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sich aus ihrer Bier- und Zigarrenstumpentristesse und servierten russische Eier mit Lachsersatzschnitzeln in Öl und viel Mayonnaise.

      Schüler aus gutem Haus benötigten Nachhilfestunden, um sie durch die Gymnasien zu schleusen. Das war die Chance für Viktor. Er suchte nach Beendigung seiner Arbeit Bürgerhäuser auf, um Mathematik in widerspenstige Jungenhirne zu pauken. Bald zahlte sich seine Tätigkeit aus. Der Haushalt von Sabine und Viktor stabilisierte sich. Viktor träumte von neuen Tapeten und einem Kinderzimmer. Er träumte von einem kleinen, bescheidenen Glück, dessen Mittelpunkt Sabine sein sollte. So hatten sie es sich geschworen unter dem sternenbesetzten Geigenhimmel.

      Sabine träumte andere Träume. Kurz vor der Niederkunft klagte sie über die Abwesenheitszeiten ihres Mannes. Sie tat es mit nach vorne gerecktem Bauch und einer hysterischen Stimme. Andere Männer sorgten sich um ihre Familie. Sie ließen ihre Ehefrauen nicht alleine mit dem Abendessen zuhause sitzen, um sich mit mathematischen Spitzfindigkeiten zu vergnügen. Andere Männer verdienten ausreichendes Geld und boten ihren Frauen Unterstützung, Wohlstand und Zerstreuung. Andere Männer entzogen ihren Frauen nicht das Wertvollste, was eine Ehe ausmachte: ihre Zeit. Ganz Deutschland war voller anderer Männer.

      Natürlich hatte sie recht. Viktor akzeptierte das. Es fiel ihm nicht schwer. Viktor war verliebt.

      Immer öfter suchte er Rat bei Hedwig. Sie war zu einer jungen Frau herangewachsen. Einer jungen Frau mit ausdrucksstarken braunen Augen und einem Kaninchen als Begleitung. Viktor hatte sich dafür eingesetzt, dass sie nach dem Besuch der Sonderschule weiter gefördert wurde. Sie galt als intelligent und künstlerisch begabt. Ein kinderloses Lehrerehepaar nahm Hedwig auf. Hedwig ging es gut. Ihre Stärke lag im Zuhören. Sie hatte weiche Hände. Noch immer lag in ihren Augen derselbe schwärmerische Gesichtsausdruck, den sie hatten, als ein kleines Mädchen mit dicken Zöpfen einem schlaksigen Jungen beim Spieleerfinden zusah.

      Hedwig war traurig. Sie gönnte Viktor alles Glück der Erde, aber Viktor war nicht glücklich. Er wirkte niedergeschlagen und gehetzt. Wenn die Sprache auf Sabine kam, schlug er die Augen nieder. Seine Erzählweise war fahrig. Er benötigte Rat und Hilfe.

      Das Kind, das Sabine an einem stürmischen Samstagabend zur Welt brachte, war ein Mädchen. Ernst hatte seine Tochter einen Tag zuvor mit steinerner Miene abgeholt und in das Pfarrhaus gebracht. Er hinterließ für Viktor eine Mitteilung, die in knappen Worten besagte, dass Sabine ihr Kind in geordneten Verhältnissen zur Welt bringen wolle. Man werde ihm Mitteilung machen, nachdem das Kind geboren war. Alles Weitere werde man dann entscheiden.

      Viktor verstand nicht. Er wollte nicht verstehen. Bestimmt hatten die Ereignisse der letzten Monate bei allen Beteiligten Spuren hinterlassen. Doch da war nichts, was man nicht mit ein wenig gutem Willen wieder ins Lot bringen konnte. Schließlich waren Sabine und er ein Ehepaar. Sie hatten sich ewige Liebe und Treue geschworen. Sie würden sich nicht von den kleinen Beschwernissen des Alltags irritieren lassen. Der Geigenhimmel und die Engelschöre waren Zeuge gewesen. Sie würden niemals auseinandergehen.

      Man nahm Viktor fest, als er versuchte, mit Gewalt zu seiner Frau vorzudringen. Ein wohlbeleibter Polizist gab ihm den Rat, sich zu mäßigen. Die Klinik ließ ihm mitteilen, dass er Hausverbot habe. Ernst sprach ein Hausverbot für die Kirche aus und in dem Brief von Sabine stand in wohlgeordneten Buchstabenreihen, dass sie sich endgültig von ihm getrennt habe.

      Der Geigenhimmel stürzte ein und die goldenen Strahlen erloschen. Viktor war wie betäubt. Er lief hinaus in die Nacht und kam erst zwei Tage später wieder zurück. Seine Kleidung war beschmutzt, als wäre er durch Ackerfurchen gekrochen. Er konnte es nicht mehr sagen. Er wusste nur noch, dass es dunkel, hell und wieder dunkel war und dass er fror. Entsetzlich fror. Manche hatten ihn gesehen und behauptet, er habe in hohen Tönen mit sich selbst gestritten und Spiegelfechtereien ausgeführt. Dann habe er gelacht und sei auf die Knie gefallen. Als er wieder bei klarem Verstand war, stellte er fest, dass der einzige Brief in seinem Briefkasten die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses war.

