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abschnürte.

      »Damals waren es genau sechsundvierzig.« Josh drehte den Kopf und musterte mich eingehend. »Jetzt sind es viel mehr.«

      »Willst du wirklich mitten in der Nacht auf der Straße stehen und über meine Sommersprossen reden?« Außerstande, ihm weiter in die Augen zu sehen, senkte ich den Blick auf meine Füße, die in viel zu dünnen Sneakers steckten. Die Kälte kroch an meinen Beinen nach oben und ließ mich frösteln. »Ich sollte nach Hause gehen.«

      »Ich weiß, dass ich dich verletzt habe, Em.« Welch eine Untertreibung. Josh hatte mir das Herz aus der Brust gerissen und in tausend Einzelteile gesprengt. »Wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich das tun.« Er atmete ein paar Mal schwer aus und wieder ein. »Aber das kann ich nicht.«

      »Nein, das kannst du nicht.« Seine Worte schickten mich auf eine Zeitreise und erinnerten mich an den Tag, an dem er mich für seine damalige Ex-Freundin verlassen hatte. Damals hatte ich mir geschworen, dass ich niemals wieder jemandem erlauben würde, mich so sehr zu verletzen. Ich war nicht mehr das naive, dumme Mädchen mit den großen Träumen, das sich von einem hübschen Lächeln und ein paar Sprüchen blenden ließ. Heute war ich stärker. Daran konnte auch Josh Sanders nichts ändern, egal wie herzzerreißend er mich ansah. »Es ist lange vorbei.« Ich wiederholte abermals, was ich schon in den letzten Minuten zu ihm gesagt hatte. »Es gibt keinen Grund für uns, das wieder aufzuwärmen.«

      »Das weiß ich, Em, aber ...« Er stocke. »Gott, ich bin so ein Vollidiot.« Josh trat einen Schritt von mir zurück, was mir schmerzlich bewusst machte, wie nah wir uns gewesen waren. Nur wenige Zentimeter hatten uns voneinander getrennt. »Du hast recht. Ich sollte dich in Ruhe lassen und einfach verschwinden.« Seine Worte wurden von einem kehligen Lachen begleitet. »Das ist mir allerdings noch nie leichtgefallen. Ich habe dich auf der Party gesehen und du hast die Kette getragen.« Das traurigste Lächeln der Welt zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Es war eine dumme Idee.«

      Meine Finger umschlossen den silbernen Anhänger, der an einem schlichten Lederband um meinen Hals hing. Ich hatte ihn gekauft, als ich Josh an einem unserer ersten gemeinsamen Wochenenden mit sanfter Gewalt dazu gezwungen hatte, mit mir einen Flohmarkt zu besuchen.

      Josh holte sein Handy aus der Tasche, schaltete das Display ein und hielt es mir entgegen. «Ich bin ein sentimentaler Trottel, wenn es um dich geht.«

      Als ich sein Hintergrundbild sah, stockte mir der Atem. Es war ein Foto, das ich vor mehr als vier Jahren gemacht hatte. Nur wenn man ganz genau hinsah, erkannte man, was darauf abgebildet war. Bei einem unserer ersten Dates waren wir händchenhaltend durch die Nacht spaziert, bis wir es nicht mehr länger aufschieben konnten, uns zu trennen, und Josh mich nach Hause bringen musste. Wir hatten noch ewig vor meiner Haustür gestanden und einfach nur geredet. Es war einer der schönsten Abende meines Lebens gewesen. Bei der Erinnerung zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Ich war so unglaublich verliebt gewesen. Josh hatte irgendwann einen Kugelschreiber aus der Tasche gezogen und mir seinen Arm mit der Aufforderung entgegengehalten, ihm etwas von mir mit auf den Weg zu geben. Über das ganze Gesicht grinsend, hatte ich seinen Unterarm mit einem verschnörkelten Muster verziert und anschließend ein Foto davon gemacht. Es war so unglaublich kitschig gewesen. So unglaublich perfekt.

      Ich zwang mich, von Joshs Display aufzusehen. »Warum zeigst du mir das?« Wenn er wollte, dass ich ihm verzieh, erreichte er damit genau das Gegenteil. Indem er mich an unsere glücklichsten Tage erinnerte, wirkten all die hässlichen Dinge, die danach passiert waren, noch viel grauenhafter.

      Josh ließ sein Telefon unruhig von einer Hand in die andere wandern. »Lass mich dich begleiten, Em. Mehr will ich nicht.« Bevor ich ihm sagen konnte, dass er mit all den Erinnerungen zur Hölle fahren sollte, suchte er meinen Blick. »Grace wird mich kastrieren, wenn ich dich mitten in der Nacht allein nach Hause laufen lasse.«

      Grace, die mit ihrem Freund in unserem kleinen Apartment übernachtete, hatte sicherlich Besseres zu tun, als sich um mich zu sorgen.

