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…“15 Doch schon bald danach war Hans Weigel entschlossen, aus der Glaubensgemeinschaft wieder auszutreten: „Es war klar, dass ich den Gang zum Magistratischen Bezirksamt antreten würde, um dort auf meinem Geburtsschein den Austritt aus der Religionsgemeinschaft eintragen zu lassen. Aber es war auch klar, dass dies zu Lebzeiten meines Grossvaters nicht geschehen sollte. […] Im Frühjahr 1932 starb mein Grossvater. Am darauffolgenden Geburtstag [24. Geburtstag im Mai 1932, elf Jahre nach der Bar-Mizwa] ging ich auf das Magistratische Bezirksamt […]“16 Er ließ sich seinen Austritt bestätigen.

      Die Ferien nach seiner Bar-Mizwa im Sommer 1921 verbrachte Hans Weigel mit dem zurückgekehrten Vater in Tirol, Salzburg und im Salzkammergut – „mit dem Ziel, uns näher zu kommen“17, wie er in der Autobiografie festhielt. Zwischen Vater und Sohn gab es keine Konflikte, Hans anerkannte, dass sein Vater ihn liebte, ihn auch verstand und für ihn viel getan hatte, „aber mein guter Freund war und blieb meine Mutter, und für den Versuch, eine echte Vater-Sohn-Beziehung herzustellen [eben mit einem Vater, den er an anderer Stelle als weich und gütig beschrieb], war es zu spät, womit ich mich an unseren allerhöchsten Kriegsherrn und allergnädigsten Monarchen, Seine Apostolische Majestät Franz Josef I., wende. Er hat vielen anderen viel mehr genommen, aber mir immerhin die Chance, mit einem Vater jung zu sein und erwachsen zu werden“.18

      Die Not im Wien der Nachkriegsjahre bemerkte Hans Weigel sehr wohl, aber er verspürte sie ebenso wenig wie die Not der Kriegsjahre, die er durch die Abwesenheit des Vaters und die Trauer um die gefallenen und vermissten Onkel miterlebt hatte. Er sah die elend gekleideten Menschen und ihre Hungergesichter, einige der Mitschüler gingen zur „Ausspeisung“. Weigel nahm jedoch später an, dass seine Mutter Opfer gebracht und allerlei Kunststücke unternommen hatte, um ihn und nach Mitte 1920 auch seinen Vater durch die schweren Zeiten zu bringen. „Das Elend war sehr gross und bewirkte – auch wo es nicht erlitten, nur miterlebt wurde, einen allgemeinen Defaitismus, Fatalismus, sehr oft mit Zynismus verbunden.“19

      Andererseits erwähnte er in seiner Autobiografie aber eine Italienreise, die das Gymnasium Beethovenplatz für die vier Klassen der Oberstufe veranstaltete und an der Hans in der ersten Hälfte der Zwanzigerjahre teilnehmen konnte. Sie erschien ihm im Rückblick vor allem erwähnenswert, weil er dabei die Ignoranz seiner Professoren aufzeigen konnte: „Wir waren einige Tage in Neapel, wir besuchten Pompeji, dort hat [ein Professor], Altphilologe, Helmut Qualtingers Travnicek (‚Was brauch i des?‘) vorweggenommen. Angesichts der schönsten und eindruckvollsten antiken Häuser sagte er: ‚Das haben wir in Wean a.‘ Und angesichts der imposanten Bäder meinte er: ‚Unser Dianabad is mir lieber!‘“20

      In den Sommerferien 1925, vor der Abschlussklasse des Gymnasiums, begab sich der siebzehnjährige Hans mit einer geführten Wandergruppe von Lienz aus nach Südtirol. Er schrieb jeden zweiten Tag an seine Eltern, die wie fast jedes Jahr die böhmischen Verwandten besuchten, zumindest eine Karte, aber auch lange Fortsetzungsbriefe, denen er gelegentlich weitere Ansichtskarten beilegte. Die Gruppe wanderte viel, nahm hie und da einen Bus oder ließ sich von einem Wagen mitnehmen. Sie übernachteten in Heuschobern, Berghütten und preiswerten Unterkünften. Trotz gelegentlich schlechten Wetters gefiel es Hans, der sich hier auf eine ganz unintellektuelle Weise naturverbunden zeigte, außerordentlich. Schon in seinem Brief vom 14. Juli 1925 aus Corvara schwärmte er: „Am nächsten Morgen (Montag) standen wir um 4 h auf, sahen gerade den Sonnenaufgang und bestiegen den Nuvolaun (ca. so hoch wie die Serles) [Monte Nuvolau, 2.574 m]. Dieser Berg, sowie schon die Hütte selbst gehören zum Schönsten, das ich je gesehen hatte; außerdem war das Wetter andauernd herrlich […] Was meine Person betrifft, so ertrage ich alles, vom Frühaufstehen bis zum 7 Stunden [G]ehen spielend, habe Sommersprossen und sehe aus wie ein verkommener Wanderbursche. Sonst geht es mir recht gut […]“

      Die Tour führte nach mehreren Stationen weiter bis Bozen, von wo Weigel berichtete: „Diesen Brief schreibe ich während des Nachtmahles, werde ihn wahrscheinlich im Kaffeehaus beenden, diesen Luxus gönne ich mir ausnahmsweise, um mich wieder ein wenig von der Kultur belecken zu lassen, da ich nun schon 10 Tage keine Zeitung las und meist nur mit Bergen Verkehr pflog.“ Aus Meran schrieb er zwei Tage später nur eine Karte, doch begann er am selben Tag aus Gomagoi einen Brief, in dem er betonte, noch nichts verloren zu haben und sein „Aussehen als zumindest kompromittierend“ bezeichnete. Der nächste Brief aus Trafoi vom 22. Juli war der überschwänglichste der ganzen Tour:

      Meine lieben Eltern!

      Der heutige Brief hat ein Geständnis zum Inhalt. Ich habe mich (zum erstenmal auf dieser Tour) verliebt und weiß noch gar nicht, welche Konsequenzen daraus erwachsen werden. Ich hoffe, Ihr werdet mich verstehen, wenn Ihr den Gegenstand meiner Liebe erst gesehen habt, was hoffentlich bald der Fall sein wird. Um nicht lange Worte zu machen, will ich nun nicht mehr hinter’m Berge halten, will Euch ohn’ Umschweife kurz und bündig gestehen, daß der Gegenstand meiner Zuneigung der Ort Sulden ist. […] Ich schlage vor: Ihr kommt als krönender Abschluß des heurigen Sommers hierher auf ca. 1 Woche, von da lässt sich eine prachtvolle Tour für Euch Stilfserjoch – Bormio – St. Catarina (Melodie: Oh Catarina) – Madonna die Campiglio machen […]

      Wieder zwei Tage danach verkündete er: „Die Stilfserjochstrasse ist gar nicht mehr wahr, so schön ist sie.“ Am 28. Juli fuhr Hans mit der Zahnradbahn auf einen Aussichtspunkt in Gries, nahe Bozen: Es war „ein herrlicher Tag, prachtvolle Aussicht, was soll ich sagen? Ich bin glücklich!“, nachdem er vorher Bozen besichtigt hatte, das ihm mit jeder Stunde besser gefiel. Über Franzensfeste und Bruneck ging es nach Corvara, von wo er in der letzten Karte dieser Tour am 2. August berichtete, auf die Eltern zu warten, die er immer wieder gebeten hatte, ihn abzuholen, zu kommen, damit er ihnen all das Schöne zeigen könnte.

      Am 13. September 1925 begann Hans Weigel Tagebuch zu schreiben.21 Es blieb ein Fragment, beinhaltet am Beginn tägliche Eintragungen, die jedoch bald schon durch längere Schreibpausen unterbrochen werden, besteht insgesamt aus 66 unlinierten DIN-A4-Heftseiten und endet Mitte Mai 1928. Der Grund für dieses Unterfangen, „Gedanken in Geschriebenes umzusetzen“, welches ihm „nicht so leicht“ erschien, war „ein Symptom einer Kinderkrankheit“: die „sogenannte ‚Liebe‘, beziehungsweise ‚unglückliche Liebe‘“ zu einem Fräulein Lisl, die er am 8. August sah. Er begann von ihr zu schwärmen, sah sie auf dem Schulweg mit einer Freundin, sprach einige Male kurz mit ihr, aber duzte sie bewusst nicht. Der Grund für das Unglück: „Ich sehe Sie, spreche mit Ihnen einige Worte und von dem Moment an kenne ich keinen anderen Gedanken als Sie, doch in Ihrer Gegenwart bin ich befangen, ungeschickt und komme beim besten Willen nicht über das Niveau der ‚Sommerbekanntschaft‘ hinaus […]“

      Am 7. Oktober beschloss er, Lisl „in seinen Briefen (oder soll ich Bekenntnisse oder schlechthin Aufzeichnungen sagen) Du zu nennen“, denn: „Was ich mir seit mehr als einem Monat ausmalte, was ich herbeisehnte und doch davor bangte, heute wurde es (Dank sei Dir, bewährtes Fatum!) zum Ereignis; auf dem Schulwege sah ich Sie (mit Schwester), wurde herzlich begrüsst und durfte ein Stück begleiten!!!“ Der Grund für das Du kristallisierte sich bei ihm dadurch heraus, dass sich „das Göttliche an Dir etwas gemildert […] hat und dadurch bist Du mir wohl nähergekommen“.

      Am 23. Oktober hielt er fest: „Es ist grauenhaft und doch wunderbar, was ‚die Liebe‘ aus einem Menschen machen kann, ich scheine wirklich ein ganz anderer geworden zu sein.“ Er wagte es, ihr einen Brief zu schicken, erhielt einen „Absagebrief“ zurück, der für ihn einen „Sturz aus allen Himmeln“ bedeutete, obwohl er sich eingestand, dass ihr Brief „vielleicht gar nicht bös gemeint“ war. Darunter litt er: „Ich habe Anwandlungen von Unglücklichkeit, dass es ärger nicht mehr vorstellbar ist“, doch träumte er von ihr, ihren „so lieben“ Briefen, was ihn nicht nur „versöhnlicher“ stimmte, sondern ihn „alles milder betrachten“ und ihn auch bei Tag von ihr ein wenig träumen ließ. Ein paar Tage später klagte er emotionsgeladen: „O warum habe ich niemanden auf der Welt, der mir Hänschen sagt, mir dabei sanft die Wange streichelt?“

      Beim Schreiben dieses Tagebuches verspürte er Lust zum Schreiben, weshalb er am 8. November festhielt: „Immer wieder fühle [ich] in mir das Gefühl, zum Schriftsteller bestimmt zu sein, speziell in meinen Träumen kommt das zum Ausdruck, wo ich Geschehnisse gleichsam in der Form von Novellen oder Romanen höre (ich kann mich da schon richtig

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