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sie, bis der Schließer das Fenster wieder verriegelt hatte, dann folgte auch er ihnen, drehte den Schlüssel dreimal um, und sie gingen gemeinsam ein Stockwerk höher vor die Zelle von Sven.

      Sibold spähte durch den Spion.

      Sven saß auf einem Stuhl. Er stierte stur vor sich hin.

      Sibold beobachtete ihn eine kurze Zeit. Dann ließ er die Zelle öffnen und trat mit seinem Kollegen ein.

      Sven Vierneisel war aufgestanden, stellte sich vor die beiden Beamten und starrte ihnen herausfordernd ins Gesicht.

      Eine knappe, unfreundliche Begrüßung von beiden Seiten eröffnete das Verhör. Sibold gab seinem Kollegen ein Zeichen, das heißen sollte, dieser habe mit seiner Art der Befragung zu beginnen.

      »Mordversuch an einem Kollegen! Da würde ich mir das gestohlene Gold und Geld nicht auch noch in die Schuhe schieben lassen, Herr Vierneisel. Wir haben die Pistole untersucht. Die Fingerabdrücke auf der Pistole sind mit den Ihren identisch. Dazu ein Kollege, der bezeugt, dass Sie geschossen haben. Da würde ich jetzt doch mal versuchen, einige Dinge zu klären, oder?«

      »Herr Kommissar«, lachte Sven frech, »das ist doch Ihr Job. Klären Sie mal auf, was Sie meinen klären zu können. Mein Anwalt wird Ihnen dann schon sagen, was wir davon halten.«

      »Interessanter ist für uns, was Ihr Bruder sagt.« Horst Sibold hatte keine Lust auf diesen coolen Typen und mischte sich voreilig ein. Er hatte sich am Morgen schon vorgenommen, die beiden Brüder gegeneinander auszuspielen. Das Gespräch mit diesem hartgesottenen Sven konnten sie sich sparen, da war er sich sicher. Also log er: »Ihr Bruder hält Ihr Spiel nicht aus. Er will aussagen. Er hat uns gebeten, zuvor nochmals mit Ihnen zu sprechen. Ihm wäre es lieber, wenn Sie mit Ihrer Aussage Ihre eigene Situation verbessern würden. Wenn Sie uns helfen, Ihre Hintermänner zu überführen, dann, das wissen Sie genau, können Sie mit Strafmilderung rechnen. Und das haben Sie verdammt nötig.«

      Sven winkte gelassen ab, drehte sich um und setzte sich auf sein Bett. Gelangweilt streckte er sich darauf aus.

      »Bernd wird morgen aussagen, das hat er uns versprochen«, drohte Sibold, »Sie haben jetzt noch bis morgen früh Zeit, Ihre Situation zu verbessern. Sie können uns jederzeit rufen lassen. Nützen Sie Ihre Chance, Herr Vierneisel, guten Tag.«

      Kapitel 6

      Leon Dold hatte schlecht geschlafen, er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Nachdem er gestern Abend nach der Pressekonferenz in Singen Lena belogen hatte, wollte er heute Morgen sofort zu ihr nach Taisersdorf fahren. Sie wohnte noch immer in dem alten Bauernhaus, inmitten des kleinen Ortes, auf den Höhen des Salemer Tals, wo er sie vor einem Jahr zum ersten Mal getroffen hatte.

      Leon schaute mürrisch aus seinem Fenster in Überlingen. Über dem See standen undurchdringliche Nebelschwaden. Er sah nicht einmal von seiner Wohnung aus, über den Finger des Überlinger Sees, bis zur anderen Uferseite. Im Sommer gab es über diese knappe Distanz von weniger als drei Kilometern öfter Schwimmveranstaltungen. Heute schien es, als würde das ›schwäbische Meer‹ am Horizont kein badisches Ufer haben; vielleicht drüben in Amerika, irgendwo weit weg.

      Leon fuhr gemächlich aus seinem Wohngebiet im Westen der Stadt über Owingen in die Höhen des Linzgaus. Er hatte es nicht eilig. ›Modern Times‹ von Bob Dylan lief von der CD. ›Thunder on the Mountain‹ stimmte ihn auf Lena in ihrem Bergdorf ein. Jeden Höhenmeter, den er sich mit seinem alten Porsche höher schraubte, klarte die Sicht auf. Der See liegt auf 390 Meter Meereshöhe, Taisersdorf auf 600. Mit ›Someday Baby‹ stand er vor ihrer Haustür. Hier lachte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, und die Rosen an der Hauswand blühten kräftig rot, als gäbe es unten am See keinen Herbstnebel und als hätte Petrus dieses Jahr den Novemberbeginn verschlafen. Es schien, als wollte es gar keinen Winter geben. Ein gutes Zeichen, hoffte Leon, blinzelte der Sonne zu und klingelte zögernd.

      Es dauerte, bis Lena öffnete. Dann sah er ihr blasses Gesicht, ihre farblosen Augen und ein Desinteresse in ihrem Gesichtsausdruck, wie er es noch nie zuvor an ihr gesehen hatte.

