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warf einen kurzen Blick auf den Fluss und versuchte zu erkennen, wo das Auto genau untergegangen war. Auf der Wasseroberfläche waren nur kleine Wellen zu sehen. »Du siehst doch, was passiert ist, John.«

      »Du bist einfach so vom Schreibtisch weg. Angesichts deiner Vergangenheit nicht gerade eine rationale Entscheidung.«

      Marcus schüttelte den Kopf. Er hatte immer noch den Geschmack des Flusses im Mund. »Nur, weil ich mal etwas Unerwartetes mache, falle ich doch nicht gleich in alte Gewohnheiten zurück.«

      Zur musterte ihn eingehend, sagte aber nichts.

      »Ich musste einfach etwas tun, John. Ich musste versuchen, sie zu retten.«

      »Dafür gibt es doch den Notruf. Du bist kein Sanitäter mehr.«

      Marcus' Blick wanderte wieder über den Fluss. »Das weiß ich. Aber ihr ward überall unterwegs und irgendwer musste doch nach ihnen suchen. Es war schließlich nicht mehr viel Zeit.«

      Über ihnen zersplitterte ein Blitz den Himmel und Donner krachte laut.

      »Verdammt noch mal, Marcus, das war gegen die Vorschriften!«, rief Zur. »Du weißt ganz genau, wie gefährlich so eine Aktion ist. Wir hätten jetzt auch genauso gut vor vier Leichen stehen können!«

      Marcus schaute ihn finster an. »Statt nur drei, oder was?«

      »Du weißt doch, wie das funktioniert. Schließlich gibt es einen Grund, warum wir immer als Team arbeiten. Jeder von uns braucht Unterstützung. Selbst du.«

      »Alle Rettungsteams waren woanders unterwegs. Mir blieb keine andere Wahl.«

      Zur seufzte. »Wir kennen uns jetzt schon so lange. Ich weiß, dass du getan hast, was du für richtig hältst. Aber das hätte sie alle das Leben kosten können. Und dich wird es vermutlich deinen Job kosten. Warum riskierst du so viel für eine Wildfremde?«

      »Sie war keine Fremde.«

      Marcus wurde sich in den Moment, als er es sagte, bewusst darüber, wie wahr diese Behauptung war. Er wusste mehr über Rebecca Kingston als über alle anderen Frauen. Abgesehen von Jane.

      »Du kennst sie?«, fragte Zur überrascht und runzelte die Stirn.

      »Sie hat mir alles Mögliche erzählt und ich ihr auch. Von daher – ja, ich kenne sie.«

      »Ich kapiere immer noch nicht, warum du nicht einfach in der Zentrale geblieben bist und uns das erledigen hast lassen.«

      »Sie hat mich angerufen.« Marcus schaute seinem Freund in die Augen. »Mich. Nicht dich.«

      »Das verstehe ich ja, aber das ist doch schließlich auch dein Job. Zuzuhören und die Informationen weiterzugeben.«

      »Du verstehst überhaupt nichts. Rebecca war völlig außer sich. Sie hatte panische Angst um sich und um ihre Kinder. Niemand wusste genau, wo sie waren, und ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn ich es nicht zumindest versucht hätte – was für ein Mensch wäre ich dann, John?« Er biss die Zähne zusammen. »Damit hätte ich nicht leben können. Nicht noch einmal.«

      Zur atmete langsam aus. »Manchmal kommen wir einfach zu spät. Das passiert.«

      »Aber ich wollte nicht, dass es dieses Mal passiert.« Marcus dachte an die Vision, in der er Jane mitten auf der Straße hatte stehen sehen. »Ich hatte ein … Gefühl, das ich nah dran war. Und als Rebecca sagte, dass Colton gerade fliegende Schweine gesehen hatte, fiel mir dieser Platz wieder ein. Jane und ich haben hier früher von dem Besitzer Rippchen und Koteletts gekauft. Vor sieben Jahren haben sie dann aber dichtgemacht.«

      »Und dadurch hast du also die Farm gefunden.« Zurs Stimme wurde sanfter. »Gut, dass dein Gefühl gestimmt hat. Dieses Mal. Aber nächstes Mal hast du vielleicht nicht so viel Glück.«

      »Es wird kein nächstes Mal geben, John.«

      In Zurs Mundwinkeln zuckte ein Grinsen. »Mhm.«

      »Wird's nicht geben.«

      Zur zuckte nur mit den Achseln und ging zum Rettungswagen.

