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hielt. Er hatte einen kräftigen Händedruck und Augen, die ihn um einiges jünger erscheinen ließen. Der Hüttengast stellte sich als „Tonio“ vor. „Tonio“ war der Name in dem Pass, den er gerade verwendete. In der Einsamkeit der Berge hatte er sich mit dem Namen angefreundet. Vielleicht würde er ihn behalten. Den Namen „Tonio“ umgab der Klang weltoffener Fröhlichkeit.

      Der Fahrer bemühte sich um das Gepäck. Mit einer entschiedenen Handbewegung lehnte er das Hilfeangebot seines Gastes ab. Das Alter hatte auch bei ihm seine Spuren hinterlassen. Bei ihm und seinem Jeep, dessen bullige Kühlerhaube wie ein Urwelttier aufragte.

      Tonio war überrascht, als er den Stich spürte. Es war ein Brennen über dem Handgelenk, das sich wellenförmig ausbreitete. Er tastete nach der Stelle. Der plötzlich einsetzende Schmerz raubte ihm den Atem. Seine Arme sanken kraftlos herab. Die Holzbohlen der Terrasse schlugen nach seinem Gesicht, als sein Körper nach vorn kippte. Ein klar konturierter Mond, kraftvoll und pockennarbig glitt über den Gebirgsrand. Er verschenkte ein silbriges Licht. Mondlicht zum Abschied, dachte Tonio. Der Schmerz begann zu verschwinden und machte einer Taubheit Platz.

      Ein Gesicht schob sich vor das seine. Geübte Arme machten sich an ihm zu schaffen. Die Augen hinter der Brille wirkten groß und ruhig. Sie schwammen im Mondlicht. Die Augen des Fahrers ruhten auf ihm. Tonio rang nach Luft. Er keuchte mit geöffnetem Mund. Er machte Anstalten zu sprechen. Der Fahrer schüttelte den Kopf. Es war eine kleine Geste. Tonio legte den Kopf in den Nacken. Er fühlte, wie sein Körper erkaltete. Der Winter war gekommen. Der Winter und der Fahrer. Beide wussten, was zu tun war.

      Tonio hörte die Stimme und spürte die Hand, die seinen Kopf stützte, bis der Mond und das Gesicht wieder in seine Welt rückten. Das Gesicht war jetzt bartlos und hager, die Stimme kultiviert und ohne jeden Akzent. Bartlose Gesichter brauchten keinen Akzent.

      „Die Chippewa sind von Natur aus tapfer und rachsüchtig“, begann die Stimme. Die Sätze rauschten an Tonio vorbei. Es waren Sätze, die der Fahrer für die Richtigen hielt. Die richtigen Sätze für einen Mann kurz vor dem Atemstillstand. „Manchmal züchtigt der Ehemann seine Frau, indem er ihr den fleischigen Teil der Nase wegbeißt. Die Frauen erachten dies für schlimmer als den Tod, bedeutet es doch den Verlust ihrer Schönheit und ein sichtbares Maß für Vergehen und Strafe.“

      Die Stimme beendete ihren Monolog. Das bartlose Gesicht lächelte. Der Mond hatte sich zu seiner vollen Größe erhoben. Das Haar des Fahrers glänzte silbern. Es war perfekt gescheitelt. Tonios Welt war matt und schwarz geworden, nur noch ein Wispern und ein Haufen durcheinandergewirbelter Seiten. Er bemerkte nicht mehr, wie ihn zwei Arme mühsam in den Jeep wuchteten. Er hatte abgeschlossen. Abgeschlossen mit seiner Vergangenheit und seiner Zukunft.

      Minuten später rumpelte das Fahrzeug mit abgeblendeten Scheinwerfern talwärts. Tastend suchte es nach der Baumgrenze. Sein Ziel war eine Fichtenschonung, deren Ruhe selten gestört wurde. Die Bäume erkannten den Fahrer des Wagens und verhielten sich ruhig. Er hatte ihnen in den vergangenen Wochen mehrere Besuche abgestattet. Heute Nacht würde er eine ausgehobene Grube füllen.

      Anschließend hatte er noch einen weiteren Termin in einem anderen Wald. Er hatte ihn schon ausgesucht.

      Ein kleines Feuer würde seinen Frieden nicht stören.

       VI.

      Das Nachkriegsdeutschland war eine Wundertüte. Eine Wundertüte mit Scharten und Mängeln. Unter dem Schutt, den Entbehrungen und den Hungerwintern machte sich der Aufschwung bereit. Er sickerte in die Ortschaften, swingte in den Radios, begleitete die alliierten Hilfslieferungen.

      Viktor war einer von denen, die es verstanden zu organisieren. Er nutzte die Schwarzmärkte, um sich Zigaretten zu erflüstern, Damenstrümpfe mit Naht und andere Dinge, die er sofort wieder in Lebensmittel und Stoffe umsetzte. Er hatte verstanden, dass die Waren niemals ruhen durften, wenn man an das Wunder der Geldvermehrung glaubte.

