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Er riß die Schlinge ab, riß sie schnell in Stücke und stopfte diese unter das Kissen zwischen die Wäsche. ,Stücke von zerrissener Leinwand werden ja doch wohl in keinem Falle Verdacht erregen, möchte ich meinen!‘ flüsterte er, mitten im Zimmer stehend, vor sich hin; und indem er seine Aufmerksamkeit so anstrengte, daß es ihn physisch schmerzte, begann er wieder ringsumher, auf dem Fußboden und überall, Umschau zu halten, ob er nicht doch noch etwas vergessen habe. Das Gefühl, daß alles, sogar das Gedächtnis, sogar die einfache Denkkraft ihn im Stiche lasse, quälte ihn in unerträglicher Weise. ‚Wie? Fängt es wirklich jetzt schon an? Kommt wirklich jetzt schon die Strafe? Wahrhaftig?‘ In der Tat lagen die Fransen, die er von den Hosen abgeschnitten hatte, offen auf dem Fußboden, mitten im Zimmer, so daß sie der erste, der eintrat, sehen mußte. „Was ist denn nur mit mir!“ rief er wieder ganz fassungslos.

      Da kam ihm ein sonderbarer Gedanke in den Sinn: vielleicht war auch sein ganzer Anzug blutig, vielleicht war eine ganze Menge Flecken daran; aber er sah sie nur nicht, bemerkte sie nicht, weil seine Denkkraft geschwächt und vermindert, sein Verstand verdunkelt war. Auf einmal fiel ihm ein, daß auch an dem Beutel Blut gewesen war. ,Ha, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ja der Beutel damals, als ich ihn in die Tasche steckte, noch feucht war.‘ Eilig drehte er die Tasche um, und wahrhaftig! an dem Taschenfutter befanden sich Flecke, Blutspuren! ,Also versagen meine geistigen Fähigkeiten doch noch nicht ganz; also besitze ich doch noch Denkkraft und Gedächtnis, da ich dies überlegt und kombiniert habe!‘ dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und froh auf. ,Es war einfach eine vom Fieber herrührende Schwäche, eine momentane Geistesverwirrung!‘ sagte er sich und riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche heraus. In diesem Augenblicke fiel ein heller Sonnenstrahl auf seinen linken Stiefel: an dem Strumpfe, der aus dem Stiefel hervorsah, schienen Blutspuren zu sein! Er zog den Stiefel aus: ,Wahrhaftig, es sind Blutspuren! Die ganze Strumpfspitze ist mit Blut getränkt!‘ Jedenfalls war er damals unachtsamerweise in die Blutlache hineingetreten. ,Aber was soll ich nun damit anfangen? Wo soll ich den Strumpf und die Fransen und die Tasche lassen?‘

      Er raffte alles mit beiden Händen zusammen und stand mitten im Zimmer da. ,In den Ofen? Aber im Ofen werden sie zu allererst herumstöbern. Verbrennen? Aber womit? Ich habe ja nicht einmal Streichhölzer. Nein, das beste ist schon, ich gehe draußen irgendwohin und werfe alles weg. Ja, das beste ist, alles wegzuwerfen!‘ sagte er sich und setzte sich wieder auf das Sofa. ,Und zwar sofort, diesen Augenblick, unverzüglich . . .‘ Aber statt daß er dies tat, sank sein Kopf wieder auf das Kissen; wieder packte ihn jener unerträgliche eisige Schauder; wieder zog er den Winterpaletot auf seinen Körper. Längere Zeit noch, mehrere Stunden lang, flackerte in seinem Kopfe von Zeit zu Zeit der Gedanke auf: ,Sofort, ohne zu zaudern, muß ich irgendwohin gehen und alles wegwerfen, damit nichts mehr davon zu sehen ist; schnell, ganz schnell!‘ Mehrere Male richtete er sich auf dem Sofa auf und versuchte aufzustehen; aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Schließlich machte ihn ein starkes Klopfen an der Tür wach.

      „Mach doch auf! Lebst du noch oder nicht? Immer schläft er und schläft!“ schrie Nastasja und schlug mit der Faust gegen die Tür. „Den ganzen lieben, langen Tag schläft er wie ein Faultier. Und er ist auch ein Faultier. Mach auf, sag ich. Es geht schon auf elf!“

      „Vielleicht ist er gar nicht zu Hause“, sagte eine Männerstimme.

      ,Ha, das ist die Stimme des Hausknechts . . . Was will denn der?‘

      Er sprang auf und setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin. Das Herz klopfte ihm so stark, daß es ihm weh tat.

      „Wer hat denn den Riegel vorgelegt?“ erwiderte Nastasja. „Nun sieh mal einer, er hat angefangen, die Tür zuzuriegeln! Es könnte ihn ja einer wegstehlen! Mach auf, Mensch du, und werde endlich wach!“

      ,Was wollen die? Warum ist der Hausknecht da? Gewiß ist alles entdeckt. Soll ich Widerstand leisten oder aufmachen? Mag das Unheil seinen Gang nehmen . . .‘

      Er erhob sich ein wenig, beugte sich vornüber und nahm den Riegel ab.