      Marcus stand unter dem wilden Himmel am Ufer des Flusses. Tränen strömten über sein Gesicht. Die Ereignisse der Nacht hatten ihn wie ein Schlag in den Magen getroffen. Eine Welle von Erinnerungen schwappte plötzlich über ihn. Der erste Anruf, Rebeccas panische Stimme, das Weinen von Colton im Hintergrund.

       Er kannte diese Art von Angst. Er hatte sie auch schon gespürt. Aber das letzte Mal war es auf einer anderen Straße mit einer anderen Frau und einem anderen Kind gewesen.

      Er schüttelte den Kopf. Er durfte jetzt nicht an Jane denken oder an Ryan. Er durfte nicht darüber nachdenken, was er alles verloren hatte. Er musste sich auf das konzentrieren, was er gefunden hatte, und was er in der gesichtslosen Stimme entdeckt hatte, die ihn getröstet und ihm gesagt hatte, dass es in Ordnung war, loszulassen.

      Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war bereits nach Mitternacht, 00:39 Uhr, um ganz genau zu sein. Er konnte fast nicht glauben, wie sehr sich sein Leben in kaum mehr als zwei Tagen verändert hatte.

      »Marcus!«

      Er drehte sich um …

      Kapitel 1

      Edson, Alberta – Donnerstag, 13. Juni 2013 – 10:15 Uhr

      Marcus Taylor saß auf dem abgenutzten Teppich im Wohnzimmer vor dem offenen Kamin und strich sich mit einer 9-mm-Browning, einer Militärpistole, über das Bein. Das Magazin mit den dreizehn Patronen hielt er in der anderen Hand. Kurz überlegte er, die Waffe zu laden – und sie dann abzufeuern.

      »Aber wer würde dich dann füttern?«, fragte er seine Gefährtin.

      Arizona, eine fünf Jahre alte Irish Setter Hündin, sah ihn fragend an, dann rollte sie sich auf der Couch zusammen und schlief wieder ein. Er hatte sie ungefähr ein Jahr nach Ryans und Janes Tod aus dem Tierheim gerettet. Es war im Haus so verdammt still gewesen. So leblos.

      »Toll zu wissen, dass du auch eine Meinung dazu hast.«

      Marcus legte die Pistole und das Magazin auf den Boden, nahm ein Fotoalbum auf den Schoß und atmete tief ein.

       Das Fotoalbum vom Tod. Nur drei Mal pro Jahr kam das Album ans Licht. Die anderen dreihundertzweiundsechzig Tage lang lag es in dem kleinen Stahlspind versteckt, den er als Beistelltisch benutzte.

      Heute war Pauls sechsundvierzigster Geburtstag. Oder besser gesagt, er wäre es gewesen – denn Paul war tot.

      Wieder holte Marcus tief Luft. Er tastete nach dem Kettchen, das wie ein Lesezeichen eine bestimmte Seite markierte, und schlug dann das Album auf. »Hey, Bro.«

      Auf dem Foto stand Corporal Paul Taylor neben einer verlassenen Straße am Rande einer nichtssagenden afghanischen Stadt. Er hielt ein Scharfschützengewehr vor der Brust und hatte die Browning in der anderen Hand. Bereits am selben Tag war er umgekommen. Eine Landmine neben der Straße hatte ihm die Glieder abgerissen. Die selbst gemachte Bombe hatte unter zwanzig Zentimeter Schotter und Dreck gelegen, bis Paul, der gerade durch ein weinendes Kind abgelenkt gewesen war, unwissentlich darauf getreten war.

      Eine dumme Unachtsamkeit konnte dort schnell den Tod bringen und einen Sohn von seinen Eltern und einen Bruder von seinem Bruder trennen. Aber Geschwister konnten auch durch Groll gegeneinander getrennt sein.

      »Wenn ich dir nur sagen könnte, wie leid es mir tut«, sagte Marcus. Er kämpfte mit den Tränen. »Wir haben so viel Zeit damit verschwendet, aufeinander sauer zu sein.«

      Als er noch klein gewesen war, hatte er immer die Spielzeugsoldaten seines älteren Bruders versteckt, um damit spielen zu können, wenn Paul in der Schule war. In der Highschool hatte Marcus sich nicht anmerken lassen, wie clever er war. Um als der coole kleine Bruder der Hockeylegende Paul Taylor durchgehen zu können, hatte er seine Intelligenz stets versteckt. Auch seine Eifersucht hatte Marcus gelernt zu verstecken.

      Bis sein Bruder umkam.

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