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würde, und beklagte, dass die Post so lange unterwegs sei und oft gar nicht komme.

      Hans benachrichtigte den Vater von seinem Ferienaufenthalt in Böhmen, wo es ihm Freude bereitete, bei der Ernte zu helfen, und von den vielen Büchern, darunter auch drei von Jules Verne, die er zum Geburtstag erhalten hatte. Auch das Münzen- und Markensammeln hatte er angefangen. Die Briefe und Karten an seine Mutter, die sich eine Woche Urlaub auf dem Semmering gönnte, sind jedoch viel herzlicher, während die an den Vater einen eher respektvollen Ton anschlagen.

      In der letzten Volksschulklasse bekam Hans eine Lehrerin, auf die er sich schon gefreut hatte, da sein alter Lehrer „fad war“. Er bekam viel „Lob und Auszeichnungen in Hülle und Fülle“ und bezeichnete sich dem Vater gegenüber als „Musterknabe“. Seine Fantasie war für sein Alter von neuneinhalb Jahren erstaunlich: Er erfand Rätsel, die er an abonnierte Zeitungen schickte, auch wenn noch keines veröffentlicht wurde. Drei Beispiele davon sandte er dem Vater als Scherzfragen in seinem Brief vom 13. Dezember 1917:

      1. Wer hat die meisten Verehrer und ist doch schon eine Mutter. (Die Natur.)

      2. Das Zweite kommt als erstes in den Magen; im ganzen muß der Kurzsichtige sein Augenlicht tragen. (Futteral) und ein Rebus:

      Zu Weihnachten bekam Hans wieder viele Bücher, darunter Rudyard Kiplings Dschungelbuch, Durch Wille zum Erfolg von Georg Biedenkamp, Sagen und Geschichten aus Wien und Das Nibelungenlied von Eduard Bürger, sowie eine Karte – Logensitz – für eine Lesung von Otto Tressler im Großen Musikvereinssaal, von der er seinem Vater natürlich erzählte: „Er las sehr schön vor und zwar: die Teufel auf der Himmelswiese, Dornröschen. Aschenputtel und das Märchen von einem, der auszog, um das Fürchten zu lernen von Grimm und eine Lausbubengeschichte von Thoma (ersteres ist von Baumbach) ich unterhielt mich dabei sehr gut.“

      In seinem bereits erwähnten „Konzert- und Theater-Merkbüchlein“ ist als einzige Anmerkung der Saison 1917/​18 als Nachtrag nach der Saison 1918/​19 nur eingetragen: „Zwei Märchen-Vorlesungen von Tressler – Gr. Musikvereinsaal – I. Loge, II. Pat. [statt der Termine die Sitzplätze] – Märchen, Gedichte, Lausbubengeschichten sehr hübsch; jedoch etwas zu klein dazu.“

      Mehr als ein Jahr nach dem Tod von Regine Weigels Mutter, Katarina Fekete, zog ihr Bruder Albert mit seiner Frau Trudy – davor seine Sekretärin – von der Schweiz nach Wien. In der Zwischenzeit hatte Regine Weigel das Geschäft geführt. Wenn Hans in seinem Briefchen an die Mutter vom 4. August 1917 sie mit „Prokuristengattin dzt. Stelle Chefin“ bezeichnete, zeigt dies, wie stolz er auf sie war. Albert Fekete übernahm nun die Leitung des Versandhauses und ließ den Zentralversand auslaufen, um vornehmlich landwirtschaftliche Geräte zu führen. Dass er sich auch in die Erziehung von Hans einmischte, trug ihm dessen Ablehnung ein: „Ich habe ihn nicht gemocht, wir waren jahrelang verfeindet.“23 Auch seine Frau Trudy blieb Hans in schlechter Erinnerung, denn noch 1980 schrieb er über sie: „Eine kluge und witzige Freundin meiner Mutter, Frau Hedwig Freund, war, wie wir alle, unglücklich darüber, dass mein Onkel eine Frau geheiratet hatte, die unpünktlich und untüchtig fast bis zur Lebensunfähigkeit war.“24

      Zudem rief auch das bereits erwähnte Französisch sprechende Kindermädchen Ella Specht durch kleinbürgerliche Beschränktheit Hans’ Unmut hervor, die der Zehnjährige in einem Pamphlet aufs Korn nahm:

      Ich geb dieses Büchlein heraus.

      Ich halte es nimmer aus.

      Vor lauter Qual von diesem Menschen hier

      Den ich hiemit bringe auf Papier

      Der Verfasser Hans Weigel

      (verfaßt im Jahre 1918)

      Zur Beachtung.

      Ella Specht ein tierisches Wesen aus dem Geschlechte homo bestialus schimpfe ich mein Fräulein und leider Gottes ist sie es.

      Sie hat folgende schlechte Eigenschaften: Sie kann Französisch, Englisch und Wienerisch und was ihr sonst noch im Verkehr mit Gebildeten aufstößt spricht sie in einer dieser Sprachen.

      2. Wenn ich 2 Worte gesagt habe, ist ihr die Sache schon zu kompliziert, und sie sagt: Schweig, mit dir wird man ja nie fertig.

