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      Bevor er zur Deutschen Reichsbahn kam, hatte er in der Schweiz das Metzgerhandwerk erlernt. Als Hausmetzger wurde er heute von den Bauern rund um Singen engagiert, die meisten deutschen Metzger waren längst an der Front.

      Joseph Stehle war von Geburt an Schweizer Staatsbürger. Er war in Thayngen, einem kleinen Grenzort zwischen Singen und Schaffhausen, geboren. Nach der Volksschule ging er mit 14 Jahren in Schaffhausen in die Lehre. Mit 17 Jahren, 1933, begann er in Singen in der Schweizer Firma Maggi zu arbeiten. Dort lernte er seine deutsche Frau kennen. Sein Schwiegervater holte ihn zur Bahn. Schon zuvor, noch in der Schweiz, hatte er zu ›hitlere‹ begonnen. Mit dem Eintritt in die NSDAP wurde er Schaffner bei der Deutschen Reichsbahn, diese Stelle hatte er der Partei zu verdanken. Das wusste Stehle, und dafür war er auch immer bemüht, ein ordentliches Parteimitglied zu sein.

      Es war in den Kriegsjahren genau zugeordnet, welcher Bauer wie viel Vieh schlachten durfte. Im Gäu war bekannt: Wer Joseph Stehle engagierte, der musste saubere Papiere haben. Krumme Geschäfte, das hieß Schwarzschlachtungen, machte dieser Mann nicht.

      So kannte man Joseph Stehle: ein aufrechter Mann, überzeugter Nazi, ehrlich und Gradlinig.

      Ferdinand Alber hatte deshalb den Schaffner als Metzger engagiert. Er selbst war nicht in der Partei und musste aufpassen, nicht angeschwärzt zu werden. Mit Joseph Stehle als Hausmetzger hatte man die Denunzianten auf seiner Seite.

      Ferdinand Alber war wieder aus dem Schopf gekommen und sah der Staffel kritisch nach. Dann schaute er Stehle an und schluckte. Nein, dachte er, diesem Mann darf ich meine Gedanken nicht anvertrauen. Für sich aber beschloss er, baldmöglichst dieses überdimensionale Hakenkreuz an seinem geliebten Hohentwiel, das die Nazis der Maggi-Stadt dort hingemalt hatten, zu überstreichen. Schließlich, so dachte er: Man musste den Fliegern doch nicht schon von Weitem zeigen, wo Nazis wohnten, das provozierte doch nur deren Bombenabwürfe. Natürlich dachte er dabei auch an sich und seine Familie und seinen prächtigen Hof.

      Joseph Stehle hatte ihn von der Seite beobachtet. Er schien seine Gedanken zu erraten und riet ihm fast drohend: »Alber, sei du froh, dass du auf deinem Hof bleiben durftest, während andere an der Front ihren Kopf hinhalten. Benimm dich wie ein deutscher Mann. Glaub standhaft an unseren Endsieg, und jetzt hol das Tor, dann können wir die Sau hochziehen.«

      Die Schwarte des Schweins war glatt rasiert. Das Tier lag schlachtbereit in der Wanne, die Halsschlagader war geöffnet. Die beiden Männer stellten einen stabilen Rahmen über den Zuber. Vom Oberbalken hingen je zwei Enden eines Seils herunter. Stehle band an jedes Ende eine Hinterhaxe des Schweins. Dann zogen sie gemeinsam das Seil über die Winde. Kopfüber hing das Schwein in der Wanne. Blut rann noch immer aus dem tiefen Schnitt der Halsschlagader.

      Fränzle, der Sohn des Gutsbauern, hielt mit der linken Hand eine Schüssel unter den Kopf des Tieres und fing das restliche Blut auf. Mit der rechten Hand rührte er in der roten, warmen Flüssigkeit, damit das Blut nicht klumpte.

      »Fränzle, du wirsch mol en rächte Kerle«, lobte ihn der Metzger, »dir mach ich nachher eine extra Blutwurscht.«

      Fränzle hörte das Lob gerne, gerade von diesem Mann, vor dem die Erwachsenen einen Heidenrespekt hatten, warum auch immer. Zu ihm, und auch zu den anderen Kindern, war er immer nett. Eine Extrawurst für ihn allein, das hätte ihm sein Vater nie gegeben. Und er wusste, danach bekam er von diesem Metzger auch noch ein Stück vom Apfelkuchen dazu. Seine Mutter musste immer zum Schlachttag einen großen Kuchen für den Metzger backen. Denn Joseph Stehle aß, wenn alle sich über die Wurstsuppe und die frischen Würste hermachten, am liebsten süßen Kuchen. Und wenn Stehle ihm dann ein Stück von dem Kuchen abgab, dann konnten seine Eltern diesem Mann nicht widersprechen.

      ›Stalin‹ nannten die Erwachsenen Stehle hinter dessen Rücken. Das musste ein ganz besonderes Schimpfwort sein. Die großen Leute sahen sich dabei verstohlen an. Fränzle schmunzelte dann mit den Alten, fragte sich aber, was dieser kinderfreundliche Metzger mit diesem bösen Mann in Russland gemein hatte, der Krieg gegen sie führte.