      Sabine fühlte sich in der Obhut ihres Vaters geborgen. Sie würde ihre Tochter „Leandra“ nennen. Sie war sich sicher, dass Viktor nicht auf sein Erziehungsrecht pochen würde. Dazu war er zu schwach. Ein schwacher Charakter. So hatte ihn ihr Vater bezeichnet und damit recht behalten. Eine Gouvernante kümmerte sich um das Kind. Ihr Vater wollte, dass Sabine entlastet war. Mit ausdruckslosem Gesicht erforschte er die Gesichtszüge des kleinen Wesens nach Hinweisen dafür, ob sich die Gene seines nichtsnutzigen Schwiegersohnes Einlass in einen unschuldigen Babykörper verschafft hatten, um das Menschenkind dauerhaft zu entstellen. Pornografie. Dieser unverschämte Kerl handelte mit Pornografie. Der Schwiegervater schüttelte voller Abscheu den Kopf.

      Zum Glück war da noch ein Bauunternehmer aus der Kreisstadt. Ein älterer, stattlicher Mann. Studiert und verwitwet, ehrbar und wohlhabend. Dieser Mann interessierte sich für schlanke, blonde Damen. Er war ein Lebemann mit ausgezeichneten Manieren und einem bleistiftdünnen Schnurrbart. Er nahm keinen Anstoß daran, dass Sabine verheiratet war und ein Kind von einem anderen hatte. Es gefiel ihm sogar. Frauen wie diese konnten es sich nicht erlauben, überzogene Ansprüche zu stellen. Der Bauunternehmer fuhr einen Mercedes und rauchte Zigarre. Ernst rieb sich die Hände. Mit ein wenig Geduld würde sich alles fügen.

      Sabine besah sich den Wagen, der sie abholte. Seine Bleche glänzten aristokratisch, obwohl es ein trüber Tag war. Der Bauunternehmer wollte zu einem Aussichtspunkt mit ihr fahren. Er lag hoch über der Stadt. Sie waren schon einmal dort gewesen. Der Bauunternehmer, sein fettes Lachen, das massiv goldene Feuerzeug und Sabine. Dieses Mal würde sie ihm vielleicht erlauben sie zu küssen. Es war eine völlig andere Sache als mit Viktor. Viktor und sie, das war ein Anfall von Wahnsinn gewesen. Der Unternehmer würde eine bewusste Entscheidung sein, frei von Leidenschaft, eine Investition in die Zukunft. Sicher, sie würde Opfer bringen müssen, aber welche Frau musste das nicht, wenn ihre Männer nach ihnen griffen.

      Sabine hing ihren Gedanken nach, als der Wagen auf das abschüssige Gelände einbog, das über bewaldete Abhänge steil abfiel. Der Motor des Wagens tickte. Es war angenehm warm. Der Bauunternehmer beugte sich zu ihr hinüber. Sein Vollmondgesicht lächelte sie an. Er fuhr mit seinen Händen an ihrer Hochsteckfrisur entlang. Sabine schloss die Augen und öffnete den Mund.

      Sie wurde erst aufmerksam, als der Bauunternehmer in einen Schwall von Kühle hinein rief: „Bitte nicht.“ Es war kaum zu glauben, dass die junge Frau neben der Fahrertür die große Waffe in ihren Armen überhaupt halten konnte. Es musste Kriegsgut sein. Sie trug Zöpfe und sprach nicht.

      Sabine hatte einen guten Blick auf den Korb, in dem sich etwas bewegte und das Fahrrad, das an einer Tanne lehnte, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. Die junge Frau war beiseite gesprungen, nachdem sie die Handbremse gelöst hatte. Der Bauunternehmer schrie etwas, Sabine warf sich gegen die Beifahrertür. Die junge Frau verfolgte mit dem Lauf der Waffe den Wagen, der eine Schneise in den Hang pflügte, dann abhob und sich überschlug, immer wieder überschlug, bis er weit unten im Tal von einer mächtigen Eiche aufgehalten wurde.

      Ein tragischer Unfall, sagten die Rettungskräfte. Tragisch war der richtige Ausdruck, fand jedermann. Jeder, außer einer jungen Frau, die trotz der Kälte mit einem schwer bepackten Flechtkorb über Waldwege zu Tal radelte. Manchmal, wenn sie das rauchende Autowrack an Wegbiegungen zu Gesicht bekam, stieg sie kurz ab und hielt inne.

      In solchen Augenblicken lachte sie und klatschte in die Hände.

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