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Marcel zum Gruppenleiter. So leicht sollte es der Toni nicht haben. »Neun Vorstrafen wegen Eigentumsdelikten, vier wegen Raufhandels«, sagte ein Kollege und heftete den Strafregisterauszug zum Akt. »Wenn er zuletzt keinen Strafaufschub bekommen hätte, könnte Pierre noch leben.« Der Gruppenleiter fluchte auf den Justizminister, nannte ihn ein demokratisches Arschloch, dann kam Inspektor Matisse herein. Er hatte den Wirt der »Rumba-Bar« vernommen.

      »Jezek kam zur Tür herein, und Toni ist sofort aufgesprungen«, berichtete Matisse. Jezek habe die Pistole gezogen und gerufen: »Pfoten hoch, Toni, mach keinen Blödsinn!« Der Wirt und die Gäste wären dann gleich aus der Bar gelaufen. Was weiter passierte, konnte der Wirt nicht angeben.

      Na, mit der Notwehrversion Tonis war es wenigstens Essig. Die Funkstreife brachte eine Prostituierte herein, die nur einen Schuh anhatte und Schimpfworte schrie, die selbst Marcel noch nie gehört hatte.

      »Frau Jezek wartet auf Sie, Chef«, sagte jemand, und Marcel ging wieder hinüber in sein Zimmer.

      Sie trug dasselbe schwarze Kostüm und war wieder geschminkt wie Liz Taylor vor einer Großaufnahme. Marcel gab ihr einige Formulare für die Pensionsversicherung und erklärte ihr, was sie tun mußte. »Wenn Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben«, sagte er, »kommen Sie zu mir, wir werden Ihnen natürlich helfen.« Mit wieviel Pension sie rechnen könne, wollte die Frau wissen, aber das konnte ihr Marcel auch nicht genau sagen. Er gab ihr einen Nylonsack mit den privaten Gegenständen Jezeks, die Kollegen hatten seinen Schreibtisch ausgeräumt.

      »Die Beamten vom Kommissariat«, sagte Marcel, »haben ein wenig Geld gesammelt. Es ist nur für die ersten Tage«, sagte er fast entschuldigend. »Vom Unterstützungsverein bekommen Sie natürlich auch noch was.« Die Frau warf einen enttäuschten Blick in den Briefumschlag und steckte ihn in ihre Handtasche. »Ich habe ihm immer gesagt, er soll mit der Polizei aufhören«, sagte sie bei der Verabschiedung. Marcel begleitete sie zur Tür. Er dachte, was der alte Pierre wohl hätte anfangen sollen, nach dreißig Dienstjahren bei der Kriminalpolizei, aber er sagte nichts.

      Vom Fenster sah er Frau Jezek die Straße überqueren, sie ging auf den Renault-Sport zu, in dem der junge Mann saß und rauchte. Noch bevor sie einstieg, hörte Marcel durch die geschlossenen Fenster das Starten und Aufheulen des Sportwagens. Den Nylonsack mit den privaten Dingen ihres Mannes hatte die Frau vergessen. Marcel sah ein paar Taschentücher, eine Weckuhr, eine Nagelbürste. Und zum ersten Mal seit Jezeks Tod sprang ihn die Reue an wie ein wildes Tier, schüttelte es ihn vor Schuld und Vorwürfen. Er preßte die Fäuste vor die Augen. Warum nur hatte er den Jezek so unter Druck gesetzt. Warum nur?

      Ob es eine Art Mutterinstinkt war oder reine Geldgier oder einfach Gleichgültigkeit, niemand hätte das sagen können, am allerwenigsten Helene Wannemacher. Tatsache war, daß sie sich um diese Jammergestalt kümmerte, die John Berger hieß. Sie nahm ihn ins Bett und wunderte sich, was der Kerl schlafen konnte. Und sie freute sich darüber, daß dieser halbtote Alkoholiker wieder menschliche Züge annahm. Etwa wie sich ein Kind freut, das einen halberfrorenen Spatzen in die warme Küche nimmt und sieht, wie der kleine Vogel wieder zum Leben erwacht.

      Helen und ihr Bett hatten John tatsächlich gutgetan. Nach ein paar Tagen kam er zur Überzeugung, daß es Zeit war, etwas zu unternehmen. Die Periode des Grübelns und des Saufens, aber auch des Abschätzens seiner Möglichkeiten, war vorbei. Keine Sekunde lang hatte John irgendwelche Zweifel oder Skrupel. Keine Sekunde. Er würde den »Roten Oktober« ausrotten, nichts anderes war von Interesse oder Wichtigkeit. Und nur diese Gedanken brachten ihm Erleichterung, gaben ihm Kraft und verdrängten das surrende Geräusch eines Düsenmotors in seinem Gehirn, das ihn sonst umgebracht hätte.

      Er fuhr in sein Hotel und brachte die Rechnung in Ordnung. Er zog einen frischen Anzug an und betrachtete sich im Wandspiegel. Der Anzug, nach Maß angefertigt, wirkte zwei Nummern zu groß, er mußte viel Gewicht verloren haben in diesen letzten Wochen. John Berger war immer ein kräftiger, sportlicher Mann gewesen. In seiner besten Zeit rannte er 100 Meter in 11, 5 Sekunden und stemmte einarmig spielend 40 kg. Er beschloß, ab jetzt wieder regelmäßig zu essen.

