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blitzblankes Ding, das noch nicht zur Schule ging. Hedwig verehrte Viktor und sie tat es nicht heimlich, sondern mit erstaunten Augen und perfekt aufgefädelten Milchzähnen.

      Hedwig hatte ein Kaninchen, an dem sie ebenso sehr hing wie an Viktor. Sie transportierte es in einem Flechtkorb, den sie mit einem roten Tuch abdeckte, das mit weißen Herzen übersät war. Hedwig schleifte den Korb mehr als sie ihn trug. Er schlug gegen ihre stämmigen Beinchen und sorgte für spöttische Bemerkungen der anderen Kinder. Er brachte ihr den Rufnamen „Rotkäppchen“ ein. Hedwig blieb unbeirrt. Für sie zählte nur, was Viktor sagte, Viktor mit seinem Zauberast, mit dessen Hilfe er magische Spielanleitungen in den Sand malte. Und Viktor war ein vollendeter Kavalier. Im Normalfall reagierte er unwirsch, wenn ihn eines der Kinder beim Komponieren neuer Spielideen störte. Wenn die kleine Hedwig allerdings mit ihrem vorwitzigen Zeigefinger auf eine seiner unvollendeten Zeichnungen wies und aufgeregt herausplapperte, legte er sorgsam seinen Schreibast beiseite und ging in die Hocke. Er nahm sich immer die Zeit, das schlappohrige Kaninchen im Korb zu begutachten und Hedwig ermunternd zuzunicken. Dann fasste er das Mädchen an den Oberarmen und erklärte in ernstem, geduldigem Ton, was er gerade tat. Er erklärte es nur für Hedwig. Anschließend nahm er seine Tätigkeit wieder auf, ohne die anderen eines Blickes zu würdigen.

      Die ungewöhnliche Freundschaft der beiden Kinder überdauerte auch die unglückliche Phase mit Frau Schneider. Frau Schneider war eine Naturerscheinung. Sie verfügte über eine imposante, ausladende Figur und eine durchdringende Stimme mit schrillen Ansätzen zur Hysterie. Viktor hörte einmal seinen Vater sagen, Frau Schneider sei eine „fette Aster“. Viktor rätselte, was an diesen langstieligen Blumen mit ihren eleganten Strahlenkränzen „fett“ sein mochte. Ein Lexikon verriet ihm, dass Astern zu der Gattung der Korbblütler gehörten. Das war alles.

      Einer der älteren Jungen, dem er die rätselhafte Bemerkung seines Vaters zutrug, war sich sicher, dass der Vater „fette Atzel“ gesagt haben musste. Was eine „Atzel“ war, konnte allerdings auch er nicht erklären. Erst der Naturkundelehrer schaffte Abhilfe. Auf die Frage, was eine „Atzel“ sei, antwortete er, dies sei ein umgangssprachlicher Ausdruck für einen heimischen Vogel, die Elster. Viktor gab sich einstweilen zufrieden. Er hatte bislang nur von diebischen Elstern gehört. In seinen Augen waren Elstern auch nicht wirklich fett. Es waren nach seinem Dafürhalten pralle, lackschwarze Vögel mit prachtvoll dekorierten Schwanzfedern und aufmüpfigen Knopfaugen. Sie hatten auch keine Ähnlichkeit mit Frau Schneider, denn Frau Schneider war fett. Daran bestand kein Zweifel.

      Zu dem Sandsteinhaus der Schneiders gehörte ein Rasen. Nicht viele Dorfbewohner konnten sich einen Rasen leisten. „Zierrasen“ war ein Wort, das noch erfunden werden musste. Die Schneiders konnten sich diesen Rasen, der nichts als Rasen sein durfte, nur leisten, weil ihnen der einzige Steinbruch der Gegend gehörte. Damit gehörten sie zu den Neureichen und Neureiche brauchten Rasen. Kaninchen liebten Rasen, der mit Löwenzahn bewachsen war und Hedwig liebte ihr Kaninchen. Es war nur folgerichtig, dass Hedwig ihr Kaninchen aus dem Korb hob und auf die saftige Löwenzahnwiese setzte.

      Frau Schneider hatte einen ausgeprägten Sinn für Eigentum. Weitaus weniger Sinn hatte sie für Kaninchen und impertinente, kleine Mädchen. Sie stapfte mit vorgereckter Leibesfülle aus dem Haus, aus voller Kehle zeternd und richtete ihren Medusenblick auf Kind und Haustier. Mit biblischem Zorn sprach sie Verbote aus und belegte jede weitere Zuwiderhandlung mit den drakonischsten Strafen.

      Es kam, wie es kommen musste. Kleinen Mädchen war damals wie heute eine Art angeborener Trotz zu eigen. Sie hatten ihre eigene Vorstellung von Gerechtigkeit und den Grundbedürfnissen von Kaninchen.

      Ein Bauer, der sein nahe gelegenes Feld pflügte, erzählte bei einem Bier in der Dorfkneipe, dass er das Mädchen mit den braunen Zöpfen mit untergeschlagenen Beinen auf der Wiese vor dem Haus der Schneiders sitzen sah. „Sie hatte einen Korb dabei und sprach mit ihrem Kaninchen“, sagte er und nahm noch einen Schluck Bier. Man kannte Hedwig im Dorf. Sie war ein Kind, das man gerne haben musste. Nach den Erinnerungen des Bauern kam Frau Schneider wie eine Furie aus dem Haus gestürzt. Verstehen konnte er nichts, aber er glaubte gesehen zu haben, dass Frau Schneider auf das Kaninchen eintrat, bis es sich nicht mehr bewegte. Anschließend habe sie das leblose Tier gepackt und in den Korb des Mädchens gestopft, bevor sie die Kleine an ihren Zöpfen vom Grundstück schleifte und wie einen Sack Abfall auf den Weg warf. Anfangs habe sich das Mädchen noch gesträubt, dann habe es aber ganz stillgelegen. Viel zu still.

