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kleinen Volk der Itelmenen auf Kamtschatka die Sprache, Gebräuche und Mythen abgelauscht und sie schriftlich fixiert zu haben. Vor allem Georg Wilhelm Steller verdanken die Itelmenen, so würden sie es auch selber sagen, dass sie ihre Sprache über die russische und sowjetische Zeit hinweg bewahren konnten. Deshalb sollten die Itelmenen nun mit der kleinen Verspätung von 250 Jahren im Jahr 1995 auf Gegenbesuch nach Halle in die Franckeschen Stiftungen kommen, natürlich nicht alle etwa tausendfünfhundert Leute des Stammes, sondern etwa zwanzig von ihnen in der Form eines Tanz- und Gesangsensembles namens Elvel samt Kind und Kegel.

      Ausgerechnet ich bekam dann den laut der Annoncierung in der zeit sicher recht guten Job als eine Art Koordinator während der neunmonatigen Ausstellung in Halle. Dr. Dettlev Müller-Semrau, der Leiter der Franckeschen Stiftungen, empfing mich überfreundlich. Ich dachte gleich, ich hätte für neun Monate ausgesorgt, zumal er ein mehr als gutes Monatsgehalt nannte. Aber es war nur ein Koordinator-Job für höchstens einen Monat. Im Grunde sollte ich nur die für mindestens zwei Wochen anreisenden 20 Itelmenen aus Kamtschatka »betreuen«.

      Müller-Semrau druckste ein bisschen herum. Dann ging unser Gespräch ungefähr so weiter, Müller-Semrau: »Im Grunde wissen wir nicht, wer da zu uns kommt, aber auch die Itelmenen werden vermutlich längst wie wir leben, so kurz vorm Ende des 20. Jahrhunderts.«

      »Die Lappen des Ostens«, nickte ich.

      »Nein, die Sami des Ostens!«, rief Müller-Semrau. »Sehen Sie? Da haben wir schon das Problem! Lappe ist eher eine Beleidigung. Die Lappen dominieren den Rat der Urvölker, seien Sie froh, dass jetzt keiner von denen hier im Raum ist! Zu Ihrem Job wird gehören, dass Sie situationsgerecht herausfinden, wie die Itelmenen ticken und entsprechend reagieren.«

      »Herausfinden«, sagte ich. »Aha!«

      »Sie haben doch eine Lizenz als Detektiv?«

      »Ach so. Ich soll diese Itelmenen gar nicht betreuen? Ich soll die überwachen?«

      »Sie sollen sie gut betreuen und alle Probleme, die diese Leute haben, ganz schnell und flexibel mit uns koordinieren und Abhilfe schaffen. Sehen Sie, da sind doch sogar Kinder dabei.«

      »Das stimmt, Kinder gehören strengstens überwacht, aber hallo!«

      »Könnten wir uns so einigen«, lachte Müller-Semrau, »dass Sie ganz einfach auch immer ein Auge auf sie haben? Früher hat man die Itelmenen zwar Fischhauttartaren genannt, aber ich nehme mal an, es sind jetzt alles zivilisierte Menschen wie Sie und ich. Die sollen übrigens viel Humor haben, vielleicht so wie Sie, Herr Macrobius! Sie sind auch noch ein erfrischend junger Mann, und dann haben Sie alle zusammen bestimmt auch viel Spaß! Da liegt ein Buch von Georg Wilhelm Steller vor Ihnen auf dem Tisch. Ich habe etwas hineingelesen und gleich ein paar Lesezeichen drin stecken lassen für Sie!«

      Ich habe abends nach dem Gespräch also hineingelesen in Stellers Buch und in eine Broschüre über die Itelmenen. Ich stieß auf diese Stelle: »Die Materie ihrer Comedien sind entweder neue Sitten und Manieren ankommender Leute, oder närrische Stellungen ...« Na gut, das war vor einem Vierteljahrtausend.

      Die Itelmenen haben einen Tölpelgott namens Kutcha. Tölpelgötter sind bei Urvölkern sehr selten, ihr Name sagt schon, dass sie nicht allmächtig sind, höchstens allmächtig zu großen Dummheiten. Kutcha ist eine Art Rabe und Chacky ist seine viel klügere Frau. Nachdem sich Kutcha einmal vorübergehend in seinen eigenen Kackhaufen verliebt hatte, ging er auch noch mit einer pazifischen Klaffmuschel fremd. Da ließ ihn Chacky sausen, indem sie sich in die stürmischen Lüfte erhob und dort oben einfach wohnen blieb. Kutcha überlegte, wie er was gutmachen konnte und erschuf Wolken und Regen. Weil es ihm darin zu kalt war, machte er ein Haus mit einer Menge an Kaminen, unberechenbaren Vulkanen. Das war Kamtschatka. Heißes Wasser spritzte da immer wieder aus dem Fußboden. Kutcha beschloss, zufrieden zu sein. Irgendwann kam auch Chacky wieder zurück, schon um weiteren Unsinn zu verhindern. Chacky war es dann, die zusammen mit Kutcha Geschöpfe erschuf, die sich nicht einkriegen konnten vor Freude und Lachen über ihre verrückte Heimat, nämlich die Itelmenen. Immerhin fürchteten sich die Itelmenen vor den Kamulen, die zahlreich in den Vulkanen hausten. Die mussten mit Umsicht und Opfern bewegt werden, keinen Schaden unter den Itelmenen anzurichten.

