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Er war immer vorbereitet. Sorgfältig hatte er die Dokumente für die Bonitätsprüfung zusammengestellt. Er hatte sich Antworten zu seinem Gesundheitszustand, seiner Motivation und seinen Vorstellungen von der Zukunft zurechtgelegt. Die Antworten waren wohlfeil und auf Wirkung poliert. Sie entsprachen nicht der vollen Wahrheit. Nichts, was man von Viktor zu wissen glaubte, entsprach der vollen Wahrheit.

      Die größte Hürde war die Unterbringung von Hedwig. Als die ersten Prospekte von der Residenz eintrafen, klatschte Hedwig in die Hände. Das tat sie, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte. War sie sich unsicher, fächelte sie mit geöffneten Händen. Lehnte sie etwas ab, schob sie es entrüstet, mit angeekelter Miene und geballten Fäusten von sich weg. Hedwig war eine charakterfeste Persönlichkeit.

      Viktor hatte einen großen Stapel Werbematerial vor sich liegen, als Hedwig ihre Entscheidung traf. Er beobachtete sie genau. Die Tatsache, dass sie nicht sprach und nie ohne die Begleitung eines Kaninchens gesehen wurde, verführte dazu, sie als zurückgeblieben einzuschätzen. Nichts war unzutreffender als dieser Eindruck. Hedwig war eine alte Frau geworden. Sie war mit Würde gealtert und konnte wie jeder ältere Mensch Hilfestellungen und Rücksichtnahme gebrauchen. Ansonsten aber wohnte in dem gedrungenen Körper der alten Frau ein scharfer Verstand, der sich lediglich weigerte, die Schranke von der Kindheit zur Erwachsenenwelt zu durchschreiten. Der traumatische Vorfall in jenen Kriegstagen hatte diese Entwicklung ausgelöst und Viktor verstand.

      „Sie hat im Krieg Schreckliches durchgemacht und Heilung in der Kapsel ihrer bis dahin unbeschwerten Kindheit gefunden“, zitierte Viktor das ärztliche Bulletin, das den Allgemeinzustand von Hedwig charakterisierte. Nie hatte jemand danach gefragt, was der Frau im Kindesalter widerfahren sein mochte. Man konnte es sich vorstellen. Der Krieg ist ein grausamer Geselle, der auch vor Kinderseelen nicht haltmacht. Die verrohte Soldateska und das kleine Mädchen. Unvorstellbar. Unaussprechlich. Viktor nickte zu den betroffenen Mienen und beließ es dabei.

      Dennoch bedauerte die Kommission. Man könne Hedwig nicht in die Residenz aufnehmen. Sie sei zu betreuungsintensiv. Auch könne man die Anwesenheit eines Kaninchens aus hygienischen Gründen auf keinen Fall dulden. Man müsse sich im Fall von Hedwig überlegen, ob eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung nicht sehr viel angemessener sei. Eine geballte Ansammlung Fachkompetenz bemühte sich um die freundliche Überredungskraft, die nötig sein würde, um den störrischen Alten, der sich als Viktor vorgestellt hatte, zu überzeugen.

      Viktor war auf diesen Ausgang des Gesprächs gefasst. Er war vorbereitet, so wie er immer vorbereitet war. Hedwig hatte bei der Durchsicht der Unterlagen in die Hände geklatscht. Sie hatte es nicht unbedacht getan. Hedwig wollte eine Wohnung in der Residenz und sie sollte sie bekommen.

      Viktor besaß nur wenige Leidenschaften. Er trieb Sport und las, ernährte sich gesund und unternahm kurze Bildungsreisen, wann immer ihn sein Beruf in fremde Städte führte. Er führte ein kleinbürgerliches Leben, das neben den vereinzelt erforderlichen Tötungsdelikten flach und unaufgeregt verlief. Seine Tage versandeten in Routine und Gleichförmigkeit.

      Eines aber weckte alle seine Instinkte. Dann war er wach und aufmerksam. Dieses Eine waren seine Dossiers. Dossiers waren die Leidenschaft von Viktor. Zwischen zwei harmlos wirkende gelbliche Aktendeckel pferchte er Schicksale. Eng beschriebene Karteikarten skizzierten Personen und ihre Gewohnheiten, ihre Stärken und Schwächen. Die Karteikarten waren in einem komplizierten System mit Kordel aneinandergefädelt. Manchmal gesellten sich Fotos hinzu. Aussagekräftige Fotos. Beschriftete Fotos mit Namen und Ortsangaben. Dann wieder große Bögen mit Anmerkungen in verschiedenen Farben und Pfeilen. Viktor glaubte nicht an Computer und die Segnungen von Speichermedien. Für ihn war das sinnliche Erleben wichtig. Sein Beruf war nicht digitaler Natur. Sein Beruf hatte mit Fleisch und Blut zu tun. Mit viel Fleisch und viel Blut. Also beschriftete er mit Sorgfalt seine Karteikarten, fädelte sie auf, wo sie zusammengehörten und legte den Rest lose in die Akte, alle an den ihnen zukommenden Platz, bis er ein lückenloses, chronologisches Profil seiner Klienten erstellt hatte. Das war er seinen Klienten schuldig.

