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ihre Augen waren erloschen. Wie Glasmurmeln irrten sie in ihren Höhlen herum. Die Nackte war mit Kürbisfleisch besudelt. Ein Beil lag in der Nähe. Den Kürbis konnte man nicht finden. Alles war rätselhaft und skandalös. Man versuchte noch den Verstand von Elfriede zurückzuholen, als man ihr den Feldpostbrief ihres Mannes vorlas, in dem er ankündigte, überlebt zu haben und bald auf Fronturlaub zurückzukommen. Elfriede stierte nur mit ihren Glasmurmelaugen und leierte Unzusammenhängendes heraus. Dann lieferte man sie in eine Anstalt ein.

      Viktor besuchte Elfriede. Er war nicht nachtragend, nachdem er seine Arbeit gemacht hatte. Einmal brachte er Elfriede ein aus Pappe gestanztes Quartett mit. Es war ein Häschenquartett. Die Schwestern fanden, dass dies eine nette Geste sei. Elfriede aber schrie. Vielleicht hatten sie die Karten an etwas erinnert.

      Viktor zuckte die Schultern. Er wollte noch nach Hedwig sehen. Für sie hatte er ein lebendes Kaninchen ausgesucht.

       III.

      Das Wohnstift hatte eine Eigenwahrnehmung, die sich von der Zeit der Planung bis zur Fertigstellung immer mehr von der Wirklichkeit entfernte. Bei der Ausschachtung des Fundaments wäre es noch damit einverstanden gewesen, als konfessionelles Altenheim bezeichnet zu werden. Das Gießen von Fundamenten war keine glamouröse Tätigkeit. Nackter Beton und rostige Eisenfinger in einem schmierigen Erdloch berechtigten nicht zu hochfliegenden Plänen. Noch konnte es sich nicht vorstellen, dass sich zu den kahlen Wänden und den roh verlegten Kabelschächten ein dauerhafter Glanz gesellen könnte.

      Eine erste Sinnesänderung erfuhr das Wohnstift mit der Fertigstellung des Rohbaus. Nicht, dass die über sechs Etagen nach oben verlängerte Tristesse Anlass zu einem beginnenden Standesdünkel gegeben hätte. Leer klaffende Fensterhöhlen, nachlässig eingepasste Bautüren und ungeschlachter Putz ließen keine unmittelbare Besserung der Situation erwarten.

      Was die Erwartungshaltung des Wohnstiftes änderte, war die sachte einsetzende Werbekampagne. In der Lokalpresse erschienen Anzeigen. Es war von der Fertigstellung erstklassiger Altersruhesitze die Rede. „Erstklassig“ klang vielversprechend. Es war eine Vokabel, die sich nicht gut mit „Altersheim“ kombinieren ließ. „Ruhesitz“ hingegen war die geadelte Variante. Sie bürgte für glattgesichtige, frisch frisierte und vitale Bewohner, für aktive Senioren in der Blüte der Zerfallsphase. Sie ließ den Bodensatz der Desorientierten und Gramgebeugten hinter sich zurück. „Ruhesitz“ war der Aufstieg in die gehobene Liga. „Leben mit Genuss“ war das Motto. Krankheit und Sterben rückten aus dem Fokus. Das Stift begann freier zu atmen.

      Im nächsten Schritt streifte man die alten Gewänder vollends ab. Die konfessionelle Ausprägung des Stiftes wurde zugunsten einer kantenlosen, zukunftsorientierten Betreibergesellschaft aufgegeben und dem Stift übergestülpt. Soziale und kirchliche Verantwortung für den Nächsten wichen einer Managementidee vom renditestarken Wohnen in der genussorientierten zweiten Lebenshälfte. Aus dem immer noch schlichten „Altersruhesitz“ wurde eine in großen Lettern angepriesene „Seniorenresidenz am Stadtpark“.

      Das Stift war an der Spitze angekommen. Der Stadtpark war einige Blocks entfernt und hatte seinen Namen nicht verdient. Aus den oberen Stockwerken des Stiftes konnte man vereinzelte Blicke auf dichte Baumkronen erhaschen, aber die Magie der Werbetrommeln tat ein Übriges und machte die Erwartung auf verschlungene Spazierpfade, auf Vogelgezwitscher und eine zahme Eichhörnchenpopulation lebendig. Der Stadtpark selbst war eine eher überschaubare und blasse Angelegenheit. Ebereschen und Eichen verteilten sich über ein buckliges Areal. Drei Pfade wanden sich an Parkbänken vorbei und die aufgestellten Mülleimer quollen zu jeder Zeit vor Verpackungsmüll über, ehe sich die Stadtreinigung nach langem Zögern dazu bequemte, ihnen vorübergehende Erleichterung zu verschaffen.