      Schweigend vergrub ich die Hände wieder in den Taschen meiner Jacke und machte mich auf den Weg. Wie ich es erwartet hatte, folgte er mir. Ich war ihm dankbar dafür, dass er nicht mehr versuchte, mir ein Gespräch aufzudrängen. Erst als wir vor meiner Wohnungstür standen, räusperte er sich leise.

      »Nicht.« Ich hob die Hand. »Du hast mich nach Hause gebracht, und jetzt trennen sich unsere Wege wieder.« Ich hatte den Schlüssel bereits ins Schloss gesteckt, als ich mich noch einmal zu ihm umdrehte. Mein Verstand wusste, dass ich ihn einfach stehen lassen sollte. Mein dummes Herz aber wollte sich noch nicht von ihm verabschieden. So nah würden wir uns vermutlich nie wieder kommen.

      Den Rücken gegen die Wohnungstür gepresst, ließ ich meinen Blick von seinem T-Shirt über seinen Adamsapfel bis zu seinem Kinn wandern, auf dem ich im grellen Neonlicht der Lampe über uns dunkelblonde Stoppeln erkannte. Über seiner rechten Augenbraue zeichnete sich eine feine Narbe ab, die er früher noch nicht gehabt hatte. Bei jedem anderen Menschen hätte dieser Makel dafür gesorgt, dass er weniger perfekt wirkte. Bei Josh hatte es den gegenteiligen Effekt. Wenn es überhaupt möglich war, machte es ihn noch anziehender. Der Mann, der heute vor mir stand, war viel gefährlicher als der Teenager, der mich mit einem Blick aus seinen braunen Augen um den Verstand gebracht hatte. Josh strahlte Selbstsicherheit aus, wie es nur Männer konnten, die wussten, wer sie waren und was sie vom Leben wollten. Als ich tief einatmete und all meinen Mut zusammennahm, um ihm in die Augen zu sehen, erkannte ich mit absoluter Klarheit, was Josh in diesem Moment wollte. Er wollte mich. Sein Blick klebte an meinen Lippen. Es lag ein Hunger darin, den ich noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Mich zu ihm umzudrehen, war ein Fehler gewesen. Ein sehr, sehr großer Fehler.

      »Wie betrunken bist du, Em?« Josh stützte sich rechts und links neben meinem Kopf ab und war mir dadurch mit einem Mal so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte. Vier Jahre hatte ich versucht, jegliche Erinnerung an ihn auszulöschen. Gelungen war es mir nie. »Em?« Sein Lächeln traf mich völlig unerwartet, als er die Frage leise wiederholte. »Bist du sehr betrunken?«

      »Was? Wieso?« Ich fixierte einen imaginären Punkt über seiner linken Schulter.

      »Du weißt wieso.« Er hatte den Nerv zu zwinkern.

      »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

      »Lügnerin.« Er beugte sich weiter nach vorn, bis uns nur wenige Millimeter voneinander trennten.

      Es wäre so einfach, die letzte Distanz zu überbrücken. »Ich bin völlig betrunken. Morgen werde ich mich an nichts erinnern.« Eine erneute Lüge. Unser Spaziergang durch die kalte Nachtluft hatte dafür gesorgt, dass ich wieder vollkommen klar im Kopf war.

      »Das ist ziemlich schade.« Josh biss sich auf die Unterlippe, machte jedoch keinerlei Anstalten, mir ein wenig mehr Platz zu geben. Ich war gefangen zwischen ihm und der Tür, die ich theoretisch nur aufstoßen musste, um dieser Situation und ihm zu entkommen. »Soll ich nach Hause gehen, Em?«

      Ja. Ich sollte Ja sagen und ihn fortschicken. Aber ich war dumm. Dumm und von all den lang vergessenen Gefühlen benebelt, die seine Nähe an die Oberfläche brachte. Ja war die richtige Antwort. Die vernünftige Antwort. Ja war kein gebrochenes Herz. Ja war mein Leben ohne ihn. Ja war die neue Emily. Ja war Verstand. Ja war alles. Und doch war ohne ihn alles immer nichts gewesen. Nein. Nein, nein, nein ... Mein Kopf dröhnte, mein Herz überschlug sich in einem rasenden Takt, meine Hände bewegten sich, als hätte ich keine Kontrolle über sie. Als meine Fingerspitzen seine Wange streiften, zuckten wir beide unter dem Schock der plötzlichen Berührung zusammen. Es war vertraut und doch so neu.

      »Wir sollten das nicht tun.« Mit dem letzten bisschen Verstand versuchte ich, mich davon zu überzeugen, dass diese Sache keine gute Idee war.

      Er drehte den Kopf und hauchte mir einen Kuss auf das Handgelenk. »Nein, sollten wir nicht.«

      Dem ersten, zarten Kuss folgten weitere, bis ich seine Zungenspitze spürte, die federleicht über meine Haut strich. Mein Kopf sank gegen das Holz der Wohnungstür, während Josh weiter sanfte Küsse auf meine Hand hauchte. Wo auch immer seine Lippen auf meine Haut trafen, stand ich in

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