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stöhnte leise, er hielt die Augen geschlossen. »Matisse«, sagte Marcel, »ich fahr’ mit der Ambulanz. Mach du das hier weiter.« Matisse kniete sich neben die beiden, tippte Marcel auf die Schulter und deutete auf das Messer, das immer noch am Boden lag. Marcel wußte, was er meinte. Die Klinge war blutverschmiert bis zum Heft. »Das Schwein hat zugestoßen wie ein Irrer«, hörte er Matisse neben seinem Ohr flüstern.

      Auf der Fahrt ins Krankenhaus öffnete Jezek die Augen. Er erkannte Marcel, der neben ihm saß. »Meine Frau«, hörte Marcel ihn flüstern. »Mach dir keine Sorgen, Alter«, sagte Marcel. »Mach dir keine Sorgen, mit deiner Frau rede ich noch heute. Wir bringen dich durch, und alles wird wieder gut. Streng dich jetzt nicht an, mach dir keine Sorgen.« Er sah, wie Pierre Jezek die Augen wieder schloß und lächelte.

      Die Operation hatte eine gute Stunde gedauert. »Wenn alles gut geht«, hatte der Chefarzt gesagt, »wird er es überstehen. Wenn keine Komplikationen eintreten«, hatte er eingeschränkt. Marcel Trudeau hatte fast ununterbrochen geraucht im Wartezimmer. Ihm war ein wenig übel, aber immerhin war das eine gute Nachricht. Als er die Treppe hinunterging, begegnete er einer Frau, sie war etwa dreißig, grell geschminkt, aber nicht unhübsch. Einer plötzlichen Eingebung folgend blieb er stehen: »Frau Jezek?« Sie war es. Der Chefinspektor berichtete ihr kurz, er versuchte, optimistisch zu sein und zu verharmlosen. »Nein«, sagte er, »keine Lebensgefahr. Sie können ihn jetzt nicht sprechen nach der Operation. Vielleicht morgen oder übermorgen.« Etwa eine Woche nicht, hatte der Chefarzt gemeint.

      Die Frau ging mit ihm hinunter. »Dann kann ich hier nichts ausrichten«, meinte sie. Sie sprach breitesten Vorstadtdialekt. »Das hat er jetzt davon, der alte Trottel«, sagte sie, »ich hab’ immer gesagt, er soll sich nicht zerreißen für das scheißbißchen Geld, was die Polizei zahlt. Das hat er jetzt davon!«

      Marcel wollte eigentlich einige tröstende, aufmunternde Worte sagen, aber er sah ein, es wäre falsch am Platz gewesen.

      »Kann ich Sie irgendwohin bringen«, fragte er auf der Straße. Er hatte vor, ein Taxi zu nehmen. »Danke, ich bin in Begleitung«, sagte die Frau. Sie ging auf einen Renault-Sportwagen zu, in dem ein junger Mann saß und rauchte.

      »Armer Pierre«, sagte Marcel leise. Er nahm den Autobus.

      »Immerhin«, sagte der Bezirkskommissar, »immerhin hat der Mann einen Stirnbeinbruch und eine schwere Gehirnerschütterung. Der Wirt sagt aus, das Messer hätte auf dem Boden gelegen. Dieser Toni war also unbewaffnet bei der Festnahme.«

      »Drei Minuten vorher«, sagte der Chefinspektor müde, »hat er unseren Jezek schwer verletzt.«

      »Das war eben vorher«, sagte der Kommissar. »Als Sie in den Raum kamen, war er unbewaffnet und hielt die Hände hoch. Auch er ist jetzt schwer verletzt, noch nicht einmal vernehmungsfähig.«

      Marcel zuckte mit den Schultern. »Mir blutet das Herz«, meinte er. Der Kommissar und der Chefinspektor waren allein im Zimmer. Vom Gang hörte man Schritte und Stimmen. Eine Pressekonferenz war einberufen worden, sie sollte in fünf Minuten beginnen. »Ich will ihnen doch helfen, Chefinspektor«, sagte der Kommissar. »Wie wollen Sie rechtfertigen, einen unbewaffneten Menschen zusammengeschlagen zu haben?« Marcel sah aus dem Fenster. »Hundsvieh«, sagte er, »Hundsvieh nannten Sie ihn, als wir das letzte Mal über Toni le Boche sprachen. Jetzt sagen Sie Mensch. Einen waffenlosen Menschen.« »Herrgott«, fauchte der Kommissar, »seien Sie doch nicht gleich so …« »Er bückte sich nach dem Messer«, unterbrach Marcel. »Was?« »Er bückte sich nach dem Messer. Er wollte es aufheben. Er war in Panik und hatte gehofft, Jezek wird umkippen, bevor wir kommen. Als er die Sirenen der Funkstreife hörte, drehte er durch. Er wollte sein Springmesser aufheben.« »Das ginge«, meinte der Kommissar leise.

      »Ich hätte schießen können«, sagte Marcel. »Ich hätte schießen können und sollen. Dann gäbe es keinen Toni le Boche mehr und keine Gegenaussage.« »Um Gottes willen«, stöhnte der Kommissar.

      Das Telefon läutete, der Kommissar hob ab. »Ja, er ist hier, Herr Kollege«. Marcel bekam den Hörer. Kommissar Frère wollte wissen, wann es Marcel endlich genehm wäre, zu ihm zu kommen. »Morgen um zehn«, sagte Marcel. Er vergaß ganz, nach dem Grund zu fragen.