      In seinem Gepäck fand er ein Silberarmband, ein gediegenes Stück, Handarbeit aus Damaskus. Er hatte es für Inge gekauft. Die Turbinen surrten wieder, als er es in der Hand hielt. Er schenkte es dem Stubenmädchen, und es gelang ihm ein freundliches Lächeln. Das Mädchen lächelte erfreut zurück und schien ein wenig verlegen, sie drückte sich noch eine Weile herum und wackelte mit dem Popo, so übel war sie gar nicht. Sie kannte die Spielregeln und wartete auf die Aufforderung zu einer Gegenleistung. Als nichts kam, trollte sie sich, fast ein wenig beleidigt. Wie gesagt, gewaschen und rasiert war John Berger immer noch ein attraktiver Mann.

      Die nächsten Stunden verbrachte John in einem Kaffeehaus. Er las alle englischen, französischen und deutschen Zeitungen der letzten Tage. Arabische Zeitungen gab es nicht; auch diese Sprache beherrschte er leidlich, wenn er auch wegen der Vielfalt der Dialekte und Schreibweisen seine Schwierigkeiten hatte. Er fand, was er suchte, aber die Informationen waren relativ dürftig. Die ganze Geiselnahme, die Aktion des »Roten Oktober«, war darauf abgezielt, vier Männer frei zu bekommen, die seit sechs Monaten in griechischen Gefängnissen saßen, wegen Waffenbesitzes, wegen eines Bombenanschlages auf die Israelische Botschaft in Athen und wegen Totschlages. Auch damals schon waren unschuldige Menschen die Opfer gewesen. Eine Frau und zwei Kinder, Passanten, die gerade an dem Botschaftsgebäude vorbeigingen, als die Bombe explodierte. Erstaunt nahm John die Pressemeldungen zur Kenntnis, nach denen der »Rote Oktober« der Athener Regierung ein Ultimatum gestellt hatte. Entweder die vier Helden der Bewegung, Kämpfer für Freiheit des Palästinensischen Volkes, würden freigelassen, oder aber Athen würde als Schauplatz weiterer Terroraktionen nicht verschont werden. Noch erstaunter las er Meldungen, nach denen die Regierung zu einem Kompromiß bereit war. Athen wollte keine Schwierigkeiten mit den Palästinensern, man hatte eigene Probleme genug. Eine Verhandlungsbereitschaft war gegeben, sicherlich wollte Papadopoulos die vier Bewegungshelden günstig loswerden. Außer Terroraktionen war auch ein Ölembargo angedroht. Die griechischen Reedereibesitzer, Herrscher über Tankerflotten, waren an einer Ölpreiserhöhung gänzlich uninteressiert. Die Steuern der Großreeder aber waren ein beträchtlicher Bestandteil des griechischen Staatshaushaltes. Die Situation war ziemlich verworren. John verstand nur wenig von den Pressemeldungen, aber immerhin so viel, daß irgendein Gesprächspartner der Palästinensischen Befreiungsorganisation in Athen am Verhandeln war, inoffiziell natürlich und unter strengster Geheimhaltung.

      Und dieser Mann war sein Ziel, das lag auf der Hand. John überlegte. Wenn also ein Vertreter des »Roten Oktober« in Athen war und Gespräche führte, mußte die Regierung für seinen Schutz sorgen. Solchen Personenschutz besorgt aber immer noch die Polizei oder eine Art Geheimpolizei, wer sonst. Das war der Faden, wo John anknüpfen konnte. Mit der Polizei in Athen hatte er in den letzten Tagen ja genügend zu tun gehabt.

      John Berger fuhr zuerst in ein Warenhaus und kaufte Geschenke, Herrenhemden, Krawatten und solches Zeug. Er ließ sich alles verpacken, insgesamt acht Pakete ließ er machen. Dann kaufte er acht Briefumschläge und überlegte, was ein Polizist in Athen monatlich verdienen könnte. Schließlich stopfte er dreitausend Drachmen in jedes Kuvert; ein halber Monatsverdienst müßte es auch tun.

      In dem Büro der staatspolizeilichen Abteilung des Polizeipräsidiums, wo John in den letzten Wochen so oft gewesen war, um all die Formalitäten zu erledigen, erkannten sie ihn im ersten Moment gar nicht, so frisch rasiert und sauber angezogen, wie er war.

      John ging von einem zum anderen und schüttelte die Hände. Er bedankte sich für alles, was die Herren in den letzten Wochen für ihn getan hätten. Er entschuldigte sich, wenn er schwierig gewesen sein sollte, sie müßten verstehen, der Schock, unter dem er gestanden hatte. Es täte ihm leid, daß er meist betrunken war, die Herren hätten sicherlich Verständnis. Sie hatten. Sie schielten auf die Pakete, die John wie ein Weihnachtsmann auf die Schreibtische legte. Eine kleine Aufmerksamkeit als Dank für alles, was die Beamten für ihn getan hatten. Die Beamten nickten. Es waren fünf im Zimmer. Vielleicht wären die Herren so lieb und würden den gerade abwesenden Kollegen seinen Dank und die Pakete übermitteln. John mußte jetzt Athen verlassen, er könne nicht wiederkommen. Die Inspektoren nickten wieder.

      Einer, wahrscheinlich der Ranghöchste,

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