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Verbrechen und Strafe. Fjodor Dostojewski
Читать онлайн.Название Verbrechen und Strafe
Год выпуска 0
isbn 9788726372038
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Auf der Treppe war niemand; auch im Torwege nicht. Schnell ging er hindurch und bog links in die Straße ein.
Er wußte sehr wohl, daß sie in diesem Augenblicke bereits in der Wohnung waren, daß sie sich höchlichst wunderten, sie offen zu finden, während sie doch eben noch zugesperrt gewesen war, daß sie schon die Leichen betrachteten und daß sie in weniger als einer Minute erraten und kombiniert haben würden, daß der Mörder noch soeben dagewesen sei und eine Möglichkeit gefunden habe, sich irgendwo zu verstecken, an ihnen vorbeizuschlüpfen und zu entfliehen; sie mochten auch vielleicht erraten, daß er in der leerstehenden Wohnung gesteckt hatte, während sie daran vorbei hinaufgingen. Aber trotzdem durfte er unter keiner Bedingung wagen, sein Tempo stark zu beschleunigen, obgleich er bis zur nächsten Straßenecke noch gegen hundert Schritte hatte. ‚Ob ich wohl in einen Torweg hineinschlüpfe und auf einer fremden Treppe warte? Nein, das ist zu gefährlich! Ob ich das Beil von mir werfe? Ob ich eine Droschke nehme? Zu gefährlich, zu gefährlich!‘
Endlich kam die Querstraße; er bog in sie ein, mehr tot als lebendig. Hier war er schon zur Hälfte gerettet, und er war sich dessen bewußt. Hier war der Verdacht geringer, und außerdem herrschte hier ein starker Verkehr, und er verschwand darin wie ein Sandkorn. Aber alle diese Qualen hatten seine Kraft derart erschöpft, daß er sich kaum mehr rühren konnte. Der Schweiß rann ihm in dicken Tropfen herunter; der Hals war ihm davon ganz feucht. „Na, du hast dich aber gehörig vollgesoffen!“ rief ihm einer zu, als er an den Kanal gelangte.
Er konnte seine Gedanken kaum noch Zusammenhalten; je weiter er ging, um so schlimmer wurde es. Er erinnerte sich aber später, daß er einen großen Schreck bekommen hatte, als er zum Kanal kam, weil hier weniger Menschen waren und er somit leichter auffallen konnte, und daß er nahe daran gewesen war, wieder in die Querstraße zurückzukehren. Obwohl er vor Erschöpfung beinahe umfiel, machte er dennoch einen Umweg und kam von der ganz entgegengesetzten Seite nach Hause.
Auch den Torweg seines Hauses passierte er in halber Bewußtlosigkeit; wenigstens war er schon auf der Treppe, als ihm das Beil einfiel. Und dabei stand ihm doch noch eine sehr wichtige Aufgabe bevor: es wieder an seinen Platz zu legen, und zwar möglichst unbemerkt. Er war natürlich nicht mehr fähig, zu überlegen, ob es nicht vielleicht weit besser wäre, das Beil überhaupt nicht wieder an den früheren Platz zu bringen, sondern es, wenn auch erst später, auf irgendeinen fremden Hof zu werfen.
Aber es lief alles gut ab. Die Tür zu der Kammer des Hausknechtes war nur angelehnt, nicht zugeschlossen; also war der Hausknecht aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause. Doch Raskolnikow hatte die Fähigkeit, etwas zu überlegen, bereits in dem Grade eingebüßt, daß er einfach auf die Tür zuging und sie öffnete. Hätte ihn der Hausknecht gefragt: „Was wünschen Sie?“ so hätte er ihm vielleicht ebenso gedankenlos das Beil hingereicht. Aber der Hausknecht war wieder nicht da, und er konnte unbehindert das Beil auf seinen früheren Platz unter die Bank legen, ja, es sogar wieder, wie es gewesen war, mit einem Holzscheite bedecken. Niemandem, keiner Menschenseele begegnete er dann auf dem Wege bis zu seinem Zimmer; die Tür seiner Wirtin war geschlossen. Als er in sein Zimmer gekommen war, warf er sich, wie er ging und stand, auf das Sofa. Er schlief nicht, befand sich aber in einem Zustande der Geistesabwesenheit. Wäre jetzt jemand zu ihm hereingekommen, so wäre er sofort aufgesprungen und hätte aufgeschrien. Fetzen und Bruchstücke von allerlei Gedanken wimmelten in seinem Kopfe herum; aber trotz aller Anstrengung vermochte er keinen einzigen Gedanken zu Ende zu bilden und festzuhalten.
