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sich den Knebel aus dem Mund, während die beiden dunklen Gestalten schnell vor dem stellvertretenden Bürgermeister salutierten: »Herr Bürgermeister, Hauptmann Keller erwartet Sie!«

      Die beiden Singener wurden auf deutschem Boden von den beiden Schweizer Soldaten in das deutsche Gasthaus Frohsinn geführt. Eine kleine Schweizer Abordnung saß um den verwaisten Stammtisch.

      »Oberlüfzgi, die Abordnung aus Singen«, meldete einer der Soldaten.

      Stehle tat noch immer der Unterkiefer weh, der Schweizer Soldat hatte ihm den Mund mit Gewalt aufgerissen. Auch die Wange schmerzte von dem Schlag ins Gesicht. Trotzdem spürte er davon nur wenig. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. In der Runde im Gasthaus Frohsinn saßen mit den Militärs zwei alte Bekannte: John Carrington und der Mann, der sich bei dem letzten Treffen in Schaffhausen, im Bankhaus Wohl & Brüder, als ein Vertreter der Bankenaufsicht ausgegeben hatte. Stehle stand vor Staunen der Mund offen.

      »Welcome, Mr. Stehle, ich sehe, wir haben uns in Ihnen nicht geirrt.« John Carrington schien gut gelaunt. »Sie haben schnell begriffen«, schmunzelte er.

      Der ranghöchste Schweizer Militär der Runde, vorgestellt hatte er sich als Hauptmann Keller, legte seine Hand auf Carringtons Unterarm. »Nöd jetzt«, unterbrach er ihn besänftigend. Er sah besorgt aus. Dann begrüßte er förmlich den Bürgermeister, aber auch Joseph Stehle.

      Danach wurde den beiden Deutschen ein Platz in der Runde angeboten. Einer der Soldaten, die abseits standen, stellte einen Picknickkorb auf den Tisch. Schweizer Schüblinge, Schaffhauser Falken-Bier und Bierli, Schweizer Brötchen, bot der Hauptmann der Runde an. »Schämpis hämmer nöt, aber nömmäd«, lud er die Singener Abordnung ein zuzugreifen.

      Der Bürgermeisterstellvertreter ließ sich nicht zweimal bitten, er hatte Hunger und langte zu. Stehle dagegen griff an seinen Unterkiefer und schob ihn mit seiner Hand sanft hin und her.

      Währenddessen kam der Hauptmann ohne Umschweife zu seinem Anliegen. In erster Linie wandte er sich an den Bürgermeisterstellvertreter: »Wir sind eine kleine Abordnung und sprechen hier mit Ihnen im Auftrag höhergestellter Herren. Sie, in Ihrer Position, und wir, die Schweiz, haben die gleichen Interessen. Wir haben gehört, dass Sie sich über den Ausgang des Krieges keine Illusionen mehr machen. Im Interesse Ihrer Stadt sollten Sie deshalb für ein möglichst baldiges Ende der Kampfhandlungen einstehen. Wir wissen von neuen geplanten Bombardements vonseiten der Alliierten auf Ihre Stadt. Geben Sie auf! Verzichten Sie auf eine weitere Verteidigung Ihrer Stadt. Nur so können Sie den Verlust weiterer Menschenleben und Leid verhindern.«

      Der stellvertretende Bürgermeister schluckte das Stück Wurst, das er gerade abgebissen hatte, Stehle dagegen schluckte trocken. Ihm war klar, dass die höhergestellten Herren in der Schweiz Angst um ihr Kapital in Singen hatten, so wie er Angst hatte um sein Kapital in der Schweiz. Die großen Betriebe, wie die Aluminiumwerke, die Georg-Fischer AG oder auch Maggi gehörten noch immer Schweizer Familien. Gerade die Maggiwerke hatten schon empfindlich unter dem Bombenhagel gelitten. Dabei produzierte Maggi schon seit 1887 unbehelligt im deutschen Singen. Der Frauenfelder Michael Johannes Julius Maggi hatte sein Werk in Singen gegründet, da die Stadt an das Eisenbahnnetz angeschlossen war. Allein dieser Verkehrsanschluss hatte auch weitere Schweizer Unternehmen lange vor dem Krieg in die Hohentwielstadt gelockt.

      Joseph Stehle schielte zu seinem Bürgermeisterstellvertreter. Er war gespannt, wie sich dieser verhalten würde. Die Schweizer hatten gut reden. In Deutschland galt noch immer der unbedingte Glauben an den Endsieg. Wer sich dagegen aussprach, lebte gefährlich. Jedes Gericht verurteilte Zweifler wegen Wehrkraftzersetzung.

      Der Bürgermeisterstellvertreter räusperte sich. Er wirkte auf Stehle äußerst unsicher und sprach entgegen seiner sonstigen Gewohnheit sehr langsam. »Wir sind nicht alle verblendet, meine Herren. Ich weiß um meine besondere Verantwortung. Ich werde morgen den Volkssturm auflösen. In der Stadt gibt es auch schon die ersten Bemühungen von KPD-Mitgliedern, die auf ein Ende des Widerstands hinarbeiten. Ich habe mich auch mit den Betriebsleitern bei Maggi und der Alu unterhalten. Wir werden bereit sein, sodass ein Einmarsch der Franzosen ohne Gegenwehr so schnell wie möglich erfolgen kann.« Gegen Ende seiner Ausführungen versagte dem Bürgermeisterstellvertreter die Stimme. Niedergeschlagen griff er zu der Flasche Bier vor sich.

