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seinem Bruder übrig geblieben war. Jetzt gab es nichts mehr, auf das er eifersüchtig sein konnte.

      Er warf abermals einen Blick auf die Pistole. Na gut, die hatte er auch. Ein Erbstück von Paul. Einer der Freunde seines Bruders aus der Armee hatte sie ihm persönlich gebracht. »Dein Bruder hat gesagt, dass du sein Spielzeug jetzt haben kannst«, hatte der Typ gesagt.

      Paul hatte schon immer einen seltsamen Sinn für Humor gehabt.

      Marcus wusste, dass seine Eltern heute auf ihrer Kreuzfahrt im Mittelmeer Paul zu Ehren miteinander anstoßen würden. Er tat es ihnen gleich. »Du fehlst mir, Bro.«

      Dann ließ er die Marke los und blätterte zu den nächsten Fotos weiter. Eine Brünette mit kurzem, welligen Haar und leuchtend grünen Augen lächelte ihn an.

      Jane!

      »Hallo, kleine Fee.«

      Er fuhr mit dem Finger über ihr Gesicht, erinnerte sich daran, wie ihr linker Mundwinkel immer leicht nach oben gezeigt und wie sie sentimentale Chickflicks geguckt hatte, bei denen sie gar nicht gemerkt hatte, wie ihr die Tränen über das Gesicht geronnen waren.

      Marcus blätterte weiter und atmete scharf ein. Ein hübscher kleiner Bengel strahlte dort und winkte ihm zu.

      »Hey, Kumpel.«

      Er erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie dieses Foto geschossen hatten. Sein Sohn Ryan, der neue Torhüter seines Junior High Eishockeyteams, hatte keinen einzigen Schuss ins Tor gelassen und seinem Team dadurch einen 3:0 Vorsprung verschafft. Jane hatte das Bild in genau dem Moment gemacht, als Ryan seinen Vater unter den Zuschauern entdeckt hatte.

      »Ich hab dich lieb.« Marcus' Stimme brach. »Und du fehlst mir so schrecklich.«

      Das war etwas, das er nicht verstecken konnte. Niemals.

      Und dann war da noch etwas, das er ebenfalls nicht verbergen konnte.

      Er hatte Jane getötet. Und Ryan.

      Seit sechs Jahren erschienen ihm seine tote Frau und sein Sohn im Schlaf, verhöhnten ihn durch ihre geisterhafte Erscheinung, quälten ihn mit vertrauten Sprüchen, verwirrten seine Gedanken und Sinne zu einem stinkenden Matsch aus Schuldgefühlen. Er konnte sich von ihren anschuldigenden Blicken und dem boshaften Grinsen nur befreien, indem er aufwachte. Oder gar nicht erst einschlief. Der Schlaf war mittlerweile sein Feind geworden. Deshalb tat er sein Möglichstes, um ihn zu vermeiden.

      Marcus warf einen Blick auf die antike Uhr, die auf dem Kaminsims stand. 11:26 Uhr.

      Noch vierundzwanzig Minuten, dann würde er sich auf den Weg ins Yellowhead County Emergency Centre machen müssen, wo er als Notrufdispatcher arbeitete. Seit fast sechs Monaten war er schon dort. Jetzt hatte er die Hälfte von fünf 12-Stunden-Schichten rum, die jeweils von mittags bis Mitternacht gingen. Er arbeitete mit seinem besten Freund Leo zusammen, der zweifelsohne wieder guter Laune sein würde. Leo schlief gern lange und es gefiel ihm, seinen Tag erst um die Mittagszeit herum zu beginnen, während Marcus die Mitternachtsschicht vorzog, die bis mittags ging – die Schicht, die alle anderen hassten. Ihm aber gab sie nachts etwas zu tun, denn das Einschlafen fiel ihm ebenfalls schwer.

      Er klappte das Fotoalbum zu, stand langsam auf und streckte dann seine verkrampften Muskeln. Als er das Album, die Pistole und das Magazin wieder zurück in den Spind legte, fiel sein Blick auf eine kleine Schachtel aus Zedernholz, deren Deckel mit einem Arztabzeichen verziert war. Er bemühte sich, sie einfach zu ignorieren.

      Selbst Arizona wusste, dass die Schachtel nichts Gutes verhieß. Die Hündin erstarrte sofort. Ihr Nackenfell sträubte sich.

      »Ich weiß«, sagte Marcus. »Aber ich kann der Versuchung widerstehen.«

      Die Schachtel hatte ihm mehr als nur einmal Ärger bereitet. Sie stand für seine Vergangenheit, die er nur zu gerne ungeschehen machen würde. Aber in den Müll werfen konnte er das Ding auch nicht. Es hielt ihn irgendwie in seinem Bann. Selbst jetzt ging ein Lockruf davon aus.