      *

      »Well, Stalin, du wirst nicht mehr lange leben, wenn du nicht dein Geld uns überlässt!«

      Joseph Stehle lag blutverschmiert auf dem Rücken. Ihn hatte es mit seinem ganzen Körpergewicht auf die Schotterstraße geschlagen. Das rechte Knie tat ihm höllisch weh, er schmeckte Blut, und zu allem hin stand ihm dieser amerikanische Agent mit dem Absatz auf der Gurgel. Er konnte sich kaum bewegen, nicht einmal seine Blessuren betasten. Er lag hilflos wie ein Marienkäfer auf dem Rücken.

      Er war vom Randen mit seinem Fahrrad weggefahren. Es war schon dunkel gewesen. Links und rechts an seine Lenkstange hatte er zwei Eimer mit Wurstsuppe gehängt. Die Suppe hatten die Albers ihm aus einem großen Kessel abgefüllt, dazu noch jeweils zwei Blut- und zwei Leberwürste beigegeben. Er hatte sich auf die strahlenden Augen seiner Frau gefreut und vor allem auf Medi, seine kleine Tochter. Das würde morgen ein Sonntagsessen geben. Schlachtplatte!

      Plötzlich hatte es gekracht, sein Rad hatte abrupt gestoppt und ihn abgeworfen, wie ein störrischer Esel seinen Reiter. Er war mit dem Kopf voraus über die Lenkstange zu Boden gefallen. Sein Gesicht war auf die Schottersteine geknallt, er hatte sich noch in der Wucht des Falls auf den Rücken gedreht, aber schon war der Stiefel hart und rücksichtslos auf seinen Hals getreten.

      Joseph Stehle hatte im Flug an alle gedacht, an alle, die ihm Böses wollten. Vor allem an Luise Levy und Katharina oder anonyme Mitwisser, die doch von einem der beiden Weiber informiert worden waren.

      Auf dem Boden gelandet, öffnete er sofort die Augen und erkannte im Gegenlicht des Mondes, über den ledernen Stiefeln, diesen Bürstenhaarschnitt. Gleichzeitig hörte er die Stimme mit diesem englischen Akzent: »Good evening, Mister Stehle«, lachte John Carrington, »Glück für Sie, dass Sie heute nicht in Schaffhausen waren. Sonst hätten wir uns jetzt vielleicht gar nicht mehr treffen können.«

      Stehle hechelte. Er bekam kaum Luft. Er roch das Fett der Lederstiefel, wollte antworten, schluckte Blut, versuchte, sich freizustrampeln.

      Carrington lachte und drückte seinen Stiefel tiefer in den Hals des unter ihm liegenden Stehle.

      Der fasste an den Stiefel, wollte ihn wegdrehen.

      Carrington verstärkte erbarmungslos den Druck auf den Gurgelknopf.

      Stehle musste würgen, bekam keine Luft mehr und legte schnell, als Zeichen seiner Unterwerfung, beide Arme weit von sich, flach auf den Boden.

      »Okay«, klang die Stimme des Amerikaners versöhnlich, und gleichzeitig löste er den Druck seines Stiefels leicht.

      Stehle konnte wieder Luft in die Lunge einziehen.

      Carrington wartete geduldig, bis der Angegriffene sich erholt hatte. Dann legte er los: »Ich weiß nicht, ob dein Komplize Wohl die Bomben überlebt hat. Vielleicht ja, vielleicht nein. Spielt aber keine große Rolle, es sollte eine Warnung für dich sein.«

      Carrington hielt inne, zog eine Zigarette aus seinem Trenchcoat und zündete sie an. Die Flamme züngelte in der Dunkelheit, er inhalierte den Rauch tief und ließ dann das noch brennende Streichholz achtlos auf Stehle fallen. Er unterstrich damit seine Furchtlosigkeit und Überlegenheit.

      Mit ruhiger Stimme fuhr er fort: »Stalin, hör zu: Es ist keine Frage mehr, dass ihr Deutschen den Krieg verloren habt. Die Frage ist nur, wer ihn gewinnt. Wir oder Stalin.« Dann lachte er auf: »Ihr Deutschen habt ja doch Humor. Dass sie dich Stalin nennen, ist wirklich lustig. Gerade du, der du doch Stalin hasst. Aber es stimmt. Freundlich gesagt, bist du sehr Gradlinig, korrekt und kompromisslos, wie deine Kollegen dich kennen. Aber wir beide wissen, du hast ganz andere Gemeinsamkeiten mit ihm: Du bist skrupellos und gehst über Leichen, genau wie Stalin.«

      Stehle wollte etwas erwidern, aber seine Worte gingen über ein Gurgeln nicht hinaus, Carrington hatte den Stiefeldruck schnell wieder erhöht.

      Er fand sichtbaren Gefallen an seiner Siegerpose. Er inhalierte nochmals tief den Rauch der Zigarette, blies ihn kräftig aus der Lunge und kam dann zu seinem Anliegen: »Wir denken an morgen. Der Sieg über die Nazis ist entschieden. Aber

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