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über Ausschläge und Verschorfungen. Es war nicht immer einfach, aber schließlich kam man immer überein. Einige der Mädchen überlebten die Prozedur nicht. Man hatte diesen Schwund von Anfang an eingepreist. Die Zureiter besaßen einen unbestechlichen Blick für untaugliches Material und sie hatten Waffen. Sie waren es, die aussortierten, nicht Ellen oder er.

      Ellen und er befanden sich ganz unten in der Befehlskette. Jeder konnte ihnen Befehle erteilen. Ohne sie wäre es den Mädchen noch viel schlimmer ergangen. Durch sie war kein einziges der Mädchen zu Schaden gekommen. Das war ein Fakt.

      So sah es zum Glück auch die Staatsanwaltschaft, die ihnen für ihre volle Kooperationsbereitschaft als Kronzeugen einen Handel vorschlug. Nicht dass man sie mit Samthandschuhen anfasste. Im Gegenteil. Man traktierte sie mit Fotos misshandelter und geschändeter Mädchen, als ob sich Ellen und er an jedes Gesicht erinnern würden, das durch ihre Hände gegangen war. Es war nicht fair. Sie hatten eine bessere Behandlung verdient. Man stellte ihnen immer die gleichen Fragen und beschuldigte sie, als ob sie Verbrecher seien. Man drohte ihnen lange Haftstrafen an und schüchterte sie ein. Dann ließ man sie reden. Wochenlang redeten sie, bis man alles aus ihnen herausgequetscht hatte. Sie wurden in unterschiedlichen Haftanstalten untergebracht. Vor Gericht mussten sie nicht erscheinen.

      Er hatte lange in seiner Zelle auf Nachricht gewartet. Minuten wurden zu Stunden und Stunden zu Tagen. Als man ihn abholte und auf seine neue Identität vorbereitete, war eine lange Zeit vergangen. Zu lange. Er hatte verlernt glücklich zu sein. Von Ellen hatte er nichts mehr gehört. Das musste so sein. Es gehört zum Programm. Nicht dass er traurig darüber gewesen wäre. Was ihn mit Ellen verband, war die Routine einer entspannten Arbeitsbeziehung. Mit Kollegen war es immer schön.

      Dann erfuhr er von ihrer Hinrichtung. Noch am gleichen Tag begann er mit dem Nasenbohren.

      In der Schweiz fühlte er sich gut aufgehoben. Er war den Empfehlungen der Experten gefolgt und brachte in rascher Folge mehrere Umzüge hinter sich. Seine Spur erkaltete. Niemand war eingeweiht. Er handelte auf eigene Gefahr. Sein Äußeres glich sich den Fotos in den neuen Pässen an. Seine finanziellen Rücklagen aus besseren Tagen hatten noch nicht besorgniserregend gelitten. Er nahm sich Zeit zum Nachdenken und konnte keinen Fehler entdecken. Die Spur erkaltete immer mehr. Bald würde ihn niemand mehr aufspüren können und dann würde er sich neuen Aktivitäten widmen. Eine Zukunft wartete auf ihn. Eine Zukunft, in der seine Talente gebraucht wurden.

      Bewacht wurde seine Zukunft von einem buckligen Berghang, der im Frühling ein Polster aus Blüten trug und voller Zuversicht zu einem Gebirgsmassiv schaute, das mit gezackten Schatten talwärts griff. Die Hütte mit Käserei war zu vermieten. Es war ein einfaches Quartier ohne Bequemlichkeiten. Die Wanderwege und eine Seilbahn führten in respektvoller Entfernung vorbei und der Senn war ein kauziger Mensch unbestimmten Alters, der seine Kühe mit einem breiten Singsang rief und seinem Logiergast keine Fragen stellte. In seiner Welt gab es die Jahreszeiten, das Vieh und den Käse und nicht viel Anderes von Bedeutung. Der Gast schätzte diese angeborene Diskretion. Nur manchmal saßen die beiden auf der roh gezimmerten Bank vor der Hütte und schauten, wie die blauen Schatten des Gebirges Besitz von der Landschaft ergriffen. Meist schwiegen sie zu Buttermilch und Moosbrot. Der Senn war einer der letzten Dörfler, der sich darauf verstand, Moosbrot herzustellen. Wenn es um Käse und Brot ging, fand er seine Stimme unter den Flechten seines Bartes und erzählte in langsamen, weichen Sätzen. Den Ausführungen waren die Schwermut anzuhören und das Unverständnis für die neue Zeit, die sich aus dem Rhythmus des Lebens hinausbeschleunigte.

      Die schwarzen Fladen aus gestampftem, gebackenem Moos, das man an der Rinde einer harzhaltigen, grobborkigen Tanne und auch an der Lärchenrinde fand, schmeckten ein wenig bitter und nach entbehrungsreicher Vergangenheit. Es war gut so.

      Zum Herbst hin wurden die Schatten schon am frühen Nachmittag besitzergreifend. Kalte Winde fegten die Wolkendecke beiseite und der klare Geruch nach Schnee lag in der Luft. Dorf um Dorf spaltete Holz und fuhr die letzten Vorräte ein.