      Sein ganzes Zimmer war von so geringen Dimensionen, daß man den Riegel abnehmen konnte, ohne vom Bette aufzustehen.

      Richtig: an der Tür standen der Hausknecht und Nastasja.

      Nastasja betrachtete ihn mit eigentümlich forschenden Blicken. Er selbst blickte mit verzweifelter und zugleich herausfordernder Miene den Hausknecht an. Der hielt ihm, ohne ein Wort zu sagen, ein graues, zweimal zusammengefaltetes Stück Papier hin, das mit gewöhnlichem Flaschenlack versiegelt war.

      „Eine Vorladung, aus dem Bureau“, bemerkte er, als er ihm das Papier übergab.

      „Aus was für einem Bureau?“

      „Zur Polizei sollen Sie kommen, aufs Polizeibureau. Natürlich aufs Polizeibureau!“

      „Aufs Polizeibureau? . . . Warum?“

      „Weiß ich’s? Sie werden vorgeladen, also gehen Sie nur hin!“

      Er musterte ihn aufmerksam, sah sich um und machte kehrt, um wieder fortzugehen.

      „Du bist wohl ganz krank geworden?“ sagte Nastasja, ihn unverwandt ansehend. Auch der Hausknecht wendete für einen Augenblick den Kopf. „Er fiebert schon seit gestern“, fügte sie hinzu.

      Raskolnikow entgegnete nichts und hielt das Schriftstück in der Hand, ohne es zu öffnen.

      „Steh nur lieber nicht auf“, fuhr Nastasja fort; er tat ihr leid, als sie sah, daß er die Beine vom Sofa herunternahm. „Wenn du krank bist, so geh nicht hin. So eilig wird’s ja nicht sein. Was hast du denn da in der Hand?“

      Er blickte hin: in der rechten Hand hielt er die abgeschnittenen Fransen, den Strumpf und die Fetzen der herausgerissenen Tasche. So hatte er damit geschlafen. Als er später darüber nachsann, erinnerte er sich, daß er jedesmal, wenn er in der Fieberhitze halb wach geworden war, all diese Dinge von neuem fest in der Hand zusammengepreßt hatte und so wieder eingeschlafen war.

      „Na, so was! Hat sich ein paar Lumpen zusammengesucht und schläft damit, wie wenn er einen Schatz hütete . . .“

      Und Nastasja brach in ihr lautloses, krampfhaftes Gelächter aus.

      Schleunigst schob er alles unter den Paletot und heftete einen starren, prüfenden Blick auf sie. Obwohl er zu vernünftigen Überlegungen in diesem Augenblicke nur sehr wenig fähig war, so sagte er sich doch, daß man mit einem Menschen, den man verhaften wolle, wohl anders verfahre. — ,Aber trotzdem . . ., die Polizei?‘

      „Du solltest ein bißchen Tee trinken! Willst du welchen? Ich bringe dir welchen; es ist noch übrig . . .“

      „Nein, . . . ich will hingehen, ich will gleich hingehen“, murmelte er und stellte sich auf die Füße.

      „Du kommst ja wohl gar nicht die Treppe hinunter!“

      „Ich will hingehen.“

      „Na, wie du willst.“

      Sie folgte dem vorangegangenen Hausknechte und ging weg. Sofort stürzte er ans Licht, um sich den Strumpf und die Fransen zu besehen. ,Flecken sind da, aber nicht sehr bemerkbar; es ist alles von Schmutz verdeckt, und die Farbe ist schon sehr matt geworden. Wer es nicht schon vorher weiß, sieht nichts. Nastasja hat gewiß von weitem nichts bemerken können; Gott sei Dank!‘ Dann erbrach er mit zitternder Hand die Vorladung und begann zu lesen. Er mußte lange lesen, bis er endlich den Sinn begriff. Es war eine gewöhnliche Vorladung aus dem Polizeirevier, er solle am heutigen Tage um halb zehn im Bureau des Revieraufsehers erscheinen.

      ,Das ist ja noch nie dagewesen! Ich habe doch mit der Polizei nichts zu schaffen! Und warum gerade heute?‘ fragte er sich in qualvoller Ungewißheit. ,O Gott, wenn es nur schnell zu Ende wäre!‘ Er wollte sich schon auf die Knie werfen, um zu beten, lachte dann aber selbst, nicht über das Gebet, sondern über sich. Er zog sich eilig an. ,Wenn ich ins Unglück renne, mir ganz gleich! Ob ich den Strumpf anziehe?‘ überlegte er. ,Er wird dann im Staube noch schmutziger, und die Spuren verschwinden.‘ Aber kaum hatte er ihn angezogen, da riß er ihn auch schon wieder voll Ekel und Angst herunter. Nachdem er indessen überlegt hatte, daß er keinen anderen

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