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nicht mit ihm. Sie stemmte die Hände in die Hüften und stand breitbeinig da. Dann holte sie ein Kaninchen aus dem Korb, den sie mit sich trug. Mit großen Augen und um den Kopf gewundenen Zöpfen setzte sie sich neben den Hund, der mit zitternden Flanken auf dem gepflasterten Hof stand. Mit einem tiefen Grollen kam er näher und blieb in respektvoller Entfernung stehen. Das Mädchen wandte sich von ihm ab und streichelte gedankenverloren das Kaninchen.

      Der Hund witterte. Er roch etwas Milchiges, das im Vergehen begriffen war und die Robustheit des kleinen Wesens. Der Geruch hatte nichts Beunruhigendes, anders als der Gestank des Bauern nach Urin, saurem Schweiß und selbst gebranntem Fusel. Es war kein erwachsener Geruch. Kein Geruch nach Menschen, die Fußtritte austeilten und mit Steinen nach ihm warfen. Anscheinend hatte das Wesen keine Sprechstimme, auch wenn es über den Kopf des Kaninchens hinweg eine Melodie summte, die sich immerwährend wiederholte. Der Hund hörte das Summen und es machte ihn schläfrig. Er schmeckte den Geruch des Mädchens, das ihm den Rücken zudrehte. Er beobachtete angestrengt, was die Hand des kleinen Wesens mit dem Kaninchen machte. Die streichelnde Bewegung beruhigte ihn.

      Der Hund kam näher. Er war nicht gut genährt und sein Fell hatte noch nie eine Bürste gesehen. Er war ein Nutztier, das eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Mit den Bomben hatte sich die Lage verändert. Er war nutzlos geworden. Ein zusätzlicher Fresser, der keine Sicherheit garantieren konnte. Man hatte ihn an der Kette vergessen. Vergessen wie so viele andere.

      Das Mädchen würde ihn nicht vergessen. Der Hund stupste das Mädchen mit der Schnauze an und wich zurück. Eine kleine Hand suchte nach seinem Fell und begann ihn zu kraulen. Das Mädchen sah den Hund nicht an, als er sich mit einem Aufstöhnen neben sie legte. Sie brauchte ihn nicht anzusehen. Sie waren beide Kreaturen, denen das Leben nichts schenkte. Sie hatten sich gefunden.

      Die Kriegsgefangenen rochen anders. Sie bewegten sich auf unsicheren Beinen und immer im Laufschritt an dem Hund vorbei. Der Bauer sorgte mit einer Knute und seinem cholerischen Temperament dafür, dass sich die ausgemergelten Gestalten nicht ausruhten. Die unrasierten Gesichter trugen ihr Schicksal eingekerbt in ihrer Haut. Sie verrichteten ihr Tagwerk mit stumpfen Augen. Nachts schliefen sie im Stall. Dann tuschelten sie miteinander. Der Hund verstand nicht, aber er konnte die Sehnsucht in ihrem schlechten Atem riechen und ihre Resignation, wenn sie auf die Hakenkreuzfahne blickten, die der Bauer an jedem Morgen hisste, nachdem man ihn zum Ortsbauernführer gewählt hatte.

      Die Aufgabe des Hundes war es, nach den Fersen der Zwangsarbeiter zu schnappen, sein Fell zu sträuben und zu geifern, bis es der Bauer vor Erheiterung nicht mehr aushielt und er damit herausplatzte, dass sein Hund besser sei als zehn Russen. Dann bekam der Hund zur Belohnung einen Brocken hingeworfen, um den ihn die Russen beneideten. Er schlang ihn hinunter und machte sich wieder an seine Aufgabe. Die Russen taten es ihm gleich. Gemeinsam zitterten sie vor dem Bauern, der ihre Seelen versklavt hatte.

      Das Mädchen war frei. Der Hund wusste nichts von ihrem Schicksal. Er wusste nicht, dass ihre Eltern bei dem Brand ihres Hofes ums Leben gekommen waren.

      In aller Eile suchte man eine Pflegestelle für das Kind. Die Ämter und die Partei kümmerten sich darum. Es hieß, das Mädchen sei wegen eines Vorfalls, als es fünf Jahre alt gewesen war, geistig zurückgeblieben. Das war nichts Besonderes im Dorf. Es passierte und die Dörfler lebten damit. Der kleine Ralf war mit dem Arm in einer Häckselmaschine stecken geblieben und hatte seinen linken Unterarm verloren. Seitdem ging er mit wiegendem Schritt die Dorfstraßen entlang und grüßte mit militärischer Präzision Mensch und Tier, bis sie außer Sicht gerieten. Jeder kannte den kleinen Kerl mit dem ernsten Gesicht und dem Stummelarm, wie er mit durchgedrückten Knien und angestrengter Miene in Habachtstellung am Straßenrand stand, erstarrt zu einem Denkmal, den rechten Arm an die Stirn hochgerissen.

      Dann war da Jörg, über dessen Mutter man sich das Maul zerriss. Sie benutzte Lippenstift, bis ihr Mund eine klaffende rote Wunde war und führte einen unkeuschen Lebenswandel. Die Gerüchte besagten, sie habe sich bei einem entfernten Verwandten die französische Krankheit eingehandelt. Die Frucht der ungehörigen Beziehung war Jörg, der zu einem großen, aber einfältigen Burschen mit einem unmännlichen Stimmchen heranwuchs. Er plapperte unaufhörlich vor sich hin, sang und gestikulierte. Immer wenn ein wohlmeinender Dorfbewohner mit roter Farbe „Hure“ an das Häuschen von Jörgs Mutter schmierte, sah man den Burschen die Buchstaben mit Hingabe ablaugen.