      Eine alte Frau war die Erste, die an Hedwig vorbeikam. Sie sagte, das Mädchen habe überall Abschürfungen gehabt. Man habe unter all dem Dreck und dem Blut nicht erkennen können, was der Kleinen genau fehle. Das Kind sei bereitwillig aufgestanden. Es habe ein totes Kaninchen in den Armen gehalten. Gesprochen habe es nicht. Nur gestarrt. Mit einem unheimlichen Gesichtsausdruck gestarrt. Hedwig habe nur ein einziges Mal einen Laut von sich gegeben. Sie habe es getan, als die alte Frau versuchte ihr behutsam das Kaninchen aus den Fäusten zu entwinden. Da habe sie geschrien. Einen schrecklichen Schrei. Lang gezogen und voller Verzweiflung. Dann sei sie wieder in ihr starrendes Schweigen zurück verfallen.

      Hedwig redete nie wieder. Viktor wurde ihr Sprachrohr.

      Er wurde es Frau Schneider gegenüber. Für die Schilderung des Ablaufs der Ereignisse sollte man besser von Elfriede sprechen. Das war der Vorname von Frau Schneider. Wenn man sich so nahe kommt wie der Knabe Viktor und Frau Schneider, ist es angebracht, die besondere Nähe, die beide zueinander entwickelten, dadurch zu betonen, dass man Vornamen benutzt.

      Die Zwiesprache der beiden begann mit kleineren Ärgernissen rund um das Anwesen der Schneiders. Begonien und Stiefmütterchen gingen über Nacht ein, ein Unbekannter schoss mit einer Steinschleuder auf die Scheiben des Hauses und Elfriede Schneider litt unter rätselhaften Anfällen von Brechdurchfall. Kurz bevor die Krankheit ausbrach, glaubte sie bemerkt zu haben, dass sich jemand an den Lebensmitteln in ihrem Vorratsschrank zu schaffen gemacht hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich jedoch getäuscht. Ebenso getäuscht wie mit ihrer Vermutung, der gleiche Jemand habe das Vorhängeschloss der rückwärtigen Tür ausgehebelt und nur notdürftig wieder eingehängt. Ihren eigenen Angaben zufolge hatte Elfriede Schneider nur einen leichten Schlaf. In einer der Wachphasen habe sie einen Schatten am Fußende ihres Bettes wahrgenommen. Es sei der Schemen eines kleinen, schmalen Menschen gewesen. Sie habe gerufen, nachdem sie sich von ihrem Schock erholt hatte, aber der Schatten habe keine Antwort gegeben. Er habe nur da gestanden Sie habe den Eindruck gehabt, der Schatten beobachte sie. Ihr sei der Angstschweiß ausgebrochen und ihr Herz habe so wild geschlagen, dass sie es mit ihrer Hand umklammern musste. Ansonsten sei sie vollkommen bewegungsunfähig gewesen. Schließlich sei es ihr gelungen tief Luft zu holen und für einen Augenblick die Augen zu schließen. Als sie die Augen wieder aufgeschlagen und um sich gespäht habe, sei der Schatten verschwunden gewesen. Danach habe sie endlich das Licht anschalten können. Niemand sei im Haus gewesen. Nur das Schloss zur rückwärtigen Tür habe sie beschädigt vorgefunden.

      Elfriede Schneider vertraute sich in dieser Angelegenheit einer Freundin unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit an. Elfriede hatte nicht viele Freundinnen. Eigentlich nur eine Einzige. Sie war zugleich ihre beste Freundin und arbeitete im Dorfbäckerladen, der auch Butter, Fahrradschläuche und Wäscheklammern führte. Diese Freundin nun hatte sich als solche qualifiziert, weil sie über ein ängstliches Frettchengemüt verfügte und die Führungsrolle von Elfriede bedingungslos anerkannte. Elfriede warf voluminöse Schatten und die Verkäuferin war zufrieden mit ihrem Schattenplatz und den herablassenden Brosamen, die Elfriede ihr zukommen ließ. Manchmal wandte sich Elfriede Rat suchend an sie. Das geschah nicht oft, aber wenn es geschah, schien für die Verkäuferin die Sonne des Schneider’schen Wohlwollens und sie suhlte sich bereitwillig darin.

      Es geschah das, was der stocksteife Dorflehrer noch jahrelang bedeutsam eine „Katharsis“ nannte. Die Chronistenpflicht der krisenhaften Zuspitzung der Ereignisse übernahm unfreiwillig die Backwarenverkäuferin, denn der engwinklige Kramladen war zugleich auch der Umschlagplatz für Klatsch und Tratsch jeder Art, den die Verkäuferin aus den Mündern ihrer Kunden sog, in ihrem Kopf verwirbelte und als angereichertes Konstrukt in die Hirne der nächsten Käufer hineinblies. Die Geschichte Elfriedes war ein über Monate unangefochten an der Spitze des Dorfklatsches waberndes Gespinst von Ungeheuerlichkeiten, das man nach Belieben blähen und dehnen

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