      »Er bückte sich nach dem Messer«, sagte der Kommissar erleichtert. »Was wird Matisse aussagen?« »Dasselbe«, sagte Marcel. »Das geht dann«, meinte der Kommissar fast fröhlich. »Es ist die Wahrheit«, log Marcel.

      Die Pressekonferenz war viel besser verlaufen, als Marcel erwartet hatte, viel besser. Als einer der Journalisten Marcels Darstellung seiner Selbstverteidigung anzweifelte, wurde er von wütenden Zwischenrufen unterbrochen, und die Zeitungsleute lagen sich eine Weile ordentlich in den Haaren und schrien sich gegenseitig an. Der Kommissar hakte sofort ein und appellierte, die Presse möge doch mit der Polizei und nicht gegen sie arbeiten, die Verbrechensbekämpfung wäre ohnehin schon schwierig genug. Marcel hätte dem Alten dieses geschickte Manöver gar nicht zugetraut, jedenfalls war hinterher alles eitel Wonne, und der Kommissar lud Marcel auf einen Kognac ein.

      Es war schon spät, als Marcel heimkam. Im Briefkasten fand er eine erwartete Rechnung seiner Autoversicherung und eine unerwartete Postkarte aus Venedig, von Simone. »Verzeihst du mir?« stand auf der Postkarte. Sie muß ordentlich besoffen gewesen sein, dachte Marcel, und warf die Karte in eine Ecke. Die Leere seiner kleinen Wohnung bedrückte ihn plötzlich, und er wußte, daß er jetzt nicht schlafen konnte. Er rief im Kommissariat an, ob es etwas Neues gäbe. »Nichts Besonderes«, sagte der Gruppeninspektor. Toni le Boche würde im Inquisitenspital bewacht, morgen wäre er vernehmungsfähig. Die Vernehmung würde das Sicherheitsbüro machen. »O. k.«, meinte Marcel. »Drei Autoeinbrüche haben wir gerade«, sagte der Gruppeninspektor. Marcel sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Diese Hunde werden immer frecher, dachte er. Marcel ging noch um die Ecke in ein kleines Bistro, wo er fast zu Hause war. Die Wirtin gab ihm zwei Schlaftabletten, und er trank dann ein wenig. Als er wieder heimkam, hörte er beim Aufsperren das Telefon klingeln und stürzte zum Hörer. »Chef«, sagte der Gruppeninspektor, »wir suchen Sie schon überall. Pierre Jezek ist vor einer Stunde gestorben.«

      Das Wochenende war vergangen, und Marcel hatte das Kommissariat kaum verlassen. Was sonst hätte er tun sollen? Das Wetter war zwar umgeschlagen, und es war sonnig und ein wenig warm, aber Marcel hatte keine Lust, irgend etwas zu unternehmen. Samstag nachmittag war er kurz auf einem Fußballplatz gewesen, aber eher wegen der frischen Luft als wegen des Spieles. Gegen Mitternacht machte er eine Streife nach den Automardern mit, keine Spur von den Burschen, als ob sie es gerochen hätten. Ansonsten diktierte er seinen langen Abschlußbericht in der Toni-le-Boche-Sache auf Tonband; die Chefsekretärin mußte es am Montag tippen, geschah ihr recht.

      Am Montag war das Begräbnis von Inspektor Jezek gewesen, und von den vielen Grabreden war Marcel fast übel geworden. Der Polizeipräsident war da und der Vizepräsident, und sie sprachen von Pflichterfüllung bis zum Tode und ähnlichem Blödsinn. Marcel stand bei den Kriminalbeamten, und alle hatten verbissene Gesichter, aber als die Polizeikapelle das Lied vom alten Kameraden spielte, wurden die Augen feucht. Marcel war froh, als alles vorüber war.

      Mit Frau Jezek hatte er sich heute verabredet, er hatte mit ihr zu reden wegen der Pensionsversicherung und einigen anderen Dingen. Sie sollte um neun Uhr in seinem Büro sein, aber jetzt war es schon fast zehn, und Marcel hätte die Sache gern hinter sich gehabt.

      Zum dritten Mal las er die erste Niederschrift, die das Sicherheitsbüro mit Toni le Boche im Inquisitenspital aufgenommen hatte, und spürte, wie ihm die Wut die Gurgel zuschnürte. »Er hätte den Inspektor Jezek gar nicht erkannt, weil er ihn schon lange nicht gesehen habe«, hatte dieses Schwein zu Protokoll gegeben. Nur einen Mann mit Pistole habe er plötzlich vor sich gesehen und sich eben gewehrt. Nur in Notwehr habe er zugestochen. Marcel hielt es in seinem Büro nicht mehr aus, er nahm das Protokoll und ging ins Journalzimmer.« »Den Dreck müßt ihr lesen«, fluchte er und gab das Papier dem Gruppenleiter. »Ist was zum Trinken da?«

      Natürlich war etwas da, und weiß Gott, der Schluck Schnaps tat ihm gut. Die Kollegen lasen das Protokoll und fluchten. Marcel ließ sich die letzten Anzeigen gegen Toni le Boche kommen, und es stellte sich heraus, daß Inspektor Jezek den Toni erst vor vier Monaten festgenommen hatte,

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