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war, waren die äußeren Umstände von minderem Interesse.

      Er wusste, dass die Frau ihre Einkaufstüten quer über den belebten Parkplatz zur Rückseite des klobigen Gebäudes tragen würde, wo sie auf einem unbefestigten Gelände ihren Kombi parkte. Sie scheute Menschenansammlungen. Das hatte sie mit dem alten Mann gemeinsam. Beide hatten ihre Gründe dafür. Ein Autoradio plärrte einen Schlager über die Wagendächer. Die trotzige Stimme eines Jungen schrie nach seiner Mutter. Der anschwellende Heulton begleitete den alten Mann, der mit gesenktem Kopf das Gebäude umrundete. Er würde schneller sein als die Frau.

      Die Nacht hatte das Brachland eher erreicht als den Rest der Stadt. Sie verschluckte Licht und Geräusche und ersetzte sie durch die Sprache der Dunkelheit. Der alte Mann war vorbereitet. Der massige Leib eines Lastwagens bot ihm Flankenschutz. Der Mann lehnte sich gegen das Führerhaus. Der Kombi der Frau bildete mit wenigen anderen Wagen eine zahnlückige Formation.

      Der alte Mann rückte seine Brille zurecht. Seine Aufmerksamkeit galt einem Unterschlupf unter einer Laderampe. Er nahm nichts Außergewöhnliches wahr, aber seine Ahnungen trogen ihn nie. Das Jucken in der Armbeuge verhieß nichts Gutes. Es sei eine nervöse Reaktion, bescheinigte ihm ein Hautarzt, der ihm eine Salbe aufschrieb. Der Mann benutzte die Salbe nie. Er begriff das Jucken als Lebensversicherung. In seinem Beruf konnte man nicht genug Lebensversicherungen haben.

      Er erkannte die Frau an ihrem Schritt. Sie ging schnell und verlangsamte ihr Tempo auch in der Dunkelheit nicht. Der Kombi reagierte auf das Signal des Schlüssels mit einem Aufblenden der Scheinwerfer, die zwei breit streuende Lichtkegel in die Dunkelheit stanzten.

      Der alte Mann sah den Jugendlichen zuerst. Das Jucken in seiner Armbeuge hatte an Intensität zugenommen. Die Frau stieß einen kleinen Schrei aus und blieb stehen. Die Scheinwerfer des Autos trafen auf zwei breitbeinig dastehende Männerbeine. Eine körperlose Stimme sagte: „Lass uns mal sehen, was du eingekauft hast.“ Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Es war eine junge, kraftvolle Stimme. Die Frau drehte Hilfe suchend ihren Oberkörper, aber ihre Beine bewegten sich nicht. Der alte Mann konnte ihren Atem hören. Es war der Atem eines verängstigten Vogels.

      Eine Hand wischte durch die Lichtbarriere und krallte sich in eine der Plastiktüten. Die Frau würde schreien. Gleich würde sie schreien. Schreien war schlecht fürs Geschäft. Ein Schrei war der Tod jeder Diskretion. In seinem Beruf konnte der alte Mann keine Schreie gebrauchen. Irgendwo, weit oben auf seiner Checkliste war verzeichnet, dass Schreie zu unterbinden waren. Der alte Mann unterband. Es war eine seiner einfachsten Übungen.

      Die Frau schrak zusammen, als er sich von der Seite näherte. Sein Gang war fast unbekümmert, so als wolle er sich eine lohnenswerte Vorführung aus der Nähe besehen. Mit heiterer Stimme fragte er: „Darf ich den Herrschaften beim Tragen helfen?“ Der alte Mann hatte ein Lächeln aufgesetzt und wandte sich den gut ausgeleuchteten Männerbeinen zu. Entschuldigend hob er eine Hand und sagte: „Keine Sorge. Ich möchte nicht lange stören. Natürlich weiß ich, dass ich ein nerviger Alter bin, der am besten zum Teufel gehen sollte“. Er machte eine kurze Pause und fügte hinzu: „Vielleicht mache ich das. Nur nicht hier und nicht heute. Iucundi acti labores“. Seine Stimme hatte einen anderen Tonfall angenommen. Sie klang belustigt und hob und senkte sich in perfektem Übereinklang mit der Stahlrute, die einen Halbkreis beschrieb und das Handgelenk des Jugendlichen zertrümmerte, der noch immer die Einkaufstüte der Frau umklammert hielt.

      Der alte Mann beherrschte die Choreografie, die sich Stahlruten wünschen, in Perfektion. Mit spielerischer Leichtigkeit schnellte er ihr verdicktes Ende gegen die Schläfe des ziegenbärtigen Gesichtes, das mit hervorquellenden Augen und einem ungesund roten Teint in die Lichtkegel fiel. Das Geräusch war kaum nennenswert. Ein ersticktes Gurgeln, ein trockenes Knacken und ein Körper stürzte einem zertrümmerten Handgelenk hinterher. Kein Schrei. Eine saubere Operation. Der alte Mann erlaubte sich ein Lächeln.

      „Angenehm sind getane Arbeiten“, sagte er sanft, als er sich der Frau zuwandte. Er streckte seine Hand aus. Die Stahlrute war verschwunden. Mit der Hand vollführte er eine bittende Geste. Er verstand sich auf bittende Gesten. Er war eine vielschichtige, gereifte Persönlichkeit mit großer Menschenkenntnis. Menschenkenntnis war sein großes Kapital.