      Die Dossiers, die er erfolgreich abgeschlossen hatte, trug er in einem langen Spaziergang in den Wald, schlug sich ins Unterholz und verbrannte sie dort Stück für Stück. Wälder waren ideale Verschwörer. Sie galten als verschwiegen und leidenschaftslos. Viktor liebte Wälder. Sie hatten ihn noch nie enttäuscht.

      Er nannte sein kleines Ritual „Rauchopfer“. Es war seine Art Abschied zu nehmen und loszulassen. Das Rauchopfer war mehr als die Beseitigung von Spuren. Es war eine Respektsbekundung und ein Selbstheilungsprozess.

      Für das Rauchopfer wählte er stets neue Plätze, die er in Augenschein nahm und auf ihre Tauglichkeit untersuchte.

      Dann wartete er auf einen Tag, der unangenehm feucht oder kalt zu werden versprach. Niemand sollte ihn stören. Er badete ausgiebig und rasierte den ganzen Körper. Er kleidete sich in Schwarz und nahm das Dossier zur Hand. Ein letztes Mal blätterte er und verweilte bei einzelnen Karten. Schließlich klappte er das Dossier mit einer energischen Bewegung zu und kreuzte den Aktendeckel mit einem roten Stift.

      Das rote Zeichen war immer das letzte Merkmal, das sich in den Flammen des Feuers einrollte und verging. Mit einem abgebrochenen Aststück stand der alte Mann im Unterholz und starrte auf die rußige Masse zu seinen Füßen, die noch glühte und bald erlöschen würde. Er begann mit der Spitze des Astes die verkohlten Blätter zu zerstoßen und zu verreiben, bis ihre Struktur nicht mehr erkennbar war und die Informationen endgültig ausgetilgt waren, davongetragen von einer flimmernden Hitzezunge. Dann füllte der alte Mann die Überreste des Brandopfers in eine Aluschale und tilgte die Spuren des Feuers. Die Aluschale würde er in einen Müllcontainer entsorgen, zusammengeknüllt und erkaltet. Die richtige Stelle dafür hatte er bereits ausgesucht. Bald würde der Wald wieder unberührt daliegen.

      Zum Abschluss des Rituals gönnte sich Viktor eine kleine Extravaganz. Nicht dass er betete oder andere komplizierte Verrichtungen vollzog. Er war ein praktischer Mensch, der nicht zur Esoterik neigte.

      Viktor fotografierte. Es war eine unbedeutende Geste. Eine Feuerstelle im Gewirr von Brombeerranken. Verbranntes Gras in der Nachbarschaft eines umgestürzten Baumstammes. Angekohltes Geäst in einer Fichtenschonung. Stillleben eines Abschiedes, anonym und endgültig. Die Schnappschüsse druckte Viktor aus. Mit der gleichen Kordel, mit der er die Karteikarten aneinander fädelte, befestigte er eine schlanke Phiole mit ein wenig Asche an dem Foto. Keine Beschriftung, keine Hinweise. Nichts, was auf die Herkunft oder den Sinn der Sammlung hindeuten könnte. Der alte Mann war kein Serienkiller. Er benötigte keine Fetische, um seine Taten rauschhaft nachzuvollziehen, bis der Trieb erneut machtvoll einsetzte und ihn über den Rand der Selbstbeherrschung trieb. Er war ein Handwerker. Er arbeitete auf Bestellung. Emotionslos, gründlich und leise. Ein Handwerker, wie man ihn gerne in sein Haus lässt, außer man ist die Person auf dem Foto.

      Wegen Hedwig brach Viktor mit seinen Gewohnheiten. In dem von ihm verfassten Handbuch hieß es: „Vermeide eine offene Konfrontation, wenn du sie nicht unverzüglich und endgültig beenden kannst. Lass niemals Spuren zurück“.

      Viktor gedachte die Konfrontation zu suchen und alles in der Schwebe zu lassen. Die Spuren sollten deutlich sichtbar zurückbleiben. Es war ein Risiko, aber eines, das er einzugehen gedachte. Immerhin konnte er sich dabei auf eine andere Regel berufen: „Wenn unvorhersehbare Umstände eintreten, sei flexibel und improvisiere.“ Das gedachte er zu tun. Hedwig war es ihm wert.

      Das Dossier war unversehrt, als er es vorlegte. Viktor fühlte sich unwohl. Noch nie hatte er eines seiner wertvollen Stücke aus der Hand gegeben. Dieses Mal musste es sein. Er tröstete sich damit, dass es eine Ausnahme war. Eine Privatangelegenheit, die seine beruflichen Interessen nicht berührte. Er hatte viel Sorgfalt auf die Zusammenstellung der Informationen verwendet und mehr Bilder gemacht als gewöhnlich. Die Bilder waren am überzeugendsten.

      Es war einfach gewesen. Behörden und Schulen steckten voller Gerüchte. Das Gleiche galt für Heime, auch wenn sie sich Residenz nannten. Man musste sich nur in die Cafeteria setzen und sie zu sich einladen. Aus allen Ecken wisperten sie. Die Betreiberin der Cafeteria, eine stämmige Frau mit einem losen Mundwerk, steuerte einige Bruchstücke bei. Bewohner ergingen sich in Spekulationen. Man zwinkerte und flüsterte. Auch Viktor zwinkerte und flüsterte.

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