      Auch Gisela war einer der Fälle, die sich im Laufe der Jahre ereigneten. Man sagte, das Mädchen habe eine Zinkwanne mit kochendem Wasser von der Feuerstelle gezogen und über sich gegossen. Teile der Haut und das Leben des Mädchens waren noch zu retten gewesen. Ihr Verstand aber hatte sich unwiederbringlich eingetrübt und sie hockte da und schrieb Buchstaben in ein Heft. Das „d“ war ihr Lieblingsbuchstabe. Manchmal zerriss sie die Hefte und stieß kleine Schreie aus. Dann musste man sie festbinden, denn sie schäumte und schlug um sich, bevor sie in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf verfiel und erst Stunden später desorientiert wieder aufwachte.

      Hedwig war der neue Pflegling des Ortsbauernführers. Sie schien ein unkompliziertes Kind zu sein, wenn man ihr das Kaninchen beließ. Der Bauer schätzte an ihr, dass sie eine ansehnliche Erbschaft mit auf den Hof brachte, die er für sie verwaltete. In den Augen des Bauern benötigte das Mädchen, außer regelmäßigen Mahlzeiten und einem Satz Sommer- und Winterwäsche, nichts weiter. Für den Rest des Geldes hatte er gute Verwendung. Manchmal hatte er das Gefühl, dass die forschenden Augen des Mädchens, das nicht sprach, auf seinem Gesicht ruhten. Wenn er allerdings mit strenger Miene zu ihr hinübersah, spielte sie angelegentlich mit ihrem Kaninchen. Später, wenn aus der Kleinen eine junge Frau würde, würde er mit seinen Erziehungsmaßnahmen beginnen, dachte sich der Bauer und tastete nach dem Ochsenziemer, der im Stiefelschaft steckte. Das Mädchen hatte etwas Aufsässiges. Aufsässigkeit war ein Charaktermerkmal, das in der Volksgemeinschaft von Schaden war. Aufsässigkeit musste gebrochen werden.

      Die einfältige Frau des Bauern, deren Attraktivität durch ihre Mitgift bestimmt wurde, war eine gefügige Person mit unwissenden Kuhaugen und nimmermüden Händen. Sie hielt Hedwig zu kleinen Handreichungen an und sprach mit ihr. Eigene Kinder hatte sie nie bekommen. Sie hatte sich diesen Umstand nie verziehen und der Bauer erinnerte sie stets an dieses Manko, wenn er nach Dorffesten mit geschwollenem Selbstbewusstsein und schwerer Zunge nach Hause wankte und mit der flachen Hand zuschlug, bis der Bäuerin das Blut aus der Nase rann und sie auf Knien Abbitte leistete.

      Der Hund kannte die Zusammenhänge nicht, aber er hatte Ahnungen. Fremde Menschen aus den Städten suchten das Dorf auf. Sie waren mit Teppichen, Silberleuchtern und Bildern beladen, die sie gegen Lebensmittel tauschen wollten. „Ausgebombt“ war ein Wort, dessen Klang sich der Hund einprägte, ohne den Sinn zu erfassen. Er roch die Trauer und die Ausweglosigkeit, die den gebeugten Gestalten folgte, wenn sie ihre Karren zogen und ihre Bündel schleppten. Sie sahen anders aus als der rotwangige Bauer, der breitbeinig auf seinem Land stand und markige Parolen von sich gab, während sich seine Scheune und der Stall mit Wertgegenständen füllten.

      Gerüchte zogen ihre Silberfäden durch das Dorf. Gerüchte, die von Tag zu Tag mehr Wahrheit enthielten und bleiern schwer auf den Gemütern der Dörfler lasteten. Die Ostfront hatte sich in das Deutsche Reich hineinverlagert. Die Westalliierten pflügten sich rheinwärts. Wehrmachtssoldaten und Volkssturmmänner kamen in versprengten Gruppen durch das Dorf. Sie hatten verschlossene Gesichter ohne Zuversicht. Die Volksempfänger wüteten und geiferten. In den Kinos balgten sich Komödien und Kostümfilme um den Optimismus der Zuschauer. Man sagte, dass Panzer auf der Anhöhe hinter den Pferdekoppeln gesehen wurden. Amerikanische Panzer mit Stoßrichtung Dorf. Die Dörfler hielten gestärkte, weiße Bettlaken bereit, um sie bei Bedarf aus den Fenstern zu hängen. Die Erwartung nach Kaugummis, Lucky Strikes und Nylonstrümpfen lag in der Luft.

      Auch der Hund witterte die Veränderung. Der ältere Junge, der Hedwig regelmäßig auf dem Hof besuchte, ein dünner Knabe mit hellen Augen und einem abwesenden Gesichtsausdruck, steckte dem Kettenhund Leckerbissen zu. Er vergaß es kein einziges Mal. Anfangs fletschte und geiferte der Hund ihn an, aber der Knabe hockte sich selbstvergessen vor ihn hin und sah ihn an. Er murmelte etwas. Der Hund verstummte und spitzte die Ohren. Bei einem der nächsten Besuche verrieb der Knabe eine Ringelblumenpaste auf den räudigen Stellen an den Hinterläufen des Hundes. Das Tier leckte ihm die Hand. Die Hand schmeckte

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