Скачать книгу

schien sie zu hören, kein Mensch blickte zu ihr empor. Der Schall ihrer Stimme verschwand in dem dumpfen Getöse des Strassenlärms.

      Sie sah deutlich, wie das Mädchen den Brief in den Kasten steckte und dann langsam zurückkehrte. Mit zitternder Hand schloss sie das Fenster; dann stand sie eine Weile mit gefalteten Händen mitten im Zimmer. Ihr kam es vor, als wäre soeben ihr junges Leben von ihr gewichen mit all seinem Glück, dem Frohsinn und der Heiterkeit; nur eine inhaltslose Hülle wäre zurückgeblieben, und diese Hülle stünde nun allein und verlassen in trostloser Einsamkeit.

      Plötzlich kam ihr die Gegenwart wieder zum Bewusstsein. Sie warf sich lang auf das Sofa hin und begann krampfhaft zu schluchzen.

      Ein schwerer Gang.

      Es war am andern Tage gegen elf Uhr vormittags, als Vater Wilhelm fertig zum Ausgeben mit einem Paket aus der Kammer in die Wohnstube trat. Es war dasselbe, das die Weihnachtseinkäufe Heinzens enthielt, und das Robert am Abend vorher mit nach Hause gebracht hatte.

      Trudchen, die am Fenster stand und auf einem Bindfaden die grosse Puppenwäsche aufhing, die sie seit einer Woche tagtäglich hatte, blickte verwundert auf den Alten.

      „Grossväterchen nimmt wohl dir Geschenke vom Onkel Ruprecht wieder mit?“ fragte sie.

      „Ja, denk Dir nur au, Mäuschen! Er hat ganz falsche Sachen gebracht, und nun muss ich gehen, um sie bei ihm umzutauschen.“

      „Das ist aber recht schlecht von ihm, Grossväterchen. Dann wollte er uns wohl zum Narren halten?“

      „Wahrscheinlich, er hat jetzt so viel zu thun und verwechselt alles. Statt hübsche Sachen für ein artiges Mädchen, hat er solche für artige Jungens gebracht. Und wir haben doch gar keine artigen Jungens hier!“

      Die Kleine lachte hell auf. „Nein, Grossväterchen, es ist auch ganz gut, sonst würden sie mir alles zu Weihnachten wegnehmen. Die bösen Jungens sind doch immer viel stärker als die kleinen artigen Mädchen!“

      „Dafür müssen sie auch Soldaten werden.“

      „Und Schildwachstehen — nicht wahr, Grossväterchen? Und wir Mädchen branchen bloss Essen zu kochen ...“

      „So stimmt es — Du weisst schon ganz genau Bescheid, wie es auf der Welt zugeht.“

      Diesmal lachte er laut und schallend auf, was ihr immer besonderes Vergnügen bereitete. Er hatte das Paket auf den Tisch gelegt, umhüllte es mit einem Bogen steifen Papiers und schnürte es dann zu. Und während er nun die Adresse schrieb, plänkelte er mit der Kleinen lustig weiter.

      „Also einen Brief willst Du deswegen an den Weihnachtsmann schreiben? Sieh ’mal an!“

      „Ja, Grossväterchen, Strafe muss sein. Ich will nur erst die Hemdchen für die Puppen aufhängen, sonst haben sie an den Feiertagen nichts anzuziehen.“

      „Recht so, die Wirtschaft geht immer vor.“

      Sie stand wie eine kleine Hausfrau mit aufgeschürztem Kleidchen und aufgekrempelten Ärmeln auf den Zehen und bemühte sich, die „Leine“ zu erreichen.

      Robert kam vom Flur aus herein. Ausnahmsweise war er heute zu Hause geblieben, weil der Alte den Weg zu Treuling vorhatte.

      „Nun, hast Du Paketadressen bekommen, ja? Dann setz Dich nur gleich, und schreib Du die andere Adresse. Ich glaube wahrhaftig, mir fangen die Finger schon ein bisschen an zu zittern.“

      „Du willst es ihm also wirklich zurückschicken, Grossvater? Die unschuldigen Sachen können doch nicht dafür,“ warf Robert ein, während er seinen Überzieher ablegte. Der Alte gab ihm im geheimen ein Zeichen, indem er auf Trudchen wies. „Mäuschen, hol doch Grosspapachen ein Glas Wasser aus der Küche,“ sagte er dann laut, „lass doch auch das Wasser ein bisschen ablaufen!“

      „Und dann bring ich mir gleich frisches Spülwasser mit.“ Sie nahm ihre Puppenwanne und eilte hinaus.

