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der Bauer wollte den Anbruch der neuen Zeit nicht wahrhaben. Er fluchte, schnaubte und trank. Er drosch mit dem Ochsenziemer auf die russischen Zwangsarbeiter ein und zwang sie, Abfälle aus den Schweinetrögen zu essen. Ihr Getuschel und ihre Verachtung brannten sich in seinen Rücken und brandmarkten ihn. Eigenhändig schleppte er Sandsäcke und Gerümpel auf die Straße, um den Vormarsch der Amerikaner aufzuhalten und sie mit einer heroischen Anstrengung zurückzuwerfen. Er stand auf den Tischen in der Kneipe und faselte von der Wut der Gegenoffensive des deutschen Volkes und dem Endsieg. Mit verlegenen Gesichtern hörte man sich seine Tiraden an, um dann schweigend in die Häuser zurückzukehren. Die Unheil verkündende Geräuschkulisse der Front begleitete die Männer auf ihrem Heimweg und trieb Frauen und Kinder in die Keller. Nur der Bauer und einige wenige Gefolgsleute sangen das Hohelied auf Führer, Volk und Vaterland. Ihre Stimmen verhallten wirkungslos im Wind.

      Nichts kündigte die verhängnisvollen Ereignisse an. Das Dorf duckte sich vor der heranrückenden Front. Es war von seinen Verteidigern aufgegeben worden. Ihm kam keine strategische Bedeutung zu. Die ersten weißen Laken hingen wie zufällig aus den Fenstern. Durchhalteparolen verschwanden von Wänden und Ehrenzeichen von Kleidungsstücken. Eine Brise blähte die Hakenkreuzfahne am Haus des Bauern. Der Hund beobachtete aus seinem Versteck das Mädchen, das mit einem schweren Paket über den Hof ging. Er roch das Brot, den Käse und den Speck. Ein Panzerungetüm hatte sich vor wenigen Minuten rasselnd in das Herz des Dorfes geschoben und mit einem Drehen des Geschützturmes Sichtkontakt aufgenommen. Dann hatte es sich mit schleifenden Ketten zurückgezogen. Kein Schuss war gefallen. Es herrschte gespenstische Ruhe.

      Die Sehschärfe des Hundes war auf Bewegung optimiert. Stillstehende Dinge wurden von seinem Gehirn unterdrückt. So gehörte es sich für einen Wachhund. Der Tag dämmerte der Dunkelheit entgegen. Das war die beste Zeit der Hunde. In ihrem verspiegelten Augenhintergrund wurde einfallendes Licht reflektiert. Ein Mensch hätte die vier russischen Kriegsgefangenen, die sich eng an die Scheune gedrückt davon machten, nur als verschwommene graue Schatten wahrgenommen. Die Umstände wollten es, dass das Dorf menschenleer war. Es schien den Atem anzuhalten.

      Der Hund erhob sich. Er sah, dass die Flüchtenden neue Kleidung trugen. Teure Kleidung, die von den ausgebombten Städtern gegen Milch und Brot eingetauscht worden war. Die Sachen rochen nach Wohlstand und biederer Anständigkeit. Sie verdeckten für Momente den Gestank nach Unterernährung, Qual und ungewaschenen Leibern. Der Hund riss an der Kette und bellte. Er hatte Pflichten zu erfüllen.

      Das kleine Mädchen kam geradewegs auf ihn zu. Mit einer bittenden Handbewegung und einem Finger über den Lippen näherte es sich dem Hund. Die grauen Schatten der Flüchtenden verschmolzen mit einem Ginstergebüsch. Ein unförmiger weißer Fleck bewegte sich mit ihnen. Dann war auch er verschwunden. Zurück blieb eine für den Hund schmeckbare Spur nach Proviant. Er reckte ein letztes Mal mit einem geräuschvollen Schnüffeln die Nase in die Luft. Dann konzentrierte er sich auf das Mädchen, das seinen zottigen Kopf in beide Arme genommen hatte und ihn wiegte. Er mochte es, wenn sie die Melodie summte. Die Melodie war für Kaninchen und für Hunde. Heute Nacht war sie nur für ihn.

      Der Bauer war betrunken, als er Hedwig an sich riss. In den letzten Tagen war er ständig betrunken, weil ihn in nüchternem Zustand die Realität deprimierte und weil sich mit jedem Ticken des Sekundenzeigers seiner Taschenuhr zu der Depression die Angst gesellte. Angst vor namenlosen Dingen, die ihn zu verschlingen drohten, wie sie das Deutsche Reich verschlungen hatten. Dinge, die die Ostwinde und die Westwinde aus Russland und Amerika unaufhaltsam heranwehten.

      Er war nicht zu betrunken, um seine schwielige Rechte in die Zöpfe des Mädchens zu graben und sie über die Pflastersteine zu schleifen. Den Hund bedachte er mit einem Tritt. Das Mädchen hob die Arme und klammerte sich an den Arm des Bauern. Ihr Gesicht war ein heller Fleck. Sie gab keinen Laut von sich.