      Der Mund der Frau stand offen. Ihre weit geöffneten Augen starrten auf das Bündel Mensch zu ihren Füßen. Sie würde nicht schreien. Der Schrei war in ihrem Hals erstickt und würde sich nicht neu formieren. Der Schock hatte das Adrenalin verdrängt. Ohne Adrenalin kein Schrei. Der alte Mann wusste das. Er wusste auch, wie er weiter vorzugehen hatte.

      „Angenehm sind getane Arbeiten“, wiederholte er. Seine Stimmlage war warm und einladend. „Cicero, aus De finibus“, vollendete er. Die Frau drehte ihm ihren Kopf zu. Trotz ihrer Blässe sah sie attraktiv aus. Das ungebärdige Kurzhaar ertrank in Strähnchen und die aufgeworfene Oberlippe zeugte davon, dass sie über einen starken Willen verfügte. Ein apartes, fein geschnittenes Gesicht, in das sich die gelebten Jahre eingegraben hatten.

      Der alte Mann kannte das Gesicht. Er hatte sich in den letzten Wochen mit nichts anderem beschäftigt. Mit dem Gesicht, mit der Frau und den Aufzeichnungen, die die Frau sezierten wie einen kostbaren Gegenstand. Er konnte nicht arbeiten, wenn er nicht ausreichend vorbereitet war.

      Er berührte den Arm der Frau. Sie schrak zusammen. Ihre Augen blickten verständnislos. „Der lateinische Satz“, sagte der alte Mann geduldig. „Es ist die Übersetzung eines Ausspruchs von Cicero“. Was er nicht sagte, war alles andere, was mit dem Satz zusammenhing. Es waren die alten Wahrheiten aus dem Handbuch für die Berufspraxis, die er in all den Jahren seiner beruflichen Tätigkeit zusammengetragen, geprüft und für gut befunden hatte. Er hatte damit begonnen, sie zu ordnen und in eine Reihenfolge zu bringen. Es war sein Privatvergnügen. Das harmlose Vergnügen eines Menschen, der mit seinem Einzug in ein städtisches Projekt „Betreutes Wohnen“ einen Lebensabschnitt begann, der Zeit und Hoffnungslosigkeit freisetzte.

      Der lateinische Satz gehörte zu der Kategorie „Ablenkung“: „Ist man körperlich unterlegen und reicht der Überraschungseffekt nicht aus, ist es angebracht zu reden und das Gegenüber abzulenken, um mit einer gezielten Aktion in Vorteil zu kommen.“

      Der alte Mann hatte mehr als einmal den praktischen Wert dieses Merksatzes testen können. Latein erbrachte die beste Wirkung. Es erzeugte eine unerwartete Wendung von sperriger Exotik und fiel wie eine Barriere in die Situation. Dem geübten Verwender verschaffte es wertvolle Sekunden. Der alte Mann war geübt. Er hatte den Effekt perfektioniert. Er und die Stahlrute, die vertraut und beruhigend in seiner Hand lag. Mehr brauchte es nicht. Nur sie beide und Cicero.

      Behutsam führte er die Frau zu ihrem Wagen. Er hatte ihr die Einkaufstüten abgenommen. Er redete noch immer beruhigend auf sie ein. Die Stadt ließ sie alleine. Der alte Mann schaute sich um. Es war, wie es sein sollte.

      Die Frau war ein leichtes Gewicht in seinem Arm. Sie kam ihm kleiner und schutzloser vor als er sie in Erinnerung hatte. Dieses Phänomen hatte er schon öfter erlebt. Menschen, die in Aufzeichnungen auferstanden und durch Beobachtung fixiert wurden, schienen aus der Nähe anders und fremd. Er hatte gelernt damit umzugehen. Er konnte keine Zeit mit ihnen verbringen. Nicht genug Zeit, um sie kennenzulernen.

      Er wollte sich nicht beschweren. Jeder Beruf brachte Probleme mit sich.

      „Sind Sie ein Schutzengel?“ Die Frage kam zögerlich. Eine verwischte, atemlose Frauenstimme, der man die Autorität abgeschliffen hatte. Er öffnete die Wagentür und setzte die Frau behutsam auf den Beifahrersitz. Er lächelte und rückte seine Brille zurecht. Er liebte den Augenblick des Erkennens.

      Es war, als habe er eine Bühne betreten und das Scheinwerferlicht richte sich auf ihn vor einem Auditorium, das aus einer Person bestand. Einer Person, deren volle Aufmerksamkeit nur ihm gehörte.

      „Ellen“, sagte er und streckte die Hand nach dem Wagenschlüssel aus. „Ellen, wir sollten fahren“. Mehr sagte er nicht. Mehr brauchte er nicht zu sagen. Die Frau verstand. Sie umschlang ihren Oberkörper mit den Armen und begann zu weinen. Der alte Mann beobachtete sie mitfühlend. Er war sicher, dass seit vielen Jahren niemand Ellen mit ihrem richtigen Namen angesprochen hatte. Ellen gehörte der Vergangenheit an. Die Erinnerung an sie war verschüttet.

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