      »Marcus …«

      »Nein!«

      Er schlug den Spind mit der Faust zu. Der Lärm hallte durch das Zimmer wie das Zuschlagen einer Gefängnistür: die seines eigenen Kerkers.

      Hinter ihm winselte Arizona ängstlich.

      »Sorry, Mädchen.«

      Irgendwann würde er die Schachtel mit dem Deckelabzeichen wegwerfen und dieses Kapitel seines Lebens abschließen.

      Aber noch nicht.

      Er schüttelte den Anfall von Schuldgefühlen ab und rannte die Treppe ins obere Stockwerk hoch, dabei nahm er immer direkt zwei Stufen auf einmal. Im großen Schlafzimmer des gemieteten Zweifamilienhauses gab es nichts Weibliches mehr. Es war bis auf das Notwendigste ausgeräumt worden: ein Bett, ein Nachttisch und ein hoher Schrank. Die Jalousien waren aus Metall; keine geblümten Vorhänge wie die in dem Haus, das er und Jane in Edmonton gekauft hatten. Die Bettdecke war in einer Mischung aus Brauntönen gehalten und über das einsame Kopfkissen gezogen. Dekorative Kissen, wie Jane sie geliebt hatte, gab es hier nicht. Auf der Kommode stand kein Strauß Seidenblumen. In der Luft lag kein Hauch von Weichspüler mit Zitrusaroma. Nichts deutete noch auf Jane hin.

      Auch sie hielt er sorgsam versteckt.

      Marcus betrat das ans Schlafzimmer anschließende Bad und starrte in den Spiegel. Er betrachtete den wild wuchernden Bart, der langsam drohte, sein Gesicht zu verschlingen. Er lehnte sich nach vorne und musterte seine mehr grauen als blauen Augen. Dann wandte er sein Gesicht der Sonne zu. »Ich bin nicht müde.«

      Die dunklen Ringe unter seinen Augen straften ihn allerdings Lügen.

      Er ignorierte Arizonas wachen Blick, öffnete die Hausapotheke und nahm eine Tube Hämorridensalbe heraus – ein Trick, den er von seiner Frau Jane gelernt hatte. Bevor er sie getötet hatte.

       Nur ein kleiner Tupfer unter die Augen, nicht lächeln oder die Stirn runzeln, und in Sekundenschnelle hatten sich die Furchen in seinem Gesicht geglättet. Dann noch etwas von Janes »Tipp-Ex«, wie sie ihre Abdeckcreme genannt hatte, und schon waren die Augenringe komplett weg.

      »Nun bin ich getarnt«, sagte er zu seinem Spiegelbild.

      Eine Erinnerung an Jane stieg nun plötzlich in ihm hoch.

      Es war der Abend vor neunzehn Jahren, beim Bankett der BioWare Preisverleihungen. Jane saß in einem rosa Morgenmantel mit dem Lockenstab vor der Spiegelkommode im Badezimmer, während Marcus mit seiner Krawatte kämpfte.

      Er fluchte. »Nie kriege ich diesen Knoten hin.«

      »Lass mich mal versuchen.« Bevor er protestieren konnte, hatte Jane einen Stuhl hinter ihn geschoben und war darauf geklettert. Sie fing seinen Blick im Spiegel über dem Waschbecken ein und griff dann über seine Schultern. Ihre Augen wanderten zu dem verdrehten Klumpen, der eigentlich ein Windsorknoten hatte werden sollen. »Du musst nicht immer gleich so ungeduldig sein.«

      »Und du solltest nicht auf Stühlen herumklettern.«

      »Ist doch nichts dabei, Marcus.«

      »Du bist schwanger, das ist dabei.«

      »Aha. Du findest du mich wohl fett, was?«

      Jane hatte noch nie so schön ausgesehen wie jetzt, wo sie im fünften Monat mit Ryan schwanger war.

      »Ich würde dich nie fett finden«, gab er zurück.

      Sie legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue hoch. »Nie? Und wie wirst du das in vier Monaten sehen, wenn ich die Treppe zum Schlafzimmer nicht mehr hochkomme?«

      »Dann trage ich dich eben.«

      »Und was, wenn ich meine Füße nicht mehr sehen kann und mir nicht mehr die Zehennägel lackieren kann?«

      »Dann mach ich das für dich.«

      »Und was, wenn …«

      Er drehte den Kopf und küsste sie. Da gab sie endlich Ruhe.

      Lachend

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