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daß er dafür nicht zuständig sei. »Mit sooooo großen Steinen«, sagte die alte Dame, und ihre faltigen Wangen zitterten vor Empörung. Sie kramte in der Handtasche, um einen der Steine zu zeigen. Als »Beweisstück«, sagte sie. Marcel nahm sie freundlich bei der Schulter und zeigte ihr den Weg zum Kommissar. Der Alte sollte zerspringen.

      Auf seinem Schreibtisch lagen die letzten Zeitungen, und die Fotos des gesuchten Toni le Boche grinsten ihm entgegen. Die Artikel waren angestrichen, mit rotem Bleistift. Marcel mochte das Zeug nicht lesen, er wußte ohnehin, daß es böse Angriffe gegen die Unfähigkeit oder Erfolglosigkeit der Kripo waren. Der Alte hatte schon recht, der flüchtige Toni mit seinen wulstigen Lippen und der eingeschlagenen Boxernase war schwer zu übersehen. Erstaunlich, daß er sich so lange verbergen konnte. Noch dazu war er mit seinen dreißig Jahren vollkommen glatzköpfig. Woher er sich wohl eine Perücke verschafft haben mochte, fragte sich Marcel. Er war ziemlich sicher, daß Toni eine Perücke hatte, mit seiner markanten Glatze wäre er im Bezirk wohl keine hundert Meter weit gekommen.

      Marcel blätterte in den Zeitungen. Präsident Nixon und Kissinger flogen nach China. In Athen war ein Vertreter der Palästinensischen Befreiungsorganisation bestialisch ermordet worden. Racing Paris hatte wieder verloren, gegen Stade Reims. Das Telefon klingelte, und die Chefsekretärin fauchte wütend, ob er das lustig fände, alte tierliebende Damen zum Kommissar zu schicken. Marcel legte auf, ohne ein Wort gesagt zu haben. »Eine Plastikpuppe lag bei dem ermordeten Palästinenser in Athen«, las er gerade, als es klopfte und Inspektor Jezek hereinkam. »Ich war auf Erhebung«, sagte er.

      Marcel winkte ihn in einen Sessel und kramte dann in seiner Schublade. Er fand das Schriftstück und gab es dem Inspektor.

      »Lies das, Pierre«, sagte er freundlich.

      Inspektor Jezek überflog das Papier, es war seine eigene Dienstbeurteilung, und der Chef hatte ihm die beste Beschreibung gegeben, die man sich vorstellen konnte. Das bedeutete eine bevorzugte Überstellung in die nächsthöhere Gehaltsstufe zum nächsten Termin, in anderen Worten, ein wenig mehr Geld für Jezek in drei Monaten.

      »Danke, Chef«, sagte der Inspektor, ein wenig unsicher. Marcel nahm den Negativbericht über die fünfzehn Autoeinbrüche, unterschrieb links unten neben der Unterschrift Jezeks und warf den Akt in das Fach für Postauslauf, als ob das Papier stinken würde.

      »Ich weiß, ich habe die Beschreibung heuer nicht verdient«, sagte der Inspektor.

      »Woher kann Toni le Boche eine Perücke haben?« fragte Marcel. »Wahrscheinlich von Rosi«, meinte Jezek leichthin. Marcel stand auf und ging zum Fenster, schaute in den grauen Regen hinaus. »Wer ist Rosi«, wollte er wissen.

      »Rosi geht seit zwei Jahren auf den Strich«, berichtete Jezek sachlich. »Sie ist Friseuse und arbeitete vorher zu Hause ohne Genehmigung der Gewerbebehörde. Sicher hat sie noch Friseurzeug oder Perücken und diese Sachen im Hause. Toni und Rosi sind Nachbarskinder. Rosi ist soweit o.k., nur zwei Gerichtsstrafen wegen Abtreibung. Toni wäre der Vater gewesen, heißt es.«

      Marcel hauchte eine Fensterscheibe an und wischte mit einem Finger über das feuchte Glas. »Warum haut Toni nicht ab, warum bleibt er im Bezirk?« Der Inspektor lehnte sich im Sessel zurück. »Toni le Boche wird nie den Bezirk verlassen. Der war sein ganzes Leben nur im Bezirk. Er ist ein primitiver Hund, und seine Welt hört hinter Neuilly auf. Aber da ist er daheim, da kennt er jedes Bistro. Sein Vater war derselbe Typ. Der starb vor zwei Jahren. Leberkrebs, vom Saufen.«

      Marcel trommelte jetzt mit den Fingern auf die Glasscheibe und pfiff leise dazu, sonst war es ganz ruhig im Zimmer.

      »O.k. Chef«, sagte Jezek nach einer Weile. »Morgen fang ich an mit dem Toni.« Chefinspektor Trudeau drehte sich um, und sein Gesicht war grau vor Wut.

      »Du fängst heute an, Pierre, jetzt gleich.« Inspektor Jezek war aufgestanden. »O.k. Chef, o.k.«, sagte er beschwichtigend. An der Tür drehte er sich noch einmal um: »Ich mach’ das schon, Chef.«

      Es war jetzt gleich zwölf Uhr und Zeit zum Mittagessen. Marcel unterschrieb noch einige Berichte und ging dann ins Journalzimmer. »Ich bin im Piccolo«, sagte er zum Gruppeninspektor. Das »Piccolo« war ein kleines Bistro, gleich um die Ecke.