I
So lag er sehr lange. Mitunter wurde er halb wach und bemerkte in solchen Augenblicken, daß es schon längst Nacht sei; aufzustehen kam ihm gar nicht in den Sinn. Endlich nahm er wahr, daß die Morgendämmerung bereits angebrochen war. Er lag rücklings auf dem Sofa, noch ganz starr von der bisherigen Bewußtlosigkeit. Ein schreckliches, wildes Geheul schlug von der Straße her schrill an sein Ohr; dieses Geheul hörte er übrigens jede Nacht zwischen zwei und drei Uhr unter seinem Fenster, und es war auch jetzt die Ursache seines Erwachens gewesen. ,Aha! Da kommen auch schon die Betrunkenen aus den Kneipen‘, dachte er. ,Es ist zwei durch.‘ Plötzlich fuhr er auf, als ob ihn jemand vom Sofa in die Höhe gerissen hätte. ,Wie? Schon zwei durch!‘ Er setzte sich auf — und nun fiel ihm alles ein! In einer Sekunde erinnerte er sich wieder an alles.
Im ersten Augenblicke glaubte er, er würde wahnsinnig werden. Ein furchtbarer Frost überfiel ihn; aber dieser Frost kam von dem Fieber her, das sich schon längst während des Schlafes in seinem Körper entwickelt hatte. Jetzt packte ihn ein solcher Kälteschauer, daß ihm die Zähne klapperten und ihm alle Glieder steif wurden. Er öffnete die Tür und horchte; im Hause schlief alles fest. Erschrocken besah er sich selbst und alles ringsherum im Zimmer und begriff gar nicht, wie es nur möglich gewesen war, daß er gestern beim Nachhausekommen die Tür nicht zugeschlossen und sich in den Kleidern, ja sogar mit dem Hut auf dem Kopfe auf das Sofa geworfen hatte. Der Hut war heruntergerollt und lag auf dem Fußboden neben dem Kissen. ,Wenn nun jemand hereingekommen wäre, was hätte sich der gedacht? Gewiß, daß ich betrunken wäre, aber . . .‘ Er stürzte zum Fenster hin. Es war schon hell genug, und er musterte sich schleunigst, vom Kopfe bis zu den Füßen, vollständig, seine ganze Kleidung, ob auch nicht Blutspuren daran seien. Aber das ließ sich so auf dem Körper nicht gut ausführen; zitternd vor Frost, zog er alle Kleidungsstücke aus und untersuchte jedes von allen Seiten. Er wendete alles, bis auf den letzten Faden und Fetzen, hin und her, und da er sich selbst nicht traute, wiederholte er die Besichtigung dreimal. Aber es schienen keine Spuren vorhanden zu sein; nur da, wo die Hosen unten zerfasert waren und die Fransen herunterhingen, saßen an diesen Fransen dicke Klümpchen geronnenen Blutes. Er nahm sein großes Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. Weiter schien nichts da zu sein. Da fiel ihm ein, daß der Beutel und die Pfandstücke, die er bei der Alten aus der Truhe herausgenommen hatte, immer noch sämtlich in seinen Taschen steckten! Er hatte bis jetzt noch gar nicht daran gedacht, sie herauszunehmen und zu verstecken. Nicht einmal jetzt hatte er sich daran erinnert, als er seinen Anzug revidierte. Wie war es nur möglich! Sofort zog er sie heraus und warf sie auf den Tisch. Nachdem er alles hervorgeholt und sogar die Taschen umgewendet hatte, um sich zu vergewissern, daß auch wirklich nichts darin geblieben sei, trug er den ganzen Haufen in eine Ecke. Dort hatte unten im innersten Winkel an einer Stelle die Tapete, die sich von der Wand abgelöst hatte, einen Riß; sofort stopfte er alles in dieses Loch unter die Tapete. ‚Es ist hineingegangen; es ist nichts mehr zu sehen, auch der Beutel nicht!‘ dachte er erfreut, indem er langsam aufstand und stumpfsinnig nach der Ecke und dem Risse hinstarrte, der nun noch breiter klaffte. Da fuhr er wieder erschrocken zusammen: ‚Mein Gott‘, flüsterte er verzweifelt, ,was ist nur mit mir? Heißt denn das verstecken? Versteckt man denn etwas so?‘
Er hatte ja allerdings nicht auf Wertgegenstände gerechnet; er hatte geglaubt, er würde nur Geld erbeuten, und darum nicht im voraus Verstecke zurechtgemacht. ,Aber worüber habe ich mich denn jetzt eben gefreut?‘ dachte er. ,Versteckt man denn etwas so? Wahrhaftig, aller Verstand läßt mich ja im Stiche!‘ Ganz matt setzte er sich auf das Sofa, und sogleich schüttelte ihn wieder ein unerträglicher Frostschauder. Neben ihm auf dem Stuhle lag der warme, aber jetzt schon ganz zerlumpte Winterüberzieher, den er als Student getragen hatte; den zog er mechanisch zu sich heran und deckte sich damit zu; sofort verfiel er wieder in Schlaf und Fieberphantasien. Er war bewußtlos.
Aber schon nach fünf Minuten sprang er wieder auf und fiel von neuem wie rasend über seine Kleider her. ,Wie