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sich auf der Pátria einschiffte.

      In den ersten Stunden von 1975 mussten sich alle gegenseitig bestätigen, dass Senhor Manuel ein abergläubischer Prophet war, es würde kein Blutbad geben, 1961 war ebenso beerdigt wie die Toten, die es verursacht hatte. Meine Schwester machte sich davon, um mit Roberto eine Runde auf dem Motorrad zu drehen, Vater bemerkte es nicht, er hatte bereits viele Ye Monks getrunken und Mutter war barfuß und tanzte immer weiter. Ich führte Paula hinter die Palmenblätter, die die Mauern zierten, wir gaben uns fünf von den ganz langen Zungenküssen, die, bei denen man Atemnot und Schmerzen in der Kinnlade bekommt, ich hatte mir geschworen, sie nie wieder zu fragen, ob sie meine Freundin sein wolle, doch beim Küssen vergesse ich den Schwur immer, Paula sagte wieder einmal Nein, ich wurde so wütend, doch ich küsste sie wieder, Paulas Mund schmeckte nach Apfellimonade von Mission und nach Pitaia-Frucht. Zwischen den Küssen erzählte Paula mir von Nando, ihrem Ex-Freund, der in Rhodesien studierte, ein Jammerlappen, der in Schiffe und Flugzeuge vernarrt war, weswegen ich sie noch mehr hasste, ich weiß nicht, warum ich nicht aufhören konnte, sie zu küssen. Als wir wieder zu den anderen stießen, war das Fest fast zu Ende. Wir gingen nach Hause, und Vater öffnete noch eine Flasche Ye Monks, er wollte, dass wir noch einmal auf 1975 anstießen, meine Schwester tat es mit Wasser, Mutter war ganz beklommen, sie meinte, das bringe Unglück, Aberglaube, lass diesen Aberglauben, Frau, wir stießen auf 1975 an, es würde das beste Jahr unseres Lebens werden.

      Aber die Kapelle zog nie mehr vorbei. Alles rückte wieder an seinen Platz, jeder von uns in seiner Ecke, und in jeder Ecke ein Schmerz. Eine Zeit lang glaubte Vater noch, 1975 würde das beste Jahr unseres Lebens werden, alles wird gut gehen, wir werden eine Nation begründen, Pretos, Mulatten, Weiße, gemeinsam werden wir die reichste Nation der Welt errichten, besser noch als Amerika, dies ist ein gesegnetes Land, wo jede Saat aufgeht, nirgends sonst gibt es einen solchen Boden. Vater kennt die Welt überhaupt nicht und kann gar nicht wissen, ob es ein anderes Land wie dieses gibt. Genau so wenig konnte er wissen, was passieren würde. Eine Zeit lang garantierte er jedem, der es hören wollte, dass alles gutgehen werde, und dass er alles, was er besaß, darauf wetten würde. Doch die Schüsse und die Mörser hörten nicht auf, die Pretos strömten weiter von überall her, und die Weißen verließen weiter das Land, die portugiesischen Truppen wollten nicht einmal mehr etwas mit der Flagge zu tun haben, und die Kommunisten aus dem Mutterland kamen hierher. So gern er auch immer noch gesagt hätte, dass alles gutgehen werde, Vater musste irgendwann den Mund halten und aufhören, Wetten anzunehmen, auch weil es nicht einmal mehr jemanden gab, mit dem er hätte wetten können. Vater schwieg zur Zukunft und man konnte ihm ansehen, wie sehr er sich schämte, weil er sich geirrt hatte, und wie sehr er sich sorgte, weil es zu spät war, den Fehler zu beheben. Die Pretos begannen nicht sofort damit, Weiße aufs Geratewohl zu töten, aber als sie einmal auf den Geschmack gekommen waren, wollten sie nichts anderes mehr tun, und die Weißen gingen noch schneller fort. Von Tag zu Tag wurde die Stadt leerer, hätte Vater die Weißen fesseln können, damit sie nicht fortgingen, er hätte es getan, manchmal geriet er ganz außer sich, sie können doch nicht einfach so gehen, sie sollten wenigstens kämpfen, doch die Weißen wollten nur möglichst schnell zum Flughafen und ins Mutterland, was für Feiglinge, Vater wusste nicht, wen er mehr verachten sollte, die Pretos, undankbare Mörder, oder die Weißen, feige Verräter.

      Die Worte von Senhor Manuel wurden nie mehr wiederholt, es lohnte sich nicht, 1961 war ein Bubenstreich gewesen, Vater schwieg, er verspürte nicht einmal Lust, Senhor Manuel anzuklagen, als herauskam, was er getan hatte, er hatte einen nagelneuen Audi 100 S ins Mutterland verfrachten lassen, obwohl er nur die erste Rate gezahlt hatte, woraufhin Onkel Zé begann, Senhor Manuel als imperialistischen Dieb zu bezeichnen. Später kam heraus, dass der imperialistische Dieb noch viel schlauer gewesen war, er hatte nämlich Diamanten gestohlen, die seine Frau in ihrem Rocksaum eingenäht mitgenommen hatte. Die Verachtung für Senhor Manuel war wohl das Einzige, was Vater und Onkel Zé gemeinsam hatten, obwohl Onkel Zé noch mehr Grund hatte, Senhor Manuel zu hassen, einem von denen traue ich nicht über den Weg, sagte Senhor Manuel, während er auf dem Mäuerchen des Tabakladens saß, das fehlte mir noch, einem von denen über den Weg zu trauen. Für alle Leute war Onkel Zé einer von denen, doch zu Beginn war er nur der kleine Bruder unserer Mutter gewesen, der eines Tages in Uniform aufgetaucht war, mit einer Tätowierung Angola 1971 und allem, was dazugehörte.

      Mutter konnte nicht glauben, dass ihr kleiner Bruder in Uniform vor ihr stand, sie war so glücklich, dass sie Onkel Zé gar nicht durch das Gartentor ließ. Ich ging fort, als du ein Baby warst, und jetzt tauchst du als Soldat hier auf, komm herein, komm herein, und noch eine Umarmung und Onkel Zé machte mit, ohne das Paket, das er aus dem Mutterland mitgebracht hatte, abzulegen, meine Schwester und ich spähten vom oberen Treppenabsatz nach unten und konnten uns nicht entscheiden, ob wir herunterkommen sollten, niemals hätten wir gedacht, dass ein Verwandter aus dem Mutterland an unserer Tür erscheinen würde. Die Verwandtschaft im Mutterland – das waren die Briefe, die kamen und gingen, mit Namen, die noch komischer waren als die der Pretos, Ezequiel, Deolinda, Apolinário, nur dass sie im Mutterland wissen, wie man die Namen ausspricht, es sind schließlich keine matumbos, die Briefe der Verwandtschaft auf sehr dünnem Papier, vollgeschrieben mit schlecht gezogenen Buchstaben, die auf den Linien tanzten, eine Öllampe haben wir Santo Estêvão für den Schlaf von Manelinho gegeben, Cousine Zulmira hat sich mit Aníbal dos Goivos verlobt, die Schweine haben die Zigeunerkrankheit14, Zé Mateus wird während des Festes der Senhora da Graça konfirmiert werden, Onkel Zeferino ist an dem Knoten, den er im Kopf hatte, gestorben, der Frost hat uns den Weizen vernichtet, Briefe mit vielen Rechtschreibfehlern, man hatte den Eindruck, dass es im Mutterland weder das Lineal noch den Rohrstock von Dona Maria José, unserer Lehrerin, gab. Die ersten Zeilen der Briefe waren immer gleich und fast fehlerfrei, ich hoffe, dieser Brief trifft euch bei guter Gesundheit an, uns geht es Gott sei Dank gut.

      Die Verwandtschaft im Mutterland wurde uns von Mutter wie ein Schulfach oder wie der Katechismus beigebracht, mütterlicherseits, väterlicherseits, Onkel, Vettern ersten und Vettern zweiten Grades, Blutsverwandte und Angeheiratete, Tote und Lebende. Manchmal enthielten die Briefe Fotos, in grobe Wolle gekleidete Babys, die an einem runden Tisch mit Häkeldecke saßen, vom Fotoblitz überraschte Verlobte neben demselben Tisch und auf dem Tisch dieselbe Decke, Mädchen bei der heiligen Kommunion mit Rosenkranz und Katechismus in Heiligenposen, derselbe Tisch und dieselbe Häkeldecke, es gab weder einen anderen Tisch noch eine andere Tischdecke im Mutterland. Das Foto, bei dem Mutter am meisten weinen musste, zeigte die Großeltern, zwei Alte in schwarzen Kleidern, eine Großmutter mit Bart und Schnäuzer, was haben wir darüber gelacht, meine Schwester und ich, Großvater groß und gerade wie ein Prinz, ohne Daumen an der Hand, die den Spazierstock hielt, den hatte er beim Holzhacken verloren, in Mutters Erinnerungen taucht oft Feuerholz auf, meine Schwester und ich erfanden die Geschichte, dass Großvater im Krieg verletzt worden war und Mutter korrigierte uns nie vor den anderen Kindern, unser Großvater war im Zweiten Weltkrieg verwundet worden und war deshalb wichtiger als jeder andere Großvater. Mutter kaufte einen Rahmen für das Foto der Großeltern und stellte es auf den Gläserschrank, das erste und letzte Foto von meinen Eltern, Gott behüte sie. Mutter bringt es nicht fertig, das Foto der Großeltern hierzulassen, dafür kann sie das Album mit den getauften Babys, den Brautpaaren und den heiligen Kommunionsmädchen nicht mitnehmen. Wenn Vater nicht alles in Brand steckt, wird die Verwandtschaft aus dem Mutterland den Pretos in die Hände fallen, das Album, auf dessen Cover chinesische Mädchen mit Sonnenschirmen geprägt sind, und ein Seil auf der Rückseite, wenn man daran zieht, spielt eine Musik. Außerdem das Bündel Briefe, das ganz hinten im Kleiderschrank liegt, Mutter hat es mit einer Satinschleife gebunden, die sie in der Kurzwarenhandlung von Dona Guilhermina gekauft hatte, eine Frau mit so großen Brüsten, so groß, dass es die größten Brüste der Welt sein müssen, unmöglich, dass es größere Brüste als diese gibt, selbst in Amerika, wo alles größer und besser ist, gibt es wohl keine Frau, die gewaltigere Brüste hat als Dona Guilhermina.

      Endlich gelang es Onkel Zé, mit dem Paket aus dem Mutterland das Tor zu passieren, Mutter zeigte noch auf die Rosen im Garten, als Onkel Zé bereits die Treppe hinaufstieg, Mutter rief ihm aus dem Garten nach, Vorsicht, Vorsicht mit den Vasen, die Treppe war immer voller Vasen, die Vater oft herunterstieß, was für eine schlechte Idee, die Stufen mit Vasen vollzustellen, wer wird Mutters Rosen gießen, Mutter ließ die Rosen nie sterben, an den heißeren Tagen wurden die Rosen der

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