      Der Bauer wankte durch das Stallgebäude. Mit ungelenker Zunge fluchte er. Es waren gotteslästerliche Flüche. Er polterte in die Scheune. Das Kind schleifte er achtlos neben sich her, als habe er seine Existenz vergessen. Stieren Blickes sah sich der Bauer um. Er hätte sich die Mühe sparen können. Er konnte sich denken, was passiert war. Man hatte ihn bestohlen, ihn ausgenutzt, ihn an der Nase herumgeführt. Das Balg und die russischen Hungerleider. Zu allen war er gut gewesen, viel zu gut. So hatte man ihm seine Fürsorge gedankt. Jetzt, da der Feind vor den Toren stand, zeigte das Pack sein wahres Gesicht. Schwer ließ er sich auf einen Hocker fallen.

      Als er sich aus seiner Erstarrung löste, fiel sein Blick auf seine rechte Faust, die sich in die Zöpfe des Mädchens krallte. Er schien sich ihrer erst jetzt wieder bewusst zu werden. Mit dem schwerfälligen Blick des Betrunkenen sah er sich um. Die Gerätschaften waren ordentlich an der Scheunenwand aufgereiht.

      Warum er die Schafschermaschine gekauft hatte, wusste der Bauer nicht mehr. Sein Mund fühlte sich trocken und geschwollen an. Er hatte Durst. Viel Durst. Doch er hatte noch etwas zu erledigen. Etwas, das mit Respekt und Abschreckung zu tun hatte. Respekt und Abschreckung. Zwei Seiten einer Medaille. Zwei Begriffe, die in seinem Haus nicht nur Worte bleiben sollten. Jeder sollte es sehen. Vielleicht war es dann noch nicht zu spät für das Dorf. Nicht zu spät für Deutschland. Für die Zöpfe würde eine Heckenschere genügen. Das Gesicht des Mädchens verschwamm vor seinen Augen. Eine Heckenschere. Das würde der erste Schritt sein.

      Die Frau des Bauern fand die Kleine blutend und mit kahl geschorenem Schädel in der Scheune. Der Hund war verschwunden. Sein abgewetztes Halsband schlang sich um den Hals des Mädchens. Die Laufkette verlor sich im Hof. Der Bauer hielt eine Heckenschere in der Hand und stach mit ihr in die Luft, als wolle er sich eines unsichtbaren Gegners entledigen. Mit blutunterlaufenen Augen stierte er auf seine Frau. Er grinste und stach, grinste und stach. Dabei brabbelte er von Anstand und Respekt, von Lektionen und Werten. Mit tückischen Augen fixierte er das wimmernde Bündel an seiner Seite und spuckte verächtlich aus. Er gestattete es seiner Frau, ihn hochzuwuchten und in die Wohnstube zu stützen. Er gestattete ihr nicht, sich des Mädchens anzunehmen. Die Lektion war noch nicht zu Ende. Das Ende würde dann erreicht sein, wenn er es befahl. Jawohl, befahl. Der Hof war sein Hof und das Mädchen sein Mädchen und er würde sich nicht nachsagen lassen, dass er in der Erziehung seines Mündels versagt habe. Nein, das würde nicht geschehen, solange sie noch an seinem Tisch saß. Das würde noch lange Zeit so sein. Zeit genug zu lernen.

      Der Hund konnte warten.

      Die Kette hatte ihm der Bauer abgenommen. Der Hund verließ nach seiner Suspendierung den Hof. Er roch das Mädchen. Ihr Duft war intensiver als sonst. Der Hund beschloss abzuwarten. Der ältere Junge kam im Morgengrauen. Kam und ging. Er hatte Instinkte wie der Hund. Seine Augen fanden das Versteck des Tieres ohne Mühe. Eine schmutzige Tränenspur zog sich über seine Wange, als er die Scheune verließ. Leise rief er nach dem Hund. Er hatte einen Leckerbissen für ihn. Seine Hand zitterte, als er dem Hund durch das Fell fuhr. Es war nicht die Angst, die ihn zittern ließ. Der Hund konnte es spüren. Es war etwas ganz anderes. So anders, dass sich der Hund wieder in sein Versteck zurückzog.

      Vereinzelt ließen sich Vögel hören und der Geschützlärm würde bald wieder einsetzen, als der Junge den Bauern über den Hof brachte. Der Bauer schrie. Er brüllte vor Schmerz. Eine Eisenstange hatte seine Kniescheiben zertrümmert. Jetzt lag er zusammengekrümmt auf einer Schubkarre. Der Junge war kräftig für sein Alter. Kräftig und entschlossen. Sein Ziel war der Stall.

      Der Hund hörte, wie Metall auf Metall rieb. Sein Geruchssinn unterschied den hervorstechenden Gestank des Ammoniaks von tausend anderen Duftnoten. Er wusste von der Jauchegrube, wusste, dass er diesen Geruch schon lange Zeit nicht mehr in der Nase hatte, weil die Felder wegen des Krieges nicht mehr gedüngt und bestellt werden konnten. Das Brüllen des Bauern nahm an Lautstärke zu, dann ein nasses Geräusch und ein letzter erstickter Ruf. Es wurde still. Metall schabte auf Metall. Eine Granate schlug weit hinter dem Dorf ein. Der Krieg war zurück.

      Die einrückenden Amerikaner suchten nach dem Ortsbauernführer, aber er blieb verschwunden. Nach offiziellen Angaben war er auf der Flucht. Die Bäuerin hatte ein kahl geschorenes Mädchen im Arm, das ein Kaninchen streichelte und immer wieder Hilfe suchend nach einem älteren Jungen griff, der beruhigend auf es einredete.

      Niemand im Dorf hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Niemand befragte den Hund.

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