      Am Nachmittag ging er in die Sauna und fühlte sich richtig wohl danach. Er hatte im Ruheraum eine Stunde geschlafen und dann alle Zeitungen gelesen, sogar die bissigen Artikel in der Toni-le-Boche-Sache. Dann hatte er ausgiebig über seine immerhin noch legale Ehe mit Simone nachgedacht, ohne weiteres Resultat allerdings.

      Es war ein ziemlicher Schock für ihn gewesen, als er damals heimkam und den Zettel fand. »Ich verlasse dich, du Schwein«, stand darauf. »Ich will dich nie mehr Wiedersehen.« Und das alles nur, weil er ihr ein paar gelangt hatte, am Abend zuvor. Er konnte es einfach nicht ausstehen, wenn sie sich betrank und dann in Lokalen große Reden führte, ihre Show abzog. Nun, die ersten Tage hatte er gewartet, daß sie zurückkäme, sicher. Dann kam dieser Telefonanruf aus der Schweiz, sie war wieder betrunken und beschimpfte ihn wie ein Marktweib. Er hatte aufgehängt und war weggegangen, es war nach Mitternacht. Das war vier Monate her.

      Die Verkehrsampel war auf Rot, und er mußte stehenbleiben. Automatisch betrachtete er eine hübsche Blondine in einem enganliegenden Kostüm, die aus einem Friseurladen kam. Und zum tausendsten Male in den letzten vier Monaten dachte er an Simone.

      Es wurde grün, und er ging weiter.

      Vor dem Kommissariat stand der Streifenwagen. Die Blaulichter waren eingeschaltet. Marcel sah den Inspektor Matisse aus dem Haustor rennen, auf den Wagen zu. Matisse lief niemals ohne Grund. So rannte Marcel über die Straße, ohne lange zu überlegen, ein paar Autos bremsten kreischend, und wütende Fahrer bellten ihm nach. Der Streifenwagen startete schon, als Matisse noch eine Tür aufriß. Marcel ließ sich auf den Hintersitz fallen. Die Sirenen heulten, und der Fahrer schaltete in den dritten Gang.

      »Toni le Boche«, sagte Matisse. »Pierre hat ihn gegriffen, im ›Rumba‹. Die Sau hat Pierre getupft. Funkstreife ist unterwegs.« Getupft. Das hieß, daß Inspektor Jezek gestochen wurde. Dieser Toni arbeitete nur mit einem Springmesser und wurde immer verrückter dabei. »Schlimm?« fragte Marcel.

      Matisse zuckte die Schultern. Er nahm seine Pistole aus dem Halfter und lud sie durch. Marcel nahm sie ihm wortlos aus der Hand. Dann bremste der Wagen und hielt vor dem »Rumba«. Ein paar Dutzend Leute vor dem Eingang. Im Laufen sah Marcel, daß die Funkstreife noch nicht da war.

      In der Bar war ein Tisch umgestürzt, und Glasscherben lagen am Boden. Jezek kniete vor einem Hocker, hielt mit zwei Händen seine Pistole, seine Ellbogen waren auf der Hockerlehne aufgestützt. An der Wand lehnte Toni le Boche, seine Perücke lag am Boden, und er hielt die Hände über dem Kopf. Seine Augen flackerten, und Marcel sah in einer Sekunde, daß er unverletzt war, irrsinnig vor Wut und Angst und auf dem Sprung zu flüchten. Er bemerkte gleichzeitig die große Blutlache, in der Jezek kniete und wie seine Hände mit der Pistole zitterten.

      »Schon gut, Pierre«, sagte Marcel und richtete die Pistole auf Toni. »Schon gut.« Er sah, wie sich Inspektor Jezek zusammensinken ließ, und dann hörte er das Plumpsen seiner Pistole auf dem Holzboden. »Toni«, sagte er, »beweg dich, und du hast sechs Löcher im Bauch.«

      Aus den Augenwinkeln sah er Matisse neben ihm auf den Mann zugehen. »Umdrehen, Toni«, befahl er. Dann hörte er die Sirenen der Funkstreife. Zögernd drehte sich der Mann zur Wand. Seine Augen zuckten zum Boden, den Bruchteil einer Sekunde nur, aber Marcel sah das blutverschmierte Messer und schlug zu, mit der Pistole und aller Kraft gegen diesen kahlen Schädel.

      »Chef«, hörte er Matisse sagen, der sich sofort auf den fallenden Toni stürzte. Dann waren auch schon die uniformierten Polizisten der Funkstreife im Raum.

      Marcel gab ein paar Anweisungen und kniete dann neben Inspektor Jezek. Sachte hob er Jezeks Kopf auf seinen Unterarm. »Die Ambulanz muß gleich da sein«, hörte er jemanden sagen. Fast zärtlich knöpfte Marcel Jezeks Jacke und Weste auf. Er sah den Einstich an der rechten Brustseite, aber die Blutung hatte fast aufgehört. Hoffentlich ist es nicht die Leber, dachte er.

      Den Toni le Boche hatten sie hinausgebracht,

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