      Die Realität änderte nichts an dem Hochgefühl des Stiftes. Neu eingekleidet und auf Wirkung gebürstet, lebte es sein Leben als Residenz. Die Zeichnungen des Bauträgers bewiesen, dass es zu Recht stolz war auf seine neue Identität. Man hatte die Zeichnungen von einem Künstler kolorieren lassen. Sie waren frisch und optimistisch. Der Park schien dichter und einladender zu sein, als man ihn in Erinnerung hatte. Er grenzte mit seinem Saum direkt an das gläserne Eingangsportal der Residenz. Holz, Chrom und Glas gaben sich ein Stelldichein und verwandelten den Neubau in glänzende Fluchten. Prächtig ausgeleuchtete Wohnungen mit erlesenen Möbeln lockten. Man plante Shops, Sportmöglichkeiten und ein Casino. Kein Kasino mit „K“, sondern ein solches mit „C“. Zerstreuung auf höchster Ebene. Bestnoten bis zum letzten Buchstaben. Gestyltes Alter und dienstbare Geister in einem verborgen liegenden Versorgungs- und Pflegetrakt. Dafür suchte man Investoren. Man nannte die Klientel Investoren.

      Viktor war einer von ihnen. Viktor war nicht beunruhigt, weil er seine Kräfte schwinden sah. Er ließ sich auch nicht von der Fassade der Einrichtung blenden. Er war als nüchterner Pragmatiker in schwierigen Zeiten aufgewachsen und würde als solcher von der Bühne abtreten. Er hatte seinen Weg gewählt. Wo andere sich bemühten, tiefe Fußstapfen zu hinterlassen, die nur schwer zu verwischen waren, bemühte sich Viktor darum, seine Abdrücke zu tilgen, so gut er es vermochte. Er war gut darin, sich am Rand des Geschehens aufzuhalten und keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Deshalb war er erfolgreich in seinem Beruf und seine Arbeitsethik färbte auf sein Privatleben ab.

      Natürlich hatte sich Viktor verschiedene Objekte angeschaut. Wenn man ihre vollmundigen Versprechen und aufwendigen Fassaden auf das Wesentliche reduzierte, waren sie alle Sterbehilfeeinrichtungen mit geschulten Lächelgesichtern und einem medizinischen Apparat, der reibungslos funktionierte. Je nach Einrichtung erkaufte man sich Obdach und Nahrung, man erkaufte sich professionelle Herzlichkeit und geschultes Mitgefühl. Man konnte kaufen, was immer man sich leisten konnte, bis man sich seine individuelle Illusion von Familie zusammengestellt hatte.

      Viktor wusste all das. Das Stift mit seiner neu gewonnenen Selbsteinschätzung konnte ihn nicht täuschen. Er machte sich keine Illusionen. Sein Beruf war es, andere von ihren Illusionen zu befreien.

      Die Seniorenresidenz am Stadtpark sollte es sein, weil Hedwig es wollte. Viktor konnte Hedwig keinen Wunsch abschlagen. Sie hatte noch immer das Gemüt eines kleinen Mädchens, dessen Zöpfe dünner geworden und ergraut waren. Sie trug noch immer den gleichen Flechtkorb bei sich, der mit den Wunden des Alltags übersät war und sich von seinem Griff zu lösen drohte. Viktor hatte mehrfach versucht, Hedwig einen anderen Korb schmackhaft zu machen. Er hatte ihr geduldig erklärt, dass man verdiente Veteranen ruhen lassen musste, wenn ihre Zeit gekommen war. Er hatte ihr Körbe präsentiert, die raffiniert ausgestattet und mit erlesener Handwerkskunst gefertigt waren. Hedwig hatte genickt und die Körbe beiseite gestellt. Ihre braunen Augen und die aufgeworfenen Lippen sprachen ihre eigene Sprache.

      Als Hedwig mehrere Dutzend Körbe besaß und die Ansammlung lästig zu werden begann, kapitulierte Viktor. Er kapitulierte immer vor Hedwig. Hedwig wusste das. Im entscheidenden Moment setzte sie ihr strahlendes Lächeln auf und sah Viktor mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck an. Er war ihr Held, ihr Spieleerfinder, ihr Schutzengel. Er war gut zu ihr und sie schenkte ihm ihre ganze Zuneigung. Sie gab sich damit zufrieden, dass Viktor in ihrer Nähe war. Sie verstand, warum er sie nicht zu sich holen konnte. Er hatte einen fordernden Beruf. Für die Zeiten ohne Viktor hatte Hedwig ihre Kaninchen. Sie waren ein guter Zeitvertreib.

      Viktor dachte an das Jahr, als er der Kommission gegenübersaß. Es war ihm lästig, sich für einen Platz in der Seniorenresidenz bewerben zu müssen, aber so waren die Regeln. Das Alter brachte eine Fülle von Regelwerken mit sich. Das selbstbestimmte Leben verkroch sich allmählich in wenige Winkel. Der Rest wurde in Verhaltensvorschriften verpackt, wie sie nur für Kinder und Alte galten.

      Eine grauhaarige Dame mit strengem Blick und schmalen Lippen, die selbst nur einen Gänseschritt vom Alter entfernt war, fragte Viktor, was ihn nach seiner Ansicht qualifiziere, in der Residenz wohnen zu dürfen. Der wie ein Theologe wirkende Mittvierziger trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Er studierte seine Papiere und fragte Viktor nach dessen sozialem Engagement. Er machte den Eindruck, dass er jeden Bewerber nach dem sozialen Engagement fragte. Der Leiter der Residenz, ein löwenmähniger Mensch mit einer dröhnend jovialen Stimme wies darauf hin, dass das Haus bei allen Freiheiten, die man den Bewohnern zu gewähren bereit sei, Regeln habe. Er dehnte die Vokale, als wolle er das

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