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Lebens zu reden, und ich musste mich anstrengen, um mich nicht zu schämen. Es liegt den Eltern wohl im Blut, Dinge zu tun und zu sagen, die ihren Kindern peinlich sind. Oder im Blut der Kinder, dass die Eltern ihnen peinlich werden.

      Alle sind schon fortgegangen. Meine Freunde, die Nachbarn, die Lehrer, die Ladenbesitzer, der Mechaniker, der Friseur, der Pfarrer, alle. Auch wir dürften nicht mehr hier sein. Meine Schwester beschuldigt Vater, sich nicht darum zu scheren, was uns zustoßen könnte, und wenn es nach Mutters Willen gegangen wäre, hätten wir das Land schon vor langem verlassen, sogar noch vor Senhor Manuel. Ich glaube nicht, dass Vater sich nicht um uns schert, auch wenn ich nicht verstehe, warum wir noch nicht weggegangen sind, wo uns doch jederzeit etwas Schlimmes zustoßen kann. Die portugiesischen Soldaten kommen hier kaum noch vorbei, und die wenigen, die wir sehen, tragen langes Haar und ungepflegte Uniformen, die Hemdknöpfe offen und die Schnürsenkel der Stiefel lose. Sie schlittern mit den Jeeps durch die Kurven und trinken Cucas4, als wären sie im Urlaub. Für Vater sind die portugiesischen Soldaten gemeine Verräter, aber für Onkel Zé sind sie antifaschistische und antikolonialistische Helden. Wenn Mutter und meine Schwester nicht dabei sind, sagt Vater zu Onkel Zé, anstatt antifaschistisch und antikolonialistisch wäre es gut, wenn die portugiesischen Soldaten antinutten, antibier und antihanf wären, und schon beginnt eine weitere Diskussion zwischen den beiden.

      Nach dem, was ihm passiert ist, weiß ich nicht, wieso Onkel Zé immer noch die portugiesischen Soldaten verteidigt. Womöglich sind die Ereignisse in Onkel Zés Kopf anders verlaufen, Köpfe ändern sich schnell, das passiert sogar, wenn sie nicht schwach sind wie der von Mutter. Noch heute Morgen hat dieser Tag in meinem Kopf aufgehört, dieser Tag zu sein. Mutter war dabei, Milchreis zu kochen und für einige Augenblicke verwandelte sich dieser Tag in die Sonntage von früher, in einen der Sonntage, als es noch keine Schüsse gab. Der Geruch von kochendem Reis, das Rollo in der Küche halb hochgezogen, kleine Sonnenflecken auf den grünen Kacheln, das Summen der Fliegen am feinen Netz im Fenster, Piratin, die mit dem Schwanz wedelt und darauf wartet, dass sie den Topfdeckel ablecken darf, alles wie an einem dieser Sonntagmorgen. Dass Piratin die Topfdeckel ableckt, hält meine Schwester für eine Schweinerei, bah, wie eklig. Sie zieht dieselben Grimassen, wenn ich die Hände voller Fahrradöl habe, aber die Matsche aus Avocado und Öl, die sie sich ins Haar schmiert, um ihre Locken zu glätten, stört sie nicht, eine ekelerregende grüne Schmiere, mit der sie aussieht wie ein Marsmensch. Ich weiß nicht, ob es mir jemals gelingen wird, Mädchen zu verstehen.

      Mutter goss den Milchreis in die rosafarbenen Glastassen und wollte unsere Namen mit Zimt darauf schreiben, aber ihre Hand zitterte. Sie schob die Schuld auf die Tabletten und versuchte es erneut — den Zimt zwischen Daumen und Zeigefinger, die Bögen unserer Initialen schlecht gezogen, und auch darin gab es keinen Unterschied. Unsere Initialen waren nie gut gezeichnet am Sonntagmorgen, wenn wir vom Strand kamen und uns neben dem Tank mit dem Schlauch abduschten. Piratin plantschte im Wasser, das in die Blumenbeete floss, die Strandtücher hingen an der Stachelannone, die Mutter rief aus der Küche, Vorsicht mit meinen Blumenbeeten, das Salz tötet die Rosen. Mutter mag weder Sonne noch Salz. Sie mag Rosen. Auf ihren Blumenbeeten stehen Rosen in allen Farben, Mutter schneidet sie nie ab, ich könnte keine Rose schneiden, die Nachbarinnen hörten nicht auf das, was Mutter sagte, sondern schüttelten den Kopf, Dona Glória hat wirklich Manien, was soll schlecht daran sein, Blumen zu schneiden, sie sind so schön in der Vase. Dass nur das Salz die Rosen nicht tötet, bat Mutter, doch so gründlich wir auch alles abwuschen, am Ende gab es immer kleine Pünktchen, die in den Beeten glänzten. Ein paar Rosen gingen jedes Mal durch das Salz ein.

      Mutter leckte sich den Zimt von den Fingern, als wäre er etwas Leckeres, und ging zum Koffer mit der Aussteuer, der im Nähzimmer stand, um eine Tischdecke zu holen. Der Morgen verlief genau wie jeder Sonntagmorgen. So genau, dass ich Lust bekam, in den Garten zu gehen und heimlich eine Zigarette zu rauchen. Bestimmt war auch dort alles wie früher und in den anderen Gärten grillten die Nachbarn und bestrichen währenddessen das Fleisch mit einem in Öl getunkten Kohlblatt und die Kinder der Nachbarn schaukelten auf den Reifen, die an Tauen von den Bäumen hingen und lutschten ihre großen selbst gemachten Eiskugeln. Aber Mutter kam mit dem Dahlientischtuch zurück und begann wieder zu weinen, ich werde meine Aussteuer nie wiedersehen, nie wieder werde ich dieses Tischtuch sehen. Und der Morgen wurde erneut zu unserem letzten Morgen hier, die Gärten blieben leer, in den Feuerstellen stand altes Regenwasser, die Reifen hingen bewegungslos von den Bäumen, als wären sie Augen, die in der Luft hingen und uns Fragen stellten. Unser letzter Morgen. So still trotz der Schüsse. Nicht einmal die Schüsse können das Schweigen unserer Abreise zunichtemachen, morgen werden wir nicht mehr hier sein. Auch wenn wir uns gern etwas vormachen und sagen, dass wir bald zurückkommen, wissen wir, wir werden hier niemals mehr sein. Angola ist vorbei. Unser Angola ist vorbei.