      Um wie ihr Totemtier, der Rabe Kutcha, auch mal durch die Lüfte segeln zu können, bereiteten sie sich oft ein berauschendes Getränk, das sie Muchamor nennen und das überwiegend aus Fliegenpilzen hergestellt wird. Dieses Muchamor gibt es auch in getrockneter Herstellungsart, es wird in einer Pfeife geraucht.

      Wenn erwachsene Itelmenen zur Zeit Stellers starben, gab man sie den Hunden oder Bären zum Fraß, um dadurch der Natur für ihre Gaben zu danken. Nur ihre toten Kinder setzten sie in hohlen Bäumen bei.

      Itelmenen lieben wertvolle Hundefelle und verschmähen Fuchs, Biber und sogar den Zobel als Besatz an Kleidung und Stiefeln.

      Und so weiter.

      Vieles schienen die Itelmenen aber auch mit den Indianern an der amerikanischen Nordwestküste, den Kwaiutl, gemeinsam zu haben, zum Beispiel die Verehrung des Raben.

      Aus der Sicht der Kwaiutl jedenfalls würden die Itelmenen wohl als die westlichsten Indianer auf Erden gelten, aber von hier aus gesehen waren sie im Gegenteil gerade dabei, fast zwei Wochen lang mit der Eisenbahn aus dem fernsten Fernen Osten bis nach Deutschland fahren.

      Ich sollte also die Itelmenen diskret überwachen, denn bei ihnen hörte wirklich aller Ernst auf, besonders der pingelige deutsche, wie ich ganz schnell herausfand, schon als dieser eiserne Wigwam auf dem Hauptbahnhof Frankfurt/Oder eingerollt war von einer Halbinsel auf der anderen Seite der Erde von fast genau der Größe Deutschlands.

      Dem deutschen Zoll klappte damals wie mir das Kinn herunter, als dem Wigwam-Waggon prachtvolle Indianer jeden Alters und Geschlechts in ihren bunten Fellstiefeln entsprangen. Sie trugen helle Jacken aus Seehundleder, besetzt mit den verschiedenfarbigsten Pelzen. Sie ignorierten einfach, dass sie ihre Pässe zeigen sollten, und freuten sich extrem. Schließlich reichte ihr Häuptling dem herbeigetretenen obersten Diensthabenden des Zolls zum sofortigen Verzehr eine marinierte Leckerei dar. Sie stammte aus dem Leib einer ochotskischen Seespinne. Kaum hatte sich der arme Deutsche vom Zoll den Bissen heroisch in den Mund geschoben, umringten ihn tanzend die Itelmenen mit ihren hoch erhobenen russischen Pässen. Sie hatten anscheinend die Absicht, sie zu verschenken oder notfalls wegzuwerfen. Die Frauen kreischten und trällerten wie Möwen, die Männer stampften herum und grunzten laut wie Bären.

      Dann steckten sie sich die Willkommensgabe des Zolls, lauter kleine deutsche Fähnchen, ins Haar, die von dort erst allmählich im Verlauf der kommenden zwei Wochen endgültig verschwanden. Die etwa eintausend Bonbons, auf denen jeweils ein schwarzrotgoldener Adler mit dem Namen »Zoll der Bundesrepublik Deutschland« prangte, hatten die Itelmenenkinder samt dem eimergroßen Glas schon an sich genommen und weggetragen. Inzwischen hatten ein paar der Erwachsenen begonnen, insgesamt sieben zusammengebundene Schlitten, eine Menge riesiger Schamanentrommeln, ein goldglänzendes Akkordeon und eine längliche Kiste mit alten Jagdgewehren samt Munition auszuladen, um dann obendrein noch drei große Holzfässer aus ihrem Waggon zu wuchten. Eines von diesen Fässern war bis an den Rand mit Jukola, getrockneten Stinten und Kamtschatka-Lachsen, gefüllt und stank gesund und kräftig zum Himmel. In den beiden anderen befand sich, wohl ebenfalls zum Verkauf an Stellers deutsches Volk, so mancherlei an Bärenkrallen und -zähnen und nicht ganz astreinen Zobelfellen bis hin zu russischem Kaviar und Sekt. Ganz zu schweigen – ich jedenfalls schwieg davon, bis die Itelmenen wieder weg waren aus Deutschland – von all diesen rauen Säckchen, in denen sich, wie sich dann für mich gar nicht überraschend herausstellte, kleine Stöpselflaschen mit Fliegenpilzsud und Fliegenpilzpulver zum Rauchen befanden. »Medizina!«, jauchzte der Chief zum Zoll und hatte von seiner Warte aus sicher absolut recht.

      Chief Aleksandr Pruttschin, grob zerfurcht und rot im Gesicht wie ein alter und waschechter Prärieindianer, war der Häuptling, zumindest des Tanz- und Gesangsensembles der Itelmenen. Er fasste mich ins Auge, als die deutsche Grenzbehörde auf mich verwies als dem nun Mit-Anführer ihrer Stammesabordnung in Deutschland. Der russische Indianer Aleksandr Pruttschin knallte dicht vor mir und dem Hauptzöllner die Hacken zusammen zur Habachtstellung, und eine ganze Wolke kamtschadalischer

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