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brüllte Shipley. »In mein Büro!«

      Leo packte Marcus am Arm. »Sag ihm, du hättest sechs Stunden geschlafen.«

      »Du willst, dass ich den Boss anlüge?«

      »Sichere dich einfach ab. Und stachele ihn um Gottes willen nicht auf.«

      Marcus grinste. »Warum sollte ich das auch tun?«

      Leo starrte ihn an. »Weil dir Chaos gefällt.«

      »Selbst im Chaos gibt es Ordnung.«

      Leo schnaubte. »Du liest eindeutig zu viele Selbsthilfebücher. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging an seinen Schreibtisch.

      Marcus schaute ihm hinterher. Mach dir keine Sorgen, Leo. Mit Pete Shipley komme ich schon klar.

      Vor Shipleys Tür hielt er kurz inne, holte tief Luft, klopfte an und trat dann ein. Sein Vorgesetzter saß hinter einem Schreibtisch aus Metall. Die dicken Brillengläser thronten auf der Spitze seiner Knollennase. Er musterte gerade einen Berg Formulare. Obwohl Shipley Marcus in sein Büro beordert hatte, reagierte er nun in keiner Weise auf dessen Anwesenheit.

      Marcus hatte nichts dagegen. So konnte er sich ausgiebig in dem vollgestopften, fensterlosen Büro umsehen und den recycelten Mief, der Luft sein sollte, einatmen. Es war kein Büro, um das man Shipley beneidete. Niemand wollte es – und auch nicht seine Position und die damit verbundene Verantwortung. Selbst Shipley wollte sie nicht. Es wurde gemunkelt, dass er versuchte, in eins der Eckbüros mit bis auf den Boden reichenden Fenstern umzuziehen und eine Stelle als Notrufkoordinator zu ergattern. Marcus hatte allerdings seine Zweifel, dass das je geschehen würde. Shipley war schließlich nicht gerade das, was man sich unter einem Manager vorstellte.

      Marcus stand hinter dem pseudoledernen Stuhl ohne Armlehnen, den Shipley für die wenigen Glücklichen bereithielt, denen er erlaubte, in seiner Gegenwart zu sitzen, und legte die Hände auf die Rückenlehne. Zu den wenigen Glücklichen gehörte Marcus offensichtlich nicht.

      Er bereitete sich innerlich auf eine ernste Rüge vor und dachte an die letzte Nachtschicht. Ein betrunkener Autofahrer hatte an einer viel befahrenen Kreuzung in Hinton einen anderen Wagen seitlich gerammt und so einen Auffahrunfall mit insgesamt vier Fahrzeugen verursacht. Einer der Wagen, ein Minivan mit einem älteren Pärchen und zwei kleinen Jungs, war durch die Wucht des Aufpralls zwischen zwei Fahrzeugen eingeklemmt gewesen. Der Unfall hatte zu zahllosen panikerfüllten Anrufen in der Notrufzentrale geführt. Die Emergency Medical Services (EMS), inklusive Feuerwehr und Ambulanz, waren innerhalb von sechs Minuten an der Unfallstelle erschienen. Mit dem Rettungsspreizer war das zerdrückte Metall von zwei der Autos auseinandergebogen worden. Aber nur drei der Insassen konnten lebendig geborgen werden, und einer starb bei der Ankunft im Krankenhaus. Dann entdeckten die Rettungssanitäter noch eine Limousine mit drei Teenagern. Alle waren tot.

      Die werden noch wochenlang Albträume haben.

      Marcus wusste, was für ein Gefühl das war. Früher war er ebenfalls Einsätze gefahren. Früher, in einem anderen Leben.

      Er drückte das Kreuz durch. Er war bereit, sich Shipleys Wut zu stellen. Zumindest geschah es dieses Mal hinter geschlossenen Türen. Und wenn er ganz ehrlich war, er hatte ja auch wirklich etwas verbockt. Den Unfallreport falsch abzulegen war nur einer von einer ganzen Reihe dummer Fehler gewesen, die er in der letzten Woche gemacht hatte. Die meisten davon waren ihm aber zum Glück selbst aufgefallen, und er hatte sie behoben.

      »Bevor Sie etwas sagen«, begann Marcus, »ich weiß, dass ich …«

      »Was denn?«, fuhr Shipley ihn an. »Sie wissen also, dass Sie ein Idiot sind?«

      »Nö. Das ist mir neu.«

      Langsam erhob sich Pete Shipley mit seinen gesamten zweihundertachtzig Pfund zu seiner Länge von zwei Meter und zehn. Er stemmte seine fleischigen Fäuste auf die Tischplatte und beugte sich vor. »Ich habe drei Stunden lang nach dem Unfallbericht gesucht, Taylor. Drei Stunden! Und wissen Sie, wo ich ihn gefunden habe?« Eine Nanosekunde lang war er still. »Unter den Anrufberichten von vermissten Personen. Was haben Sie dazu zu sagen?«

      »Ich finde, es hat doch eine gewisse Ironie, dass ich einen verschwundenen Bericht unter verschwundenen Menschen abgelegt habe.«

      »Reden Sie doch keinen Unsinn!« Shipley starrte ihn finster an. Seine Augenbrauen zogen sich zu einer einzigen langen Linie zusammen. »Lombardo hat gesagt, dass Sie jetzt wieder besser schlafen, aber das nehme ich ihm nicht ab. Was sagen Sie dazu?«

      »Leo hat recht. Letzte Nacht hab ich wie ein Baby geschlafen.«

      Shipley zog erneut eine Augenbraue hoch. »Für ein Baby sehen Sie aber ziemlich scheiße aus. Sie müssen sich mal wieder die Haare schneiden lassen und sich rasieren.« Er rümpfte die Nase. »Haben Sie diese Woche überhaupt schon mal geduscht?«

      »Ich dusche jeden Tag. Nicht, dass Sie das was angehen würde. Was meine Haarlänge und den Bart angeht, grenzt das sogar schon an Diskriminierung.«

      »Ich diskriminiere Sie nicht. Ich mag Sie ganz einfach nicht. Sie sind ein gottverdammter Junkie, Taylor.«

      Alle in der Zentrale wussten über Marcus' Vergangenheit Bescheid.

      »Nett, dass Sie das so offen klargestellt haben, Peter.«

      Shipley zuckte zusammen. »Nur noch ein weiterer Fehler - wir beobachten Sie. Wenn Sie sich noch einmal so etwas leisten, sind Sie gefeuert!« Seine Schultern entspannten sich nun und er sank wieder in seinen Chefsessel. »Wenn es nach mir ginge, hätte ich Sie schon vor Monaten gefeuert.«

      »Schön, dass es nicht nach Ihnen geht.«

      Marcus wusste, dass er den Mann immer mehr reizte, aber das passierte sowieso leicht. Shipley war ein Idiot. Ein Schleimer, der laut Leo seinen Arsch nicht von seinem Schwanz unterscheiden konnte.

      »Das war jetzt Ihre letzte Verwarnung«, presste Shipley zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wir sind hier für Leben und Tod verantwortlich. Fehler können wir uns einfach nicht leisten.«

      »Es war doch nur ein falsch abgelegter Bericht. Der Notruf war korrekt und ist schnell weitergeleitet worden.«

      »Ja, immerhin haben Sie den Krankenwagen nicht in die falsche Richtung geschickt.« Ein selbstzufriedenes Lächeln breