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konnte. Das war nicht das Problem, sondern Shipley war es. Der hatte es schon auf ihn abgesehen, seit Leo Marcus angeschleppt hatte, um einen Posten zu besetzen, der nach dem Nervenzusammenbruch eines Mitarbeiters frei geworden war.

      »Und, was hat die Titanic zu sagen gehabt?«, fragte Leo, als Marcus um die Trennwand herumging.

      »Er will nicht mit dem Schiff untergehen.«

      »Er hält dich also für den Eisberg?«

      Marcus nickte kurz.

      »Ich hab dich abgesichert.« Leo hatte Beziehungen auf der Arbeit. Er kannte den Leiter der Zentrale, Nate Downey, äußerst gut, denn er war mit Nates Tochter Valerie verheiratet.

      »Ich weiß, Leo.«

      Marcus atmete tief ein, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und nahm dann die Kopfhörer. Anschließend atmete er langsam wieder aus. Die kleinen Spielchen zwischen ihm und Shipley fanden inzwischen viel zu häufig statt. Sie brachten ihn durcheinander und erschöpften ihn.

      Weil Shipley es mich niemals vergessen lässt.

      Die Uhr auf dem Computerbildschirm zeigte erst 12:20 Uhr an. Es würde ein sehr langer Tag werden.

      In dem schläfrigen Örtchen Edson gab es allerdings zum Glück nur selten viel Aufregung. Die Zentrale war außerdem noch für umliegende Orte zuständig. An manchen Tagen klingelten die Telefone nur ein halbes dutzend Mal. Das waren die guten Tage.

      Er blätterte durch die Aktenmappen auf seinem Tisch und fand dort die Liste mit den Arbeitsanweisungen. Es konnte nicht schaden, zu Anfang der Schicht noch mal drüber zu lesen. So blieb er wachsam und konzentriert.

      Doch seine Gedanken wanderten abermals zu dem falsch abgelegten Bericht.

      Versagte er langsam aber sicher? Gefährdete er die Leben anderer Menschen mit seinem Handeln? Er hatte sich selbst und Leo versprochen, dass er das nie wieder tun würde.

      Denk an Jane und Ryan.

      Was sonst? Sie hatten ihm schließlich alles bedeutet.

      Das Telefon klingelte und er zuckte erschrocken zusammen.

      »911. Brauchen Sie die Feuerwehr, die Polizei oder einen Rettungswagen?«

      Die nächsten zehn Minuten verbrachte Marcus damit, der 89-jährigen Mrs. Mortimer, die häufiger anrief, zu erklären, dass niemand Zeit hatte, ihre Katze aus dem Baum des Nachbarn zu retten.

      Dann wartete er weiter auf einen echten Notfall.

      Kapitel 2

      Edmonton, Alberta – Donnerstag, 13. Juni 2013 – 16:37 Uhr

      Rebecca Kingston verschränkte die Arme über ihrer Daunenjacke und kämpfte gegen das Zittern an. Obwohl der Mai mit einer Hitzewelle zu Ende gegangen war, hatte die erste Juniwoche niedrige Temperaturen gebracht. Die ersten fünf Tage lang hatte es geregnet und eine arktische Kaltfront war über die Stadt hereingebrochen. Der Fernsehmeteorologe hatte der globalen Klimaerwärmung und der kalten Luft aus Alaska die Schuld für das launenhafte Wetter gegeben. Die Einheimischen fanden, dass wie so vieles auch die Witterung allein die Schuld ihres Erzrivalen Calgary sein musste.

      »Können wir ein Eis haben, Mommy?«, fragte die vierjährige Ella und bewegte beim Reden kaum die Lippen – das Resultat ihres letzten Obolus an die Zahnfee.

      Rebecca lachte. »Man kommt sich wie im Winter vor, und du willst ein Eis?«

      »Ja, bitte.«

      »Na, Zeit haben wir ja.«

      Sie liefen über die Straße zum Eckladen.

      »Dieses Mal bitte Erdbeere«, sagte Ella. Ihre blauen Augen schauten bittend.

      Rebecca seufzte. »Aber schön langsam essen. Hast du an deinen Inhalator gedacht?«

      Ihre Tochter nickte. »Ist in meiner Tasche.«

      »Prima.« Rebecca warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist kurz vor fünf. Lass uns gehen.«

      Ihr Handy klingelte. Es war Carter Billingsley, ihr Anwalt.

      »Mr. Billingsley«, sagte sie. »Ich bin froh, dass Sie meine Nachricht bekommen haben.«

      »Sie haben also beschlossen, wegzufahren«, sagte er. »Das ist eine sehr gute Idee.«

      »Ich brauche etwas Erholung.« Sie warf einen Blick auf Ella. »Es wird bald ziemlich übel hergehen, oder?«

      »Leider ja. Scheidungen sind nie etwas Angenehmes, aber Sie schaffen das schon.«

      »Danke, Mr. Billingsley.«

      »Passen Sie auf sich auf, Rebecca.«

      Carter war früher der Anwalt ihres Großvaters gewesen und Grandpa Bob hatte ihn Rebecca wärmstens für den Fall empfohlen, wenn sie mal jemanden brauchen sollte, um sich um ihre Scheidung zu kümmern. Carter war Ende sechzig und füllte die leere Stelle einer Vaterfigur aus, die der Tod ihres Vaters bei ihr hinterlassen hatte.

      Sie dachte an ihren zwölfjährigen Sohn. Coltons Mannschaft hatte ein Spiel gegen eins der besten Junior High Eishockeyteams aus Regina vor sich. Als Torhüter für Edmonton war Colton dem meisten Druck ausgesetzt. Aber er war ein tapferer Junge.

      Sie biss sich auf die Unterlippe und wünschte sich, auch so tapfer sein zu können.

      Du bist ein Feigling, Rebecca.

      »Du machst dich von anderen Menschen immer viel zu abhängig«, hatte ihre Mutter stets gesagt.

      Rebecca fand, dass das im Grunde gar nicht ihre Schuld war. Sie hatte das Glück gehabt, starke männliche Vorbilder in ihrem Leben zu besitzen. Männer, die Firmen mit eiserner Hand leiteten und über alle Entscheidungen genau nachdachten. Oder, die zumindest hart arbeiteten, um für ihre Familien sorgen zu können. Männer wie Grandpa Bob und ihr Vater. Männer, denen man vertrauen konnte, dass sie die richtigen Entscheidungen trafen.

      Nicht wie Wesley.

      Selbst ihr Großvater hatte ihn nicht gemocht. Als Grandpa Bob vor zwei Jahren gestorben war, hatte er vorher alle wissen lassen, dass Wesley nicht zu trauen war. Grandpa Bob hatte das typische Leben eines Geizkragens geführt. Niemand wusste, wie viel Geld er für »schlechte Zeiten« gespart hatte – bis er starb und Colton und Ella über $800.000 vom Verkauf seines Hauses und seiner Firma erbten.

      In seiner großen Weisheit hatte Grandpa Bob das Erbe an zwei wichtige Konditionen geknüpft. Geld vom Konto durfte nur für Ella oder Colton abgehoben werden, und Rebecca war die einzige Person, die Zugang zu dem Konto hatte.

      Als Wesley von den Konditionen gehört hatte, war er tagelang mit einer Leichenbittermiene durch das Haus gelaufen. Jedes Mal, wenn sie den Kindern neue Anziehsachen gekauft hatte, hatte er das Gesicht verzogen und gesagt: »Hoffentlich hast du die mit dem Geld von deinem Grandpa bezahlt.«

      Einmal, als er mal wieder das meiste seines Monatsgehalts verspielt hatte, hatte er sie um einen »Kredit« angebettelt, und als sie ihm gesagt hatte, dass sie so viel Geld nicht habe, hatte er sie geschlagen. »Verlogene Nutte! Du sitzt auf einer knappen Million. Ich brauche doch nur dreitausendfünfhundert Dollar. Ich zahle es dir ja auch zurück.«

      Sie hatte sich geweigert und dafür mit blauen Flecken bezahlt.

      Rebecca wollte, dass er für immer aus ihrem Leben verschwand, aber um der Kinder willen musste sie einen Weg finden, Wesley zu vergeben und sich mit der Tatsache abfinden, dass er der Vater ihrer Kinder war. Er würde zwangsläufig immer ein Teil ihres Lebens sein.

      Jedes Mal, wenn sie Colton anschaute, wurde sie an Wesley erinnert. Im Gegensatz zu Ellas blondem Haar und den blauen Augen, die ihren glichen, hatten Vater und Sohn dunkelbraune Haare, hellbraune Augen, eine mit Sommersprossen gesprenkelte Nase und das gleiche Grübchen am Kinn.

      Sie hatte Wesley bei einer Weihnachtsfeier ihrer Firma kennengelernt; gar nicht lange, nachdem sie im Kundendienst

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