      Sie hatte sich ein Tuch um ihren kahlen Schädel gewunden, den sie sich selbst, als der Haarausfall vor vier Wochen begann, rasiert hatte. Sie lächelte gequält, ließ ihn in der offenen Haustür stehen und ging einfach zurück in ihr Schlafzimmer.

      Ihm hatte ihr Anblick einen tiefen Stich in sein Herz gegeben. Er war ihr in das Schlafzimmer gefolgt, öffnete die verschlossenen Fensterläden und erinnerte sich an die erste Nacht bei ihr.

      Lena hatte sich in ihr aufgewühltes Bett gelegt und schaute erwartungslos zu ihm. Sie war schon immer schlank gewesen, jetzt wurde sie mager. Ihre Augen waren tiefer in die Höhlen gekrochen, der Rand war schneeweiß, ihre Wangen glühten feuerrot. Er legte seine Hand auf ihre Stirn und sagte. »Eigentlich ganz normale Temperatur.«

      »Ja, Herr Doktor«, sie versuchte zu lächeln, »eigentlich. Wenn eine Chemo eigentlich ganz normal ist.«

      Leon biss sich auf die Zunge. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er musste jedes Wort auf die Goldwaage legen. Wenn er ihr positiv begegnen wollte, pochte sie auf ihr Leid, wenn er an ihrem Leid teilhaben wollte, wollte sie, dass er sie positiv aufmunterte.

      Er selbst war hin- und hergerissen, meist schmerzte es einfach nur, ihren Zustand auszuhalten, dann war er froh, wenn das Handy klingelte und er irgendwohin gerufen wurde.

      Er versuchte, ein bisschen Licht in den dunklen, trostlosen Schlafraum zu bringen, der ihn an schöne und liebestrunkene Stunden erinnerte: »Ich habe frische Brötchen dabei und mache uns einen Kaffee«, versuchte er das Thema zu wechseln.

      Lena nickte gleichgültig. Es war ihr weder nach Brötchen noch nach Kaffee zumute.

      »Einen Tee?«, versuchte er. »Du musst etwas essen«, bat er sie.

      Zum zweiten Mal lächelte sie ihm zu, aß aber keinen Bissen.

      Leon blieb noch eine Zeit lang, aber es kam ihm vor wie ein Absitzen. Jedes Gesprächsthema, das er anschnitt, wirkte irgendwie deplatziert. Er wollte aber über alles reden, nur nicht schon wieder über diesen Scheißkrebs. Trotzdem stand dieser immer zwischen ihnen.

      Früher war für ihn jeder Kurzbesuch bei Lena in Taisersdorf wie ein unbeschwerter Urlaubstag im Ferienparadies. Hier war er weit weg von all den Alltagsproblemen. Und an Krebs hätte er eh nie gedacht. Krebs? Das war eine Krankheit, mit der sich alte Leute herumschlugen. Aber er? Und dann noch Lena Rößler? Diese unbeschwerte Powerfrau mit ihrem ansteckenden unendlichen Optimismus.

      Lena Rößler war in sein Leben getreten, und sein Leben war von heute auf morgen anders. Manchmal war es ihm schon zu viel der Geigen am Liebeshimmel. Er war süchtig nach dieser Frau. Doch heute?

      Er versuchte, sie aufzumuntern, und versprach, sofort nach ihrer Chemotherapie mit ihr zu verreisen. »Wenn die Steuererklärung bis dahin geschafft ist«, scherzte er und versuchte damit den Absprung einzuläuten. Noch drei unverfängliche Sätze, dann floh er mit dem unverändert flauen Gefühl in seinem Magen und ihrem traurigen Gesichtsausdruck vor seinen Augen in sein Überlinger Büro.

      Zu Hause stellte er seinen alten Porsche vor der noch viel älteren Villa ab und sah Helma, seine noch ältere Vermieterin. Ihr Alter lag über dem des Porsches und der Villa zusammen. Der Porsche war jetzt 15 Jahre alt, die Villa war vor rund 80 Jahren gebaut worden, aber Helma topte alles, sie war schon 96 Jahre alt. Gemessen an seinem Porsche schien sie topfit. Nur ihr Gedächtnis zeigte Ausfallerscheinungen, und dies war noch geschmeichelt.

      Senta, ihr Berner Sennenhund, kam sofort auf ihn zugelaufen, das jüngste Wesen im Haus. Ihr Schwanz wedelte, und Leon wusste, dass das Tier ihn sofort bespringen würde, auch wenn er dies hasste. Aber er musste auf dem Weg in das Haus an diesem Hund vorbei. Erst vor einem halben Jahr war er in die Anliegerwohnung eingezogen, seither war er auch schon unfreiwillig Sentas bester Freund.

      Leon selbst war sofort in den morbiden Charme der schnörkellosen Villa verliebt gewesen. Vor allem hatte es ihm der Blick von seinem Arbeitszimmer direkt auf den See angetan. Ohne Lena wäre er an solch eine Wohnung nie gekommen, und Helma hätte ihn nicht einmal

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