      Bald würde man mit den Kühen talwärts ziehen. Für den Gast wurde es Zeit. Er hatte genug von der Stille. Er hatte Insekten in ihrem Flug beobachtet. Er hatte gelernt, die Gerüche der Herdfeuer voneinander zu unterscheiden. Lange war er wachsam geblieben, hatte gelauscht und gespäht. Jeder Wanderer und jeder Drachenflieger erschien ihm verdächtig. Sein Herzschlag beschleunigte sich bei jedem Geräusch, das sich an sein Ohr stahl. Er schlief mit einer entsicherten Waffe unter dem Kopfkissen, als sei er ein Darsteller aus einem schlechten Roman. Nach Monaten konnte er sicher sein, dass seine Bemühungen erfolgreich waren. Seine Spur war endgültig verwischt. Niemand suchte ihn, denn es gab ihn nicht mehr.

      Sein Gastgeber bestätigte ihn in seinen Vermutungen. Vorsichtige Nachfragen nach Neuankömmlingen und Ausländern in den Dörfern beantwortete der Senn mit einem Kopfschütteln. Von solchen Leuten hätte man gehört. Nachrichten verbreiteten sich rasch in den Bergen. Die Berge hatten Platz dafür. Neue Gesichter waren immer eine Nachricht. Auch der Gast des Senns war eine gewesen. Ein geschiedener, verbitterter Mann in den besten Jahren. Ein Journalist, der zur Ruhe kommen und ein Selbsterfahrungsbuch schreiben wollte. Nicht einer, der den Lauf der Berge störte, sondern einer, der sich in ihren Schutz begab. Ein zahlender, stiller Gast. Ein Gast, wie ihn die Dörfler mochten.

      Er fröstelte, obwohl der Kohleofen eingeheizt war. Es roch nach getrockneten Kräutern und nach Winter. Er suchte mit dem Fernglas den Weg ab, der sich wie ein braunes Band über die Bergrücken legte. Seit dem Almabtrieb ruhte die Käserei. Ihre gereinigten Bottiche, Siebe und Kessel hatten den Winterschlaf bereits begonnen. Er fuhr mit den Händen über die gehobelten Flächen der einfachen Möbel. Einfach und zweckmäßig. Die innere Unruhe hatte sich mit den langsam verklingenden Kuhglocken verstärkt. Vereinzelt waren noch die Rufe der Tiere zu vernehmen gewesen, dann überfiel eine betäubende Stille, die bei ihm Beklemmung auslöste, die Hochalm.

      Er sehnte sich den Jeep herbei, der ihn und seine wenigen Habseligkeiten abholen sollte. Er sehnte sich in gewisser Weise auch nach dem wortkargen Senn, von dem er sich mit einem kräftigen Händedruck verabschiedet hatte. Der graubärtige Mann hatte ihm versprochen, einen Wagen zu schicken, um ihn aufzusammeln und in die nächste Stadt zu bringen. Der Jeep ließ auf sich warten.

      Als zwei Scheinwerferkegel über den Hügel rollten, sah er sich noch einmal um. Er hatte versprochen, das Feuer zu löschen und die Tür zu versperren. Daran würde er sich halten. Einen Augenblick lang dachte er daran, alle Flächen, mit denen seine Finger in Berührung gekommen waren, abzuwischen. Er schüttelte den Kopf und musste über seine eigene Einfältigkeit lächeln. Niemand würde sich die Mühe machen, eine einsam gelegene Hochalm in den Schweizer Bergen nach Fingerabdrücken zu untersuchen. Niemand von denen, die ihm nach dem Leben trachteten. Sie hatten andere Methoden. Weniger raffiniert, aber wirkungsvoll.

      Sprengstoff war eine der Methoden, Feuer eine andere oder eine schnelle Kugel. Aufspüren und erledigen. Endgültig erledigen. Nicht leise und unbemerkt, sondern aufsehenerregend und abschreckend. So waren die Regeln des Gewerbes.

      Die Scheinwerfer des Jeeps streiften die Hütte und wanderten bis zum Rand einer steil abfallenden Wiese, ehe sie sich verloren. Der Wagen würde noch eine Weile brauchen. Es war eine Eigenschaft der Berge, dass sie alles nahe zu sich heranholten und dann eine rasche Ankunft verhinderten. Manche schrieben dieses Phänomen den besonderen Luftschichten zu, die zu optischen Täuschungen führten und geringe Entfernungen vorgaukelten, wo noch stundenlange Märsche vonnöten waren. Die Erfahrenen jedoch und die Einheimischen wussten es besser. Sie wussten, dass Berge lebendige Wesen waren, die ihre eigenen Gesetze hatten. Sie reagierten mit Wetterstürzen und verhüllten ihre Gipfel, wenn man den Respekt vermissen ließ. Man musste sie besänftigen.

      Der demütige Kletterer legte einen Stein auf eine wartende Pyramide von Steinen, bevor er sich an den Aufstieg machte. Das war das Zeichen für den Berg. Dann führte er den Gast mit sanfter Hand seinen Rücken hinauf und bewahrte ihn vor Unheil. Die anderen aber konnten ihre Geschichte nicht mehr erzählen, denn sie traten fehl, stürzten ab, erfroren im Eisnebel in Rufweite von Schutzhütten. Berge machten keine Kompromisse. Sie hatten viele Ewigkeiten Übung darin.

      Der Gast hatte sein schmales Gepäck neben die Tür gestellt. Der angestrengte Motor des Jeeps war jetzt deutlich zu hören. Das Fahrzeug holperte

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