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bevor irgendjemand mit Zählen beginnen konnte, hallte schon ein weiterer Schuss durch das Dunkel. Dieser aber klang deutlich anders – wie ein dumpfer, lauter Silvesterkracher. Gleichzeitig war es kurz blitzhell in dem Mercedes geworden, dann schien es, als würde dieser brennen. In Sekundenschnelle umhüllten Rauchwolken den Wagen.

      Flutlichter gingen fast gleichzeitig wie aus dem Nichts an und setzten den Mercedes in ein gleißendes Licht.

      Sibold sah, wie die beiden Türen aufflogen und die beiden jungen Männer hustend und keuchend aus dem Wagen flüchteten. Sie hielten ihre Hände schützend vor ihre Augen und bewegten sich, als wüssten sie nicht, wohin sie liefen.

      Sibold sprang über die Leitplanken aus seiner Deckung.

      Doch bevor er bei dem Wagen angekommen war, standen auch schon Polizeibeamte mit schusssicheren Westen und mit Maschinenpistolen im Anschlag neben ihm. Sie warfen die jungen Männer zu Boden und fesselten sie mit Plastikbändern an Armen und Beinen.

      Der Einsatzleiter kam hinzu, hob Sibolds Jägerhut von der Straße auf und setzte ihm diesen auf den Kopf: »Du hast dir die Krönung heute verdient.«

      Svens Waffe sowie Goldbarren, einige Edelsteine und Bargeld im Kofferraum des Mercedes wurden sichergestellt. In der Bilanz des Polizeiberichts stand noch am selben Abend in korrektem Beamtendeutsch: Hoch steuerbare Waren: Gold-/Silbermünzen im Wert von circa drei Millionen Euro; Schmuck im Wert von circa 800.000 Euro; und unter der Rubrik Bargeldaufgriffe war ein Wert von rund zwei Millionen Euro angegeben, aufgeteilt in verschiedene Währungen.

      Kapitel 3

      Der freie Journalist Leon Dold las die Polizeimeldung an seinem Bildschirm in seinem Büro in Überlingen. Er hatte für Eilmeldungen ein akustisches Signal auf seinem PC installiert. ›Zwei Zöllner nach Schießerei verletzt, einer schwebt in Lebensgefahr‹. Kurz überlegte Leon Dold, ob er mit seiner Kamera losziehen sollte. Doch am Tatort war für ihn, das war klar, nichts mehr zu sehen. Die Polizei lud am Ende der Pressemitteilung zu einer Pressekonferenz ein. Aber was sollte er dort?, fragte er sich. Für die Kollegen der lokalen Medien wie dem Südkurier würde es morgen der aktuelle Aufmacher sein. Zwei verletzte Zöllner, einer in Lebensgefahr, ein Kofferraum voller geschmuggelter Schätze. Das war der Stoff, von dem die Tageszeitungen tagelang leben würden. Aber für ihn, als freier Journalist, brachten solche Storys nicht viel ein. Diese Geschichten übernahmen die festangestellten Mitarbeiter der Medien. Journalisten, die im Tagesablauf der aktuellen Redaktionen integriert und jederzeit einsatzbereit waren. Das war er nicht. Er produzierte meist längere Storys, Features genannt. Er recherchierte intensiv, investigativ und gründlich. Deshalb notierte er sich die Polizeimeldung zunächst nur im Kopf – als Anregung für den eventuellen Einstieg in eine Reportage über den letzten Grenzzaun im Herzen Europas. Die Geschichte hatte er gerade jüngst wieder verschiedenen Sendern vorgeschlagen. Eine Reise entlang des Zauns sollte der rote Faden für eine halbstündige Fernsehreportage sein. Er hatte das Exposé dem Regionalprogramm angeboten sowie dem ZDF. Schließlich sei diese Staatsgrenze zwischen der Schweiz und Deutschland heutzutage, in Zeiten der weltweiten Globalisierung, irgendwie ein Anachronismus, hatte er argumentiert. Die Schweiz, sie war in sämtlichen Gremien der EU vertreten, trotzdem aber nicht ordentliches Mitglied der EU.

      Wer von Singen nach Schaffhausen fährt, benötigt noch immer einen Pass, als Deutscher zumindest einen Personalausweis. Ausländer aber brauchen einen Reisepass, schließlich verlassen sie die EU. Dagegen kann längst jeder ungehindert von Singen bis nach Lissabon fahren, ohne sich auch nur einmal auszuweisen. Vor allem amerikanische Touristen staunen über die deutsch-schweizerische Grenze. Sie fragen sich, wo sie denn nun gelandet sind? Von wegen good old Europe.

      Die grenzfreie Fahrt von Singen nach Schaffhausen war seit 1548 vorbei. Damals verabschiedeten sich die Eidgenossen aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, und seither sind Singen und Schaffhausen Grenzstädte. Endgültig festgezurrt hat Napoleon diese Grenze, nicht etwa Wilhelm Tell. Dieses Märchen, von dem Schwaben Friedrich Schiller geschrieben, glauben nur die Schweizer selbst. Tatsache ist, dass Napoleon nach französischem Vorbild den Zentralstaat Helvetische Republik schuf und die Grenzen dafür endgültig festlegte, wie sie heute noch gelten. Aus seinen französischen Departements wurden schweizerische Kantone, Schaffhausen war einer von ihnen.

