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feststellte, dass dies seiner Definition nach keine Alpenbahn wäre.

       Maturaklasse, Hans Weigel in der Mitte der 2. Reihe (mit Brille)

      Bei den schriftlichen Prüfungen hatte er, wie er sich in seiner Autobiografie erinnerte, außer in Mathematik keine Schwierigkeiten. Von den vier Beispielen, die hier zu lösen waren, war eines relativ einfach, zwei schob er von Beginn an als für ihn unlösbar zur Seite und beim vierten, einer Gleichung, wusste er nicht weiter. Er drehte sich in einem unbeobachteten Augenblick zu seinem Hintermann, der ihm „Subtrahieren!“ zuflüsterte, sodass er die Gleichung lösen konnte und daher die – wie er festhielt – lebensgefährliche Klippe einer mündlichen Mathematikprüfung umschiffen konnte.24

      Das Thema in Deutsch lautete „Der dritte Stand im deutschen Drama – von Lessing bis Gerhart Hauptmann“. Die Beurteilung „Genügend“ zeigt, dass sich bei Weigel eine schriftstellerische Laufbahn noch keineswegs abzeichnete; bekanntlich stand er mit dieser schulischen Beurteilung in Deutsch nicht allein unter den Schriftstellern da. Sein vorrangiges Interesse lag zu dieser Zeit, gefördert von seiner Mutter, sicherlich bei der Musik. Nicht nur, dass er, wie bereits geschildert, Konzerte und die Oper besuchte, er konnte ein wenig Klavier spielen, vor allem aber sehr gut Flöte, die er auch wirklich gerne spielte.

      In In die weite Welt hinein berichtete der erwachsene Hans Weigel rückblickend: „Die Mündliche in Geographie ist gut ausgegangen, war aber doch blamabel. Ich wusste nicht, wie hoch der Mount Everest ist. Wozu auch? Man kann ja nachschauen. – Die Mündliche in Deutsch war fulminant. Ich war zum ersten- und letzten Mal im Leben ein wirklich guter Schüler, das heißt: nein, im Gegenteil. Ich wurde nach Gottfried Keller gefragt, ich liebte Gottfried Keller, hatte alles Erforderliche gelesen, kannte auch die Biographie, diese vielleicht aus der Deutschstunde, aber alles andere: ‚Die Leute von Seldwyla‘, ‚Das Sinngedicht‘ und vor allem den ‚Grünen Heinrich‘ hatte ich aus Eigenem zu mir genommen. […] Man soll, finde ich, lernen […]: einen Stoff zu bewältigen, man sollte Lernen lernen, etwas Nicht-Naheliegendes lernen […]“25

      Am Abend der bestandenen mündlichen Matura begleiteten ein Klassenkollege und Hans im Orchester im Floridsdorfer Arbeiterheim die Solistin Gertrud Schiff bei Mozarts Violinkonzert in A-Dur, sein Freund auf der Klarinette, er selbst auf der Flöte. „Konnte man die Reife schöner feiern als durch die Mitwirkung an dem A-Dur-Violinkonzert? […] Bis zu diesem Abend war alles, was mich betraf“, schreibt Hans Weigel in seiner Autobiografie, „in vorbildlicher Übersichtlichkeit verlaufen, immer in Wien, sechs plus vier plus acht, sechs Jahre Vorkriegszeit, vier Jahre Volksschule und Krieg, acht Jahre Gymnasium und Nachkriegszeit.“26 Die Zeit bis 1945 sollten diese „Übersichtlichkeit“ und Stetigkeit nicht mit sich bringen.

      „Mein Vater wünschte sich für mich einen kaufmännischen Beruf; er war bereit, mich studieren zu lassen, was ich wollte.“1 Außerdem sollte der Maturant Hans Weigel die Welt kennenlernen. Da sein Vater alles Britische verehrte, sollte er zunächst die Londoner School of Economics besuchen. Diese und andere Handelshochschulen sagten ihm jedoch nicht sonderlich zu. „So kam die undezidierte Entscheidung zustande: Jus-Studium, das kann man immer brauchen, und zwar in Hamburg, wo eine kaufmännische Atmosphäre herrschte.“2

      Mit gutbürgerlichem Taschengeld wohnte Hans Weigel in seinem ersten Semester von September 1926 bis zum Frühjahr 1927 bei zwei alten, für Thomas Mann schwärmenden Damen in einem möblierten Zimmer in Harvestehude, Isestraße 51. Er belegte alle Rechtsfächer, die für die Erstsemestrigen vorgesehen waren, aber auch Philosophie und Psychologie. Darüber hinaus besuchte er Musikvorlesungen und einige über russische Literatur, hatte zum letzten Mal Flötenunterricht, besuchte Symphoniekonzerte und die Oper. Großen Eindruck hinterließ eine Orpheus-Aufführung von Jacques Offenbach im Thalia Theater mit singenden Schauspielern wie Gustaf Gründgens und Viktor de Kowa als Hans Stix.

      Auch begann Weigel in Hamburg zu schreiben, „nur so für mich und gar nicht begabt“.3 In Das Land der Deutschen mit der Seele suchend war er 1978 der Ansicht: „Hätte es damals den Hans Weigel gegeben und ich hätte ihm Arbeitsproben geschickt, er hätte mich nicht zum Weiterschreiben animiert.“ Ebendort hielt er fest, dass ihm immer, wenn er später nach Hamburg kam, wegen der Erinnerungen an 1926 „das Herz aufging“, er seinen Glauben an Deutschland wiedergefunden habe, da es dort nicht nur nach See, sondern vor allem „nach Demokratie duftet“.4

      Am Ende dieses ersten und einzigen ernst genommenen Wintersemesters 1926/​27 reiste Weigel – seiner Erinnerung nach im Februar 1927 – nach Berlin, um in einem Verlag eine Stelle zu finden, die Literatur und kaufmännischen Beruf verband. Nachdem er bei S. Fischer und anderen „freundlich unverbindlich abgefertigt“ worden war, fand er ab April 1927 eine Anstellung für 28 Mark im Monat als Lehrling bei Die literarische Welt, einer von Ernst Rowohlt und Willy Haas 1925 gegründeten Wochenzeitschrift, dem Unabhängigen Organ für das deutsche Schrifttum, die sich zum Zeitpunkt seiner Vorsprache gerade als selbstständige GmbH von Rowohlt gelöst hatte und daher für zusätzliche Mitarbeiter offen war.

      Weigel wohnte in einer Pension am Nürnberger Platz und war überwältigt von dem, was er in Berlin vorfand: Er sah Werner Krauß, wie er sich zu erinnern glaubte, in Fritz von Unruhs Bonaparte in der Regie von Gustav Hartung mit Dagny Servaes als Joséphine sowie den ein Jahr zuvor, am 14. Dezember 1925, unter Erich Kleiber an der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführten Wozzeck von Alban Berg. Weigel fühlte sich wohl in dieser Stadt, „von der man sofort adoptiert wurde“.5 Doch nicht allein Theater, Opern und Konzerte ließen ihn in Berlin seine „Menschwerdung“ widerfahren, sondern auch die Tatsache, dass diese Hauptstadt der Künste Begabungen und Genies anzog: Musiker, Schauspieler, Regisseure, Sänger und Schriftsteller wie Arnold Schönberg, Franz Schreker, Max Reinhardt, Robert Musil, Alfred Polgar, Erich Kästner, Bert Brecht … Weigel gefiel, „dass in Berlin auf den Strassen spät abends ein so dichter Verkehr wimmelte wie in Wien am späten Nachmittag. Berlin war hell, Berlin war schnell, Berlin hatte einen höheren Blutdruck und einen besseren Tonus, Berlin war, und das gehört zu seiner Attraktivität, von Berlinern bewohnt“.6 Ähnliches sollte er 21 Jahre später an seinem ersten Abend in New York feststellen.

      In diesen Monaten war er begierig darauf, Theater und Musik zu konsumieren, und kam bei all den Berliner Größen der damaligen Zeit voll auf seine Kosten: bei Erwin Piscator am Nollendorfplatz, im Staatlichen Schauspielhaus, bei Fritz Kortner als Oscar in Gespenster, Werner Krauß in Peer Gynt von Henrik Ibsen mit Frida Richard als Aase in Bertold Viertels Inszenierung, im Schillertheater mit Frank Wedekinds Musik mit Maria Koppenhöfer, den beiden Opernhäusern, den Konzerten unter Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Erich Kleiber und Otto Klemperer … Doch war er auch als „reiner Konsument“ schon kritisch, zählte die eine oder andere Piscator-Inszenierung zu den dummen, Fritzi Massary sah er als überschätzte Diva an. Er sah schreckliche Klassikeraufführungen wie Heinrich VI. mit Eugen Klöpfer, Paul Wegener und Ernst Deutsch, ebenso langweilig zelebrierten Naturalismus wie die von Karlheinz Martin „fad“ inszenierte Rosa Bernd mit Käthe Dorsch … Dagegen aber standen: Werner Krauß, Grete Mosheim, Carola Neher, Curt Bois, Oskar Homolka, Fritz Kortner, Maria Koppenhöfer, Paul Bildt, Aribert Wäscher, Walter Franck, Rosa Valetti, der schon erwähnte Wozzeck von Alban Berg, die 3. Sinfonie von Gustav Mahler unter Erich Kleiber, die Sinfonietta von Leoš Janáček im Beisein des Komponisten, Troilus und Cressida, inszeniert von Heinz Hilpert etc. All die Kammerrevuen am Kurfürstendamm gingen ihm so nahe wie zuvor der Hamburger Orpheus und bildeten den Nährboden für Weigels Tätigkeiten in der Wiener Kleinkunst wenige Jahre später.

      Er schrieb weiterhin, „doch es blieb quantitativ und qualitativ unbedeutend. Unbegabt.“7 Eine kleine Blödelei und Aphorismen erschienen in den Lustigen Blättern und im Tagebuch, doch fehlte ihm die Ermutigung weiterzuschreiben. Dies sollte noch einige Jahre andauern, weshalb er über sich selbst bis zum Beginn seiner Tätigkeit in der Wiener Kleinkunst – als 24-Jähriger – in seiner Autobiografie bekannte: „Ich

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