      3. Sie ist ungebildet im höchsten Grade. Wie schon bemerkt, kann sie einem nicht 3 Worte sprechen lassen. Wenn man mit einem Wort anfängt, das ihr nicht geläufig ist (z. B. Deutschösterreich, Republik u.w.) sagt sie: „Du hör mir damit auf. Dazu bin ich zu ungebildet.“ Und das ist sie.

      Meiner verblendeten Mutter gewidmet. Ella Specht ihr Leben und ihre Missetaten. Ein Büchlein zum Lachen aber auch zum Weinen.

      Von Hans Weigel sXX, schlimm […]25

      Und dann zählte er auf wenigen Seiten einige der „Untaten“ auf, die er ihrer Dummheit anrechnete, etwa wenn sie, zu spät kommend, als Entschuldigung hervorbrachte, ihre Uhr müsste schlecht gehen – und dabei habe sie gar keine Uhr, oder sie schwärmte am Markt eine prachtvolle Kalbsbrust gesehen zu haben, die sie aber dann in der Kriegszeit, wo es so wenig gab, nicht kaufte. Gegen Ende klagte er an: „Ich führte es nicht zu Ende, da der Zweck, den es bezweckte, sich auf unblutigere Weise erreichen lies. – Nun ist sie dahingegangen wo sie mehr Lohn bekommt. Das Schlagen mit der Faust ins Auge, mit dem Stock ins Auge hat aufgehört. Aber noch aus dem Grabe würde ich (wenn ich könnte) rufen: J´accuse!! Weigel.“26

      Auch in seiner Autobiografie widmet der erwachsene Hans Weigel ihr noch eineinhalb Seiten: „Ich komme […] nicht um die Phrase ‚Sie war eine gute Seele‘ herum […], aber mir nicht gewachsen. Sie war einfältig. […] Einmal, als ich schlimm war, sagte sie: ‚Schade, dass deine Mutter mir verboten hat, dich zu schlagen, sonst würdest Du jetzt eine Ohrfeige bekommen.‘ Ich sagte: ‚Mir hat sie das Schlagen nicht verboten‘ – und schlug die Frau Specht. Da meine Mutter meine Mutter war, musste sie lachen, als Frau Specht ihr empört über den Vorfall berichtete. Mein Hauptzorn gegen Frau Specht flammte auf, als einmal ein sehr merkwürdig aussehender Herr ganz in unserer Nähe auf einem Sessel im Volksgarten Platz genommen hatte. Auf dem Heimweg erst sagte sie mir, dass dies Herr Peter Altenberg gewesen war, und ich wütete, weil sie mir’s nicht gleich gesagt hatte, denn dann hätte ich ihn ja viel genauer betrachtet.“27 Erstaunlich für einen Zehnjährigen an der Schwelle zum Gymnasium, dass er damals schon wusste, welche Bedeutung Peter Altenberg in Wien hatte.

      Auch wenn er es wollte, konnte Hans Weigel der Volksschule nicht dankbar sein, denn trotz „Handfertigkeitsunterricht“ blieben seine Hände ohne Fertigkeit, er, der Musik auch später über alles liebte, lernte nicht singen, nicht zeichnen. Diese Schule besuchten bürgerliche Kinder, sodass er nie das Wienerische wirklich erlernte. Er empfand das später als arges Manko und seufzte in seiner Autobiografie: „Komisch, dass eine sozialdemokratische Schule mir das angetan hat.“28

      Jedoch hatte Weigel etwas wesentlich Wichtigeres in den ersten Jahren seines Lebens mitbekommen. Der Komponist und Musikpädagoge Herbert Zipper erzählte in einem Interview von der großartigen Erziehung, die er – um vier Jahre älter als Weigel – ebenfalls erhalten hatte: Er und seine Geschwister waren so wie Hans Weigel, mit dem er in den Dreißigerjahren an den Wiener Kleinkunstbühnen zusammenarbeitete, in einem jüdischen Haushalt Jahre vor dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen. In seinem Elternhaus wurde Kunst, vor allem Musik – ähnlich wie in Hans Weigels Familie – hochgehalten. „Diese Erziehung“, sagte er in einem Interview im Oktober 1989, „hat uns geholfen, all die Tragik, alle diese Schwierigkeiten, alle diese entsetzlichen Dinge, die wir [als Juden im KZ und als Emigranten] mitgemacht haben, mit Leichtigkeit zu überwinden. Weil uns vom ersten Tag an ein Vorbild gegeben wurde, was wirklich wichtig ist. Ich bin überzeugt, dass alle, die in der ganz frühen Kindheit das Privileg einer großartigen Erziehung hatten, viel besser mit dem Leben fertig werden als die anderen.“29 Diese Ansicht trifft ebenso auf Hans Weigel zu, denn auch er genoss – im selben Milieu wie Zipper aufgewachsen – dieses „Privileg einer großartigen Erziehung“ in der ganz frühen Kindheit.

      Die vier Volksschuljahre haben Hans Weigel jedoch nicht so „wehgetan“ wie die folgenden

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