      „Du hast recht, die unschuldigen Sachen können nicht dafür,“ wandte der Alte sich an Robert, „aber ihr Anblick würde mir niemals Frende machen, immer müsste ich daran denken, dass er sie gekauft hat.“

      „Aber es war doch hübsch, Grossvater, dass er überhaupt daran gedacht hat?“

      „Zufall, mein Junge, Zufall! Du hast mir ja selbst gesagt, dass er ganz erstaunt war darüber, Weihnachten so nahe zu sehen. Es war wieder die alte Grossmannssucht, die aus ihm sprach. Er wollte Dir gegenüber prahlen und beweisen, dass er auch ’mal etwas drauf gehen lassen könne ... Ich will, so lange ich lebe, keine Gemeinschaft mit ihm haben — weder innerlich noch äusserlich! Punktum ... So, nun war’ ich ja wohl fertig.“

      Es gab darüber nicht mehr viel zu reden. Die Zurücksendung war bei dem Alten nun einmal beschlossene Sache, und da Robert seine Zähigkeit kannte, so zog er es vor, zu schweigen.

      Die Kleine kehrte zurück, reichte mit einem Knir dem Alten das Glas und sagte: „Bitte schön, mein Herr, ein Glas Gänsewein. Wohl bekomm’s! Lassen Sie aber nichts übrig, denn er ist sehr teuer.“

      Robert lachte, der Alte aber, der gar keinen Durst hatte, würgte sich das kalte Wasser herunter, nur um seinem Liebling ein kleines Ergötzen zu bereiten. Nach jedem Schluck verdrehte er vor Behagen die Augen, schnalzte mit der Zunge und nickte bedeutungsvoll; dabei sagte er:

      „Das ist ja ganz vorzüglicher Wein, kleines Fräulein. Haben Sie noch mehr davon?“

      Trudchen wollte sich ausschütten vor Lachen und verrenkte vor Vergnügen die Glieder.

      „Eine ganze Wasserleitung voll, mein Herr,“ fiel sie dann lustig ein. „Ich kann Ihnen auch gleich welchen hier aus der Wanne geben, dann brauch’ ich nicht mehr ’rauszugehen. Es ist ganz rein, ich habe nur die Hände drin gehabt.“

      Sie wollte das Glas nehmen, aber der Alte wehrte sie lachend ab: „Das nächste Mal, das nächste Mal! Für heute habe ich doch genug. Man muss mit dem teuren Wein nicht so asen.“

      „Nein, was Du auch immer für Witze machst, Grossväterchen, manchmal bist Du doch zu drollig.“

      „Nun will ich aber endlich zum Weihnachtsmann gehen, sonst treffe ich ihn nicht mehr zu Hause,“ sagte er dann mit gut gespieltem Ernste. Er zog die gefütterten Handschube über, setzte den Hut auf und nahm Stock und Paket. Dann reichte er Robert die Hand, gab der Kleinen einen Kuss und ging.

      Er suchte die nächste Postanstalt auf, gab das Paket ab und bestieg hierauf die Pferdebahn, die ihn beinahe bis an sein Ziel brachte.

      „Ist der Herr Fabrikbesitzer zu sprechen?“ fragte er freundlich aber würdig, als er den Fabrikhof durchschritten hatte und nun an der geöffneten Thür des grossen Comptoirs stand.

      Man bat ihn, einzutreten, und zwar in etwas herablassender Weise, da man sofort einen Blick auf seine Kleidung geworfen hatte, die eher auf einen kleinen Handwerksmeister als auf einen „Kunden“ hinwies. Der alte, ausgediente Zylinderhut, der immer noch den Trauerflor zeigte, und das dicke Halstuch, das etwas wild über den Kragen des Überziehers hinausragte, gaben den gezierten jungen Leuten zu denken.

      Als er aber die Kopfbedeckung abgenommen hatte und das ehrwürdige, edle Haupt mit dem silberweissen Haar nun voll zur Geltung kam, fühlte man sich doch veranlasst, ihm mit zuvorkommender Höflichkeit zu begegnen.

      „Wünschen Sie den Herrn Chef in Geschäftsangelegenheiten zu sprechen?“ fragte ihn ein hochaufgeschossener, bartloser junger Mensch, der jedenfalls ein Lehrling war.

      „Ja ... das heisst — eigentlich auch in Privatsachen,“ erwiderte er.

      „Ist es denn sehr dringend?“

      „Sehr!... Herr Treuling ist doch anwesend?“

      „Allerdings, aber ich weiss nicht, ob er jetzt gerade zu sprechen sein wird. Er hat nämlich sehr viel Konferenzen.“

      „Das kann ich mir wohl denken,“ fiel Vater Wilhelm etwas spöttisch ein, worauf der junge

Скачать книгу