      »Wir wissen, dass wir auf Sie zählen können«, antwortete der Hauptmann laut, »veranlassen Sie alles Notwendige und achten Sie auf sich selbst.« Die Stimme des Hauptmanns senkte sich bedrohlich. »Wir haben Informationen, dass SS-Offiziere Sie auf einer Liste stehen haben.«

      *

      Der Bürgermeisterstellvertreter löste am nächsten Tag den Singener Volkssturm auf.

      Ferdinand Alber hisste mit einigen Genossen der KPD in der Nacht eine große weiße Fahne auf dem Hohentwiel.

      Am nächsten Morgen fanden Arbeiter den toten Bürgermeisterstellvertreter, aufgehängt an einem Baum neben der Alu. ›So geht es Verrätern‹, hatten die SS-Mörder auf einen Zettel geschrieben und an den Leichnam geheftet.

      Joseph Stehle verbrannte am selben Abend alle weiteren Hinweise, die ihn als NSDAP-Mitglied ausgewiesen hätten. Er schaute in die Flammen, diesmal mit Trotz und ohne Tränen, aber mit einer ungefähren Ahnung davon, wie mächtig seine neuen Freunde waren. Sie hatten von den weiteren Bombardements der Alliierten gewusst und auch von den Todeslisten der SS und sogar, dass der Bürgermeisterstellvertreter darauf stand.

      Sie hatten auch die Macht, ihm sein Geld wegzunehmen, davor fürchtete er sich am meisten.

      Kapitel 5

      »Wo haben Sie den Mercedes her?«

      »Woher stammt das Geld, das Sie in der Schweizer Bankgenossenschaft abgehoben haben?«

      »Wer hat Sie als Kurier eingesetzt?«

      »Wollen Sie uns weismachen, das alles sei Ihr Geld?«

      »Wollen Sie für Hintermänner einsitzen, die sich auf Ihre Kosten bereichern?«

      Horst Sibold war nach dem versuchten Mord an seinem Zollkollegen in die sofort gegründete Soko ›Goldmillionen‹ beordert worden. Die ganze Nacht hatten sie Sven und Bernd Vierneisel vernommen. Der silbergraue Mercedes, mit dem die beiden Brüder ihre Schmuggelaktion hatten durchführen wollen, war in keinem amtlichen Kfz-Register gemeldet. Die amtlichen Kennzeichen waren alle gefälscht, wie auch sämtliche Papiere. Am nächsten Tag aber hatte sich herausgestellt, dass die Seriennummer des Wagens echt war. Er war in Sindelfingen produziert, jedoch nach den Unterlagen des Daimlerwerkes mit einer bestellten Sammelflotte direkt nach Kroatien ausgeliefert worden. Nur die beiden Personalausweise der zwei Burschen schienen echt zu sein.

      Horst Sibold passte die rasche Vorgehensweise während den Ermittlungen der Kollegen nicht. Es herrschte ein für ihn unnötiger Zeitdruck. »Wir brauchen schnell ein Geständnis«, war jedoch der unmissverständliche Auftrag des Chefs. Ein Staatssekretär des Innenministeriums aus Stuttgart war schon am Morgen nach der Festnahme im Haus. Er hatte sofort am Vormittag dem angeschossenen Zollkollegen in der Hegau-Klinik einen Blumenstrauß überreicht. Natürlich waren die lokalen Pressefotografen alle geladen worden. Es gab Sekt und Butterbrezeln und die Mitteilung des Staatssekretärs: ›Der Beamte wird den Durchschuss überleben.‹ Die Kugel der beschlagnahmten Walther 6,5 hatte sich glatt durch seinen Bauch gebohrt. Glücklicherweise waren keine Organe und auch nicht die Wirbelsäule verletzt worden. Die Pistole trug nur die Fingerabdrücke von Sven Vierneisel, dem jüngeren Bruder der festgenommenen Schmuggler.

      Die beiden Burschen saßen in Haft, die Schmuggelware war sichergestellt, also bilanzierte der Staatssekretär, mit einem Glas Sekt in der Hand, vor der Presse: »Ein voller Erfolg der Sicherheitsorgane im Land.«

      Horst Sibold musste mit einigen Kollegen bei der Pressekonferenz im Krankenhaus anwesend sein. »Staffage für den Herrn Staatssekretär«, hatte er unlustig gemurmelt. Zu der Rede des Politikers verbiss er sich jeglichen Kommentar. Ein Kollege neben ihm sah ihm ins Gesicht. Auch er guckte sauertöpfisch. Sibold lächelte aufmunternd. »Du musst bei der Polizei schlucken lernen«, riet er ihm und griff statt zu einem Sektglas zu einem Glas Randegger

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