallen will – aller möglichen Fachbereiche in den Räumlichkeiten der ESG an der Uni zum Austausch über Bibel, Gott und die Welt getroffen. Dabei konnte es auch schon mal die Mao-Bibel sein, aus der zitiert wurde. Gelegentlich unternahmen Einzelne aus der Gruppe gemeinsam etwas am Wochenende, betätigten sich sportlich, gingen ins Kino oder Theater oder zum Italiener, und sofern nicht die Gefahr bestand, irgendwann mit einer weiblichen Studierenden allein gelassen zu werden, war Tim allem Anschein nach gerne mit von der Partie, auch wenn er nicht gerade die größte Stimmungskanone war. Nach ein paar gemeinsamen Semestern in der Gruppe hatten sich die Wege von Tim und Freya dann getrennt. Freya konnte sich noch gut an ihre letzte PRZ-Diskussion erinnern. Sein ständiges Gegen-den-Strom-Schwimmen und sein eigenwilliges Infragestellen von Ansichten, die bei den meisten anderen gesetzt waren (oder Gesetz), hatten Letztere entnervt und ihn selbst zermürbt. Sie gipfelten auf der letzten gemeinsamen Zusammenkunft damals am Semesterende in seiner strittigen Forderung, Gott als Gesetzgeber erst dann abzusetzen, wenn er erwiesenermaßen inexistent sei. Er aber habe dafür keine Beweise gefunden, nur Mehrheitsbeschlüsse und stillschweigenden Konsens, den »Konsens des Mainstream«. Was jedoch war »Mainstream«? Tims Antwort: »Das, was die meisten Menschen, fehlbare, vergängliche, in ihren Überzeugungen wechselhafte und verführbare Menschen, innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts für richtig halten, zum Beispiel zum Thema Judentum in der Nazi-Zeit.« Es war um die Frage gegangen, wie ein universelles menschliches Ethos in der Welt verankert werden könne. Die eine Seite vertrat den Standpunkt, der gesunde Menschenverstand oder Commonsense, das menschliche Gewissen, ein der Wissenschaft zu verdankender Wissensstand, ethische Grundregeln und Erkenntnisse aus der Philosophie könnten das sittlich Gute und Richtige durch eine gemeinsame Anstrengung aller gebildeten Menschen in der Welt verankern. Die Fehler der vergangenen zweihundert Jahre seien ein letztes Aufbäumen der Dummheit und Barbarei gewesen gegen das, was alle längst als richtig und gut begriffen hätten. Gegen diesen