      Mehr noch als Lucky Strikes und Nylons war eine andere Ware begehrt. Man sprach nicht über sie, ja man wagte es noch nicht einmal an sie zu denken, so unerhört war ihr Auftreten. Schwarze Musik, wollüstige Verrenkungen beim Tanz, grell bemalte Münder und Alkohol in langstieligen Gläsern begleiteten die Zeit des Aufbruchs. Die Jahre des Wirtschaftswunders begannen sich schwach am Horizont abzuzeichnen. Eine Zeit der Sittenlosigkeit und der Amerikanisierung, die zu vollenden suchte, was die 20er Jahre nicht zu Ende bringen konnten. Für Viktor war diese Welt wie gemacht. Er bewegte sich in ihren Reihen mit traumwandlerischer Sicherheit, ein junger Mann, aufrecht, bedächtig und mit flinken Augen, denen nichts entging.

      Als er das erste Mal die neue Ware anbot, brannte sie in seiner Jackentasche. Er war nervös, viel nervöser als der dunkelhäutige GI, der ihm mit einem breiten Lachen das Heft in die Hände drückte. Viktor war sich bewusst, dass er errötete, während er prüfend die Seiten umblätterte. Die Scham hielt ihn davon ab, mehr als einen kurzen Blick auf die Ungeheuerlichkeiten zu werfen, die in dem Magazin abgebildet waren. Manchmal handelte es sich um Zeichnungen, oft aber um Fotografien. Die Frauen auf den Bildern starrten mit stark geschminkten Augen aus den Blättern heraus. Ihre Blicke waren lasziv und schuldig. Es waren Sünderinnen in Unterwäsche mit Spitzen und Farben, die dazu gemacht waren, den Blutdruck von Männern in die Höhe zu treiben und ihre Moral zu untergraben. Schwarze Strümpfe unter rosa Korsagen. Beine, die sich in hochhackigen Schuhen himmelwärts reckten, feuchte Lippen und Fleisch. Viel Fleisch. Nicht das Fleisch, das man sah, wenn die Frauen mit umgebundenen Kopftüchern und gebräunten Gesichtern die Feldarbeit verrichteten. Nicht das Fleisch, das die Bürokräfte in weiten Pullovern und züchtigen Röcken zeigten. Nein, es war das Fleisch hochgereckter Pobacken und entblößter Brüste. Manikürte und gelackte Nägel vergruben sich in behaarten Spalten, wo sie Dinge taten, die das Bild aussparte.

      Die Bilder wollten, dass der Beobachter selbst etwas tat. Sie luden ein. Trieben. Verlangten. Viktor konnte es fühlen. Er krümmte sich und wandte sich von dem GI ab, der ihn mit einem wissenden Augenzwinkern bedachte.

      Viktor nannte seine Dienstleistung „Kunstkalender“. Sorgfältig trennte er die Seiten der Magazine auseinander und legte sie in seinem engen Mansardenzimmer aus. Auf einen Zeigestock gestützt betrachtete er sein Werk und begann mit der Zusammenstellung.

      Für den Eintritt in die Erwachsenenwelt hatte auch er Opfer bringen müssen. Seine Stimme war rau und tief geworden. Akne spross an seinem Kinn und verunzierte seine Stirn. Er hatte einen Kampf mit seinen Eltern ausgefochten und sich dazu entschieden, seinen eigenen Weg zu gehen.

      Was ihm blieb, war der Instinkt zum Spieleerfinden. Und so erfand er Erwachsenenspiele. Der Kunstkalender hatte Monate und die Monate hatten Themen. Die abgebildeten Frauen verkörperten die Themen. Manchmal hatten die Frauen Gesellschaft. Das waren die besonders wertvollen Bilder. Für sie suchte Viktor schöne Monate aus. Monate, wie den März, den Juli oder den Oktober. Bald kombinierte er mit verwegenem Mut und wachsender Zuversicht. Der Nachschub war gesichert. Amerika war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und das Land der unbegrenzten Ressourcen. Viktor hörte auf mit anderen Waren zu handeln. Er beschränkte sich auf die Körperkunst und lebte. Zum ersten Mal seit langer Zeit lebte er.

      Einer seiner zuverlässigsten Kunden war ein gedrungener Mensch im grauen Mantel und tief in den Taschen vergrabenen Händen. Seine Augen waren immer starr auf die vor ihm ausgebreiteten Blätter gerichtet. Viktor nahm sich Zeit für seinen besten Kunden. Er wusste, dass der Mann kaufen würde. Dass er alles kaufen würde, denn der Mann hatte flinke Hände. Hände, die schneller waren als das Gehirn. Hände, die von den Manteltaschen zu den intimeren Bereichen wanderten und zu kneten begannen. Wenn die Zähne des Mannes seine Unterlippe erfassten und sein prüfender Blick immer schneller über die Bilder glitt, verabschiedete sich Viktor. Er hatte das Geschäft gemacht. Alles, was sein Kunde jetzt benötigte, war die Kabine einer Toilette und etwas Platz. Viktor hatte keine Angst um seine Entlohnung. Der Mann war zuverlässig und er betete die Kunst an.

      Das Beste an dem Kunden war jedoch seine Tochter. Viktor war vielen Mädchen begegnet. Anderen Mädchen als Hedwig, die seine Schutzbefohlene war. Mädchen mit langen, seidigen Haaren und hochnäsigen Gesichtern. Mädchen mit blassem Teint und Zahnspangen. Und Mädchen mit drallen Gliedern und puppenhaftem Gehabe.

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