      Leon überlegte, wie er den Themenvorschlag aktualisieren könnte. Keine Redaktion, der er die Geschichte bisher angeboten hatte, schien sich dafür zu interessieren. Mit einer lässigen Handbewegung verscheuchte er die miesen Gedanken und schloss das aktuelle Nachrichtenfenster auf dem Bildschirm seines PCs.

      Er hatte anderes zu tun, er musste sich jetzt konzentrieren: ›Es werden festgesetzt, Sonderausgabenpauschbeträge, abziehbare Sonderausgaben …‹ Leon stöhnte. Doch einmal im Jahr musste er in diesen sauren Apfel beißen. Er saß in seinem Büro, in einer Überlinger Altstadtvilla, über der Einkommensteuer: Tankquittungen, Übernachtungsbelege, Parkhausquittungen galt es zu sortieren. Es war schon November, und das seit elf Monaten vergangene Vorjahr war von ihm noch immer nicht steuerrechtlich aufgearbeitet worden.

      Er tippte in seine Fahrtentabelle: Überlingen–Zürich, 108 Kilometer. Er schrieb dazu: Recherche wegen Titelhandels, das war für eine Dokumentation der ARD, die er im vergangenen Jahr abgedreht hatte. Dabei fiel ihm ein, dass er damals in einer stinkvornehmen Zürcher Bank einen alten südafrikanischen Krügerrand verkauft hatte. Den Krügerrand hatte er von seinem Opa geerbt. Doch Leon brauchte immer eher Geld als Geldwertereserven. In Zürich hatte er den Krügerrand in einer Bank umgetauscht, weil er dort für ihn mehr Geld bekommen hatte als in Deutschland.

      Gold hatte in der Schweiz einen höheren Kurs. Jeder Schweizer sollte Gold als Geldanlage besitzen, rieten die Schweizer Banken ihren Kunden. 20 Prozent der Ersparnisse sollten in Gold angelegt sein, empfahl eine Bankenstatistik der Schweizer Kredithäuser.

      Leon erinnerte sich an das Geld, das ihm der Krügerrand eingebracht hatte. Es waren rund 300 Euro. Die Frage, ob er dieses Geld als Einnahme des vergangenen Jahres in seiner Steuererklärung nun angeben müsste, stellte er sich lieber nicht. Dafür fragte er sich jetzt, ob er damals geschmuggelt hatte. Er hatte das Gold aus Deutschland in die Schweiz ausgeführt. Plötzlich wurde er unruhig. Nicht wegen der 300 Euro, die waren längst wieder im Umlauf. Aber er hatte Gold ausgeführt in die Schweiz, weil er wusste, dass dessen Wert in der Schweiz höher notiert war. Und in der Pressemeldung der Polizei war von zwei jungen Männern berichtet worden, die Gold aus der Schweiz nach Deutschland hatten schmuggeln wollen. Und das im Wert von drei Millionen Euro. Eine Summe, die sich in der Schweiz umzutauschen proportional um ein Vielfaches mehr lohnen würde als sein läppischer Krügerrand!

      Plötzlich erkannte er das Rätsel: Warum wollten die beiden jungen Männer so viel Gold aus der Schweiz schmuggeln, wo doch der Wert für Gold in der Schweiz höher lag?

      Leon schob die Steuerunterlagen von seinem Tisch, griff nach einem Telefonbuch und rief einen Freund bei der Überlinger Volksbank an. Dieser bestätigte ihm, dass der Kurs von Gold an der Zürcher Börse immer höher notiert sei als in Frankfurt bzw. in der EU. »Nur ihr Fränkli haben wir geschlagen«, lachte er hämisch, »für unseren Euro müssen die Chaibe jetzt das Eineinhalbfache hinblättern.«

      »Dafür bekommen sie die bessere Schokolade«, brummte Leon und legte schnell wieder auf, bevor sein Bankkumpel ihn noch an seinen, bis auf den letzten Cent ausgenutzten, Überziehungskredit erinnern konnte.

      Aber damit war Leon wieder bei seinem eigentlichen Thema gelandet: die Steuererklärung des längst vergangenen Jahres. Wenn er endlich die zwölf Monate aufgearbeitet hätte, würde er sicherlich Geld vom Finanzamt zurückerstattet bekommen. Trotzdem wählte er die Telefonnummer des Zolls in Singen und ließ sich mit der dortigen Pressestelle verbinden.

      Ein freundlicher, aber wortkarger Herr wollte ihn zunächst abwimmeln: »Wir haben zu diesem Fall in einer Stunde eine Pressekonferenz angesetzt. Da wird Sie unser Chef persönlich informieren.«

      »Kann er uns auch schon etwas zu dem Motiv sagen?«, fragte Leon schnell, noch bevor der Pressesprecher wieder auflegen konnte.

      Der Mann lachte: »Geld, was denn sonst? Immer das Gleiche, wir haben es hier nur

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