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Existenz auslöschte. Man hatte ihnen so vieles versichert.

      Das neue Leben konnte mit den Versprechungen nicht Schritt halten. Die Versprechen eilten voraus wie junge Fohlen und galoppierten davon, sobald die Zeugenaussagen erfolgt waren. Ein neuer Ausweis, eine neue Stadt, eine veränderte Biografie. Das war alles. Dann war man alleine mit der Welt, die mit feindlichen Augen zurückstarrte. Die Augen verrieten, dass man ausgeliefert war. Die letzte Zuflucht blieb der Schutzengel.

      „Wenn Sie sich unsicher fühlen, wenn Sie sich bedroht fühlen, wenn Sie in eine ausweglose Situation geraten – dann werden Sie den Schutzengel sehen. Er wird anders aussehen, als Sie glauben. Normaler. Unauffälliger. Vielleicht die Frau mit dem Kinderwagen, vielleicht der junge Mann mit den Rastalocken und der Strickmütze auf dem Kopf. Vielleicht ein alter Mann, der die Tauben füttert“. „Vielleicht ein alter Mann …“, hatte der Polizeipsychologe gesagt und dabei seine Stirn in Falten gelegt.

      „Sie werden ab einem bestimmten Zeitpunkt daran zweifeln, dass der Schutzengel wirklich existiert. Zweifeln Sie nicht daran. Er wird im richtigen Zeitpunkt eingreifen und einen untrüglichen Beweis seiner Existenz liefern. Sie werden sehen“. Der Psychologe breitete die Hände aus und ließ ein gewinnendes Lächeln darauf fallen. Er hatte seine Arbeit getan.

      Die Frau bemühte sich, tief zu atmen. „Ellen“, hatte der alte Mann gesagt. Nur der Schutzengel konnte ihren wirklichen Namen wissen. Wie behände und professionell der Mann gewesen war. Wie seltsam sein Auftreten und wie sorgsam er sich um sie kümmerte. Ellen fuhr sich über die Augen.

      Der Schutzengel hatte sie diskret ihren Tränen überlassen und war zu dem reglos auf der Erde liegenden Mann gegangen. Er beugte sich über ihn und schien ihn zu untersuchen. Sein weißes, dichtes Haar war in der Dunkelheit gut sichtbar. Mit einer Handbewegung bedeutete er Ellen die Scheinwerfer zu löschen. Mit einem Schlag rückte die Dunkelheit an den Wagen heran. Die Fassade des Kaufhauses verschwand, der am Boden Liegende verschwand und die Besorgnisse der Frau verschwanden. Heute Nacht würde sie keine Albträume haben. Sie würde nicht hinter den Gardinen auf die Straße hinausspähen auf der Suche nach Augenpaaren, die auf sie gerichtet waren. Sie würde ein Stück ihres Lebens zurückerhalten. Ein Stück von Ellen. Und sie hoffte, dass mit dem unerwarteten Auftauchen des Schutzengels ein neuer Lebensabschnitt für sie beginnen könnte.

      Als sich die Fahrertür öffnete und der alte Mann umständlich seine Kleidung abklopfte, war Ellen ganz in Gedanken versunken. Ihr Tagtraum war kurz und intensiv. Er handelte von banalen Dingen. Einem geregelten Familienleben und Kindern. Ja, Kinder wären gut. Und ein nettes Haus. Nichts Luxuriöses. Nur vier Wände Sicherheit und ein Ende der Flucht. Mit einem Schutzengel in der Nähe würde das möglich sein.

      „Er wird bald wieder auf den Beinen sein“, sagte der Mann und wies in die ungefähre Richtung des Liegenden. „Bevor wir fahren, muss ich Sie jedoch bitten, noch einige Formalien mit mir durchzugehen“. Entschuldigend zuckte er die Achseln. „Sie wissen, wie es bei Behörden zugeht. Auch Schutzengel haben übergeordnete Behörden. Auch sie müssen Formulare ausfüllen und Berichte schreiben“. Der Alte lächelte wehmütig. Früher musste er ein attraktiver Mann gewesen sein, dachte Ellen. Jetzt war sein Gesicht faltig und pigmentiert um eine eingefallene Mundpartie. Wenn er lächelte, konnte man sehen, dass er ein Gebiss trug.

      Die Augen des alten Mannes ruhten auf der Frau. Es waren forschende Augen. „Schutzengel gehen nicht in Pension“, sagte der Mann, als ob er die Gedanken der Frau erraten hätte. „Wir können es uns nicht erlauben. Es gibt zu wenige von uns und zu viele von euch“. Er tätschelte die Hand der Frau. „Wollen wir mit den Personalien anfangen?“

      Ellen beantwortete die Fragen zu ihrer Person wahrheitsgemäß. Es erstaunte sie, wie gelassen und souverän der alte Mann seine Arbeit tat. Nichts verriet, dass ihn die Routinebefragung langweilte. Immer wieder nickte er bekräftigend, wenn Ellen seine Vermutungen bestätigte. Mit einem leichten Seufzen lehnte er sich zurück und schloss die Augen. „Kein Zweifel“, sagte er. „Ellen ist Sophie und Sophie ist Ellen.“ Mit seinen Worten klang diese Feststellung endgültig.

      „Kein Zweifel“, sagte er noch einmal und beugte sich zu der Frau hinüber. Er umfasste die Rückenlehne des Beifahrersitzes und näherte seinen Mund dem Ohr der Frau. Mit kaum hörbarer Stimme sagte er: „Als im ausgehenden 18. Jahrhundert die Franzosen aus Kanada die amerikanischen Pelztiergegenden betraten, kam anfänglich, so wird erzählt, jeden Sommer ein Priester, um die Händler und ihre Männer in ihren religiösen Pflichten zu unterweisen und zu ihnen und den Eingeborenen in lateinischer Sprache zu predigen. Denn Latein war die einzige Sprache, welche der Teufel nicht verstand und auch nicht zu erlernen vermochte.“

      Die Gesichter des alten Mannes und der Frau, die früher einmal Ellen gewesen war, berührten sich fast, als er sie erschoss. Er hatte die Kleinkaliberpistole hinter ihrem Ohr angesetzt. Er wusste, dass die Kugel nicht austreten würde. Er beherrschte seinen Beruf, auch wenn er seine dunklen Seiten hatte.

      Sein Beruf war der eines Todesengels.

       II.

      Es war mehr als sechzig Jahre her und es herrschte Krieg, als der Todesengel seine ersten Schritte machte, die in Richtung seines späteren Berufs wiesen. Es sollte eine Berufung werden, aber das wusste damals noch keiner. Noch nicht einmal der Todesengel selbst. Und als er es wusste, durfte er das Wissen mit niemandem mehr teilen. Nicht mit den Lebenden jedenfalls.

      Damals war er acht Jahre alt, ein hoch aufgeschossener Junge mit schmalem Gesicht und verschorften Knien, der auf den Namen Viktor hörte. „Viktor“ war ein beinahe revolutionärer Name, anmaßend und ganz aus der Zeit gefallen. Andere Eltern nannten ihre Kinder Ernst, Adolf oder Rudolf. Sie entschieden sich für zukunftssichere, deutschtreue Namen, die einen goldenen Glanz ausstrahlten. „Viktor“ war ein rückwärts gerichteter Name, im besten Falle römisch, eine Bezeichnung für „Sieger“, obwohl jedes Kind wusste, dass die Römer ihre Siegeszüge einer bodenlosen Dekadenz opferten und jetzt die Zeit der Arier angebrochen war. „Viktor“ war eine Hypothek von Namen, nicht gerade entartet, aber antiquiert und für einen Jungen mit Ambitionen unbrauchbar.

      Es war jedermann in dem kleinen Dorf klar, dass aus Viktor einmal ein Ingenieur werden würde. Ingenieure betrieben geadelte Handwerkskunst. Sie waren Arbeiter der Faust und des Kopfes, Zwillingsgeburten, die Deutschland zu neuer Größe erheben würden. Viktor hatte einen flinken Verstand, den er fest in seinem Kopf einschloss. Wenn er bastelte und Zeichnungen anfertigte, sah er verdrießlich aus. Er war kein unbeschwerter Junge, sondern ein Erwachsener in der Kutte eines Kindes, wie sein Vater zu bemerken pflegte.

      Dieser Viktor also war ein wesentlicher Bestandteil des dörflichen Kinderlebens. Blanke Beine rannten über staubige, ungeteerte Straßen. Der Verkehr bestand aus Pferdefuhrwerken und Traktoren, die tiefe Furchen in die unbefestigten Feldwege drückten. Der Krieg kam über die Volksempfänger in die Wohnzimmer. Er berichtete von Heldentaten, von Eroberungen und der Überlegenheit der germanischen Rasse. Er eilte von Deutschland weg, entfernte sich in riesigen Sprüngen und verklärte sich zu einem stolz glühenden Epos, bevor er mit Macht zurückkehrte und das Vaterland mit unerwünschter Aufmerksamkeit überschüttete.

      Viktor war zu dieser idyllischen Zeit der Spieleerfinder der Kinderschar. Man spielte Soldat, man spielte Autorennen, man spielte Verstecken. Viktor aber stand mit einem Ast in der Hand vor einer Sandkuhle und zeichnete den Ablauf eines namenlosen Spiels, das er alsbald in die Gemüter der anderen Kinder verpflanzte. Es gab Rollenspiele und komplizierte Anweisungen. Es gab Würfelspiele nach ausgefeilten Regeln und alles funktionierte. Nicht ein einziges Mal wurde Viktors Kompetenz infrage gestellt. Die älteren Jungen standen um ihn herum und studierten sein verdrossenes Gesicht während der Zeichenphase. Immer wenn Viktor mit einem Aufseufzen sein Aststück weglegte und ein Hauch von Zufriedenheit seine jugendlichen Züge glättete, kam Bewegung in die übrigen Kinder. Sie tuschelten und mutmaßten, traten unruhig von einem Bein auf das andere und waren begierig, das neue Spiel aus dem Sand in die Realität zu katapultieren. Viktor enttäuschte sie nie. Er hatte nur eine Bedingung. Alle mussten mitspielen dürfen. Das brachte ihm die Zuneigung der Mädchen ein.

      Eines der Mädchen war Hedwig. Sie entstammte einem Bauernhof,

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