      Piratin hebt den Kopf und legt ihn wieder auf meinen Fuß. Der schwarze Fleck an ihrem rechten Auge ist der einzige auf ihrem weißen, kurzen strubbeligen Fell. Piratin empfängt uns immer mit Sprüngen wie alle Hunde, sie hat Schlappohren, die aussehen, als hätte jemand sie mit Gewalt gefaltet. Vater legt das Feuerzeug auf die Dahlien des Tischtuchs, ein Ronson Varaflame, wir haben es im Juwelierladen von Senhor Maia gekauft, der bestimmt auch schon im Mutterland ist. Vater weiß, dass ich rauche, aber ich habe es noch nie in seiner Gegenwart getan, man muss den Respekt wahren, wenn du achtzehn Jahre alt wirst, sehen wir weiter. Das Rauchen gefällt mir gar nicht so gut, aber die Mädchen stehen auf Jungen, die rauchen. Die Mädchen stehen noch mehr auf Jungen mit Motorrädern, aber Vater wird mir nie eines geben, ich muss dir Vernunft in diesen Kopf stecken, sieh nur, das hat ein Motorrad aus meinem Bein gemacht. Die Narbe sieht hässlich aus, am Knochen ist die Haut ganz zerklüftet, doch das konnte mich nicht umstimmen, das erste, was ich mir kaufen werde, wenn ich Geld verdiene, ist ein Motorrad. Bestimmt stehen die Mädchen im Mutterland auch mehr auf Jungen mit Motorrädern, Mädchen sind überall ähnlich, zumindest in solchen Dingen.

      Den Rest vom Fleisch gebe ich Piratin, sagt Mutter, als würde der Hund nicht jeden Tag unsere Reste fressen. Meine Schwester zieht das Gummiband, das ihren Pferdeschwanz zusammenhält, ab und streift es sich übers Handgelenk, wenigstens kann Piratin sich nicht beschweren, dass das Fleisch fade schmeckt, sagt sie, während sie ihr Haar mit geübten Bewegungen rafft und das Gummiband vom Handgelenk auf die offene Hand zieht, zweimal um das Haar gewunden, die kürzeren Locken entgehen ihr, blonde Locken dicht an der braunen Haut am Hals, eigentlich sehen sie schön aus, doch meine Schwester hasst sie, Afro-Haar, die Kinder im Viertel sagten ihr das, um sie zu ärgern, die Pretos haben kein blondes Haar, Mädchen nehmen alles ernst, als ob sie gerne beleidigt wären.

      Maria de Lurdes, entschuldige dich bei deiner Mutter! Wenn Vater wütend wird, ist meine Schwester Maria de Lurdes, aber in der übrigen Zeit ist sie Milucha. Die Kleine hat wenigstens ein bisschen was gegessen, unsere Mutter verteidigt uns fast immer. Vater wird wütend, wie soll ich sie erziehen, wenn du immer zu ihnen hältst, er schlägt mit der Faust auf den Tisch, das Besteck klingelt auf den Tellern, kling kling, Mutter blinzelt, es könnte ein fröhliches Geräusch sein, wie bei einem Trinkspruch, die Partys im Mutterland haben bestimmt dieselben Geräusche, kling kling, Feste sind überall ähnlich, Mutter steht vom Tisch auf, kling kling, sie stolpert über ihre hohen Absätze, ihre dünnen Beine, die Tabletten nehmen ihr den Appetit, die Nachbarinnen sind nicht mehr da, um über Mutters Kleider zu lachen, kling kling, die Nachbarinnen in den richtigen Kleidern, die von der Schneiderin aus der Burda kopiert waren und die ihre dicken Oberschenkel und Knie frei ließen, jetzt essen wir den Milchreis, sagt Mutter und stellt die Tassen vor uns ab, kling kling, sie setzt sich wieder, ihre Lippen völlig verdeckt vom rosa Lippenstift, ihre Augen noch düsterer unter dem blauen Pulver, das sie sich auf die Lider schmiert, die Nachbarinnen kommentierten, wie sich Dona Glória nur wieder geschminkt hat, die Nachbarinnen mit ihren Gutmenschengesichtern und den Lackierungen, die sie sich im Salon von Dona Mercedes auftragen ließen und die ihre Stirnpartien so hoch machten, dass sie wie Außerirdische wirkten, die Nachbarinnen mit ihren giftigen Zungen, Dona Glória, Sie sind aus dem Alter raus, in dem man das Haar lang tragen kann, die Leute werden sich noch die Münder zerreißen, gewiss wollen Sie nicht wegen einer solchen Kleinigkeit ins Gerede kommen, kling kling. Vor mir steht die Tasse mit dem Milchreis, darauf ein schlecht gezeichnetes R aus Zimt, R für Rui, L für Lurdes, M für Mário und G für Glória. kling kling.

      Vater zündet eine weitere Zigarette

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