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kostbare Zeit des Vormittags sinnlos verpatzte. […] Wo wir Schwäche fühlten, nutzten wir sie erbarmungslos aus.“9

      Aus Kansk in Sibirien klagte Eduard Weigel noch im September 1919 in mehreren Briefen, dass für sie, die Gefangenen, „sich der Friede so zieht, wie der Krieg“, und er fragte sich, was er seiner Frau und seinem Sohn im Leben noch bedeuten könnte. Ihm war klar: „Lebensinhalt für uns werden wir trotz allem, was da droht, nur innerhalb uns zu suchen und zu finden haben.“ Doch tröstete er sich mit der „Erinnerung an unser Glück“, die auch der Krieg nicht nehmen könne, und hielt an seinem Wahlspruch fest: „Das Leiden zu nützen.“10

      Der etwas über elfjährige Hans, der für seine Mutter gelegentlich Reime schmiedete, dichtete zum 16. Hochzeitstag der Eltern einige Verse, wovon zwei festgehalten seien:

      Der Hochzeitstag ist gekommen

      Der Vater leider noch nicht da

      Wir hoffen der Vater wär auch gekommen

      Doch hoffentlich ist er nah […]

      Vater unser, der du bist in

      Russland, Eduard ist Dein Name,

      komm bald nach Deutschösterreich,

      bezahle unsere Schulden,

      gib uns unser täglich Brot, führe

      uns nicht in Versuchung, sondern

      erlöse uns vom Übel des Alleinseins […]

      Hans Weigel bewertete diese Texte später, wie er in seiner Autobiografie festhalten sollte, als „nur durchschnittliche Gelegenheitsgedichte“, wie sie damals in bürgerlichen Familien üblicherweise verfasst wurden. Auch brillante Aufsätze, so bekannte er, hätte er in seiner Gymnasialzeit nicht geschrieben.

      Am 13. Februar 1920 schrieb Eduard Weigel seinem Sohn einen langen, übermütigen Brief aus Wladiwostok, worin es hieß: „[…] wenn ich an Dich denke, und unser Zusammensein als ein nahes mir vorstelle, fallen mir die unglaublichsten Tollheiten ein, die ich gemeinsam mit Dir anstelle […] Wir zwei richten dann zu Hause eine Riesenunternehmung ein: Du die Rasierabteilung und ich eine Riesenwäscherei. Und wenn unsere Familie uns nicht irgendwie entschädigt, wird sie verurteilt, unserem Kundenkreis anzugehören […]“11 Daraus kann geschlossen werden, dass der mittlerweile freigelassene Kriegsgefangene Eduard Weigel zu dieser Zeit als Österreicher mit tschechischem Pass zur Heimreise aufgebrochen war. Er fuhr mit dem Schiff über Japan, Ceylon, Ägypten nach Triest, er hatte mehrfach Aufenthalte, „sammelte Bilder und führte ein Tagebuch, das für mich bestimmt war. […] Das Buch habe ich an mich genommen. Irgendwo muss das Buch heute noch liegen. Es gehört zu den wenigen Erinnerungsstücken, die ich behalten habe. Aber es wurde nie gelesen“.12

      Dieses Tagebuch zeigt die sehnsuchtsvolle Vorfreude Eduards auf seinen Sohn und es spricht nicht gerade für Hans Weigel, dass er den Reisebericht seines Vaters, sein „Mitgebrachtes“ von der langen Abwesenheit, nie gelesen hat, das mit „rein persönlichen Empfindungen“, Eindrücken und Erlebnissen nur für den Sohn gedacht war. Hans bezeichnete sich selbst als frühreif, trotzdem mag es verwundern, dass der Zwölfjährige nicht aus Neugier in den Bericht schaute und ihn auch später nicht las. Sicherlich mit ein Grund für die Entfremdung von Vater und Sohn, da Hans sich wohl nicht bemühte, seinen Vater ganz zu verstehen, und die Liebe nicht erkannte, die dieser ihm zu geben bereit war.

      Um früher nach Hause zu kommen, fuhr Eduard Weigel nicht als österreichischer, sondern als tschechoslowakischer Staatsbürger mit einem Sonderzug und vielen anderen tschechischen Soldaten nach Prag, wo er von seiner Frau, seinem Sohn, der schulfrei erhalten hatte, und einigen Verwandten erwartet wurde. Das dürfte schon im Frühsommer 1920 gewesen sein, denn in seinem „Konzert- und Theater-Merkbüchlein“ vermerkte Hans Weigel, dass er am 22. Juni 1920 im Burgtheater gewesen war. An diesem Tag wurde nach Ankündigung in der Neuen Freien Presse Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise aufgeführt. Die „Bemerkung“ von Hans dazu: „Erstes Theater. Ganz anders als alles bisher gehörte. Akustik nicht besonders. Siebert (Nathan) passabel, Devrient (Sultan) gut, Wohlgemuth (Sittah) sehr gut, Maydan (Recha), Wildbrunn (Daja), Gerasch (Templer) gut, Farest (Derwisch) etwas zu hastig, Heine (Patriarch) sehr abstoßend. Theater hübsch aber klein. Trotzdem nicht besonders verstanden.“

      In seiner Autobiografie berichtete Hans Weigel später: Theater- und Opernbesuche „begannen erst, als ich schon fast dreizehn Jahre alt war. Denn eine der zahlreichen ausgefallenen Ideen meiner Mutter war es, dass es meinem Vater, dem soviel im Zusammenhang mit meiner Erziehung entgangen war, vorbehalten sein sollte, mich zum ersten Mal ins Theater zu führen. So blieben mir die Märchen- und sonstigen Nachmittagsvorstellungen erspart. Vielleicht war das richtig, ich weiß es nicht. […] Ich studierte die Plakate, ich war vom Hauch des Geheimnisvollen angeweht, das Theater wuchs an und wurde in meiner Phantasie sehr groß, sehr feierlich-festlich, sehr strahlend. Dann war es soweit. ‚Nathan der Weise‘ im Burgtheater […]“ Seine Eindrücke stimmten mit den Bemerkungen im „Konzert und Theater-Merkbüchlein“ überein, nur fügte er in der Autobiografie noch hinzu: „Mir gefiel nur Hugo Thimig als Klosterbruder. Sehr irritierend und völlig unerwartet war es, dass in den Zwischenpausen ein schlechtes Orchester Musik in der Art einer Salonkapelle zum Besten gab.“13

      Schon sieben Tage später, am 29. Juni, war Hans am Nachmittag in Friedrich Schillers Wilhelm Tell im Volkstheater, wie er dann überhaupt viele Konzerte, Opern- und Theateraufführungen fast immer am Stehplatz besuchte. Seine erste Oper „ohne besondere Begleiterscheinungen“ war Richard Wagners Lohengrin, wohl am 28. Dezember 1920 in der Volksoper, da diese Oper in der zweiten Hälfte des Dezembers nur an diesem einen Abend gespielt wurde.

      In diesen Nachkriegsjahren wurde Hans Weigel nicht nur zum begeisterten Musik- und Theaterliebhaber, sondern auch zum kritischen Kenner, den auch Unmöglichkeiten richtiggehend trafen, wie ein Beispiel zeigt: In der goldenen Reinhardt-Ära des Theaters in der Josefstadt sah er viele Aufführungen, in der großen Pause während des Sommernachtstraums spielte im schönen neuen Buffet-Foyer, den Sträußel-Sälen, ein Bar-Duo einen Tango – Grund „für einen der größten Wutanfälle“14 seines Lebens.

      Ein vermutlich Ende 1920 oder Anfang 1921 aufgesetzter Vertrag mit mehreren Paragrafen, eine Taschengeldregelung betreffend, wurde „zwischen Herrn und Frau Eduard Weigel einerseits und Herrn Julius Hans Weigel“ mit einer Dauer bis 28. Mai 1921 abgeschlossen. Paragraf 7 regelte die Höhe des Taschengelds: „Herr Eduard und Frau Regine Weigel verpflichten sich ihrem Sohn J. Hans wöchentlich 4 hunderttheilige Einheiten Kc. K.ö. Francs etc. des Landes in dem er sich befindet als Taschengeld zu zahlen.“ Außer „in nur sehr dringenden Fällen“ sollte er im Gegenzug die materielle Hilfe seiner Eltern nicht in Anspruch nehmen, Federn, Hefte von diesem Geld bezahlen. Ansonsten durfte er ohne Abrechnung frei über sein Taschengeld verfügen.

      Schon dem Vater hatte er nach Russland berichtet, dass er Rätsel an Zeitungen schickte. Vom 2. Februar 1921 ist ein Beleg der Administration vom Verlag Der Morgen erhalten, dass der noch nicht Dreizehnjährige für einen in der Ausgabe vom 10. Jänner erschienenen Beitrag im Wiener Montagblatt ein Honorar von zwanzig Kronen erhalten hatte. Die mit Hans unterzeichnete Bauernregel war in der Spalte Vom Tage abgedruckt worden:

      Ist’s warm im Jänner wie im Lenz,

      Macht man passive Resistenz;

      Doch wenn sich Schnee und Kälte zeigt,

      wird wieder irgendwo gestreikt!

      Da Hans Weigels Großvater, wie bereits erwähnt, gläubiger Jude war, wollten Hans’ Eltern, die selbst keinen Wert auf eine Bar-Mizwa legten, diesen nicht kränken, denn diese Bar-Mizwa seines einzigen Enkels mit Namen Weigel war für ihn bedeutsam. Hans lernte beim alten Herrn Bassel, Rabbiner des Tempels in der Siebenbrunnengasse, ganz mechanisch eine Textstelle aus dem Buch Jeremias auf Hebräisch vorzulesen. Rund um seinen 13. Geburtstag im Mai 1921 wurde Hans Weigel also Mitglied der jüdischen Gemeinde, erhielt den Namen Israel. In seiner Autobiografie schilderte er seine Bar-Mizwa: „,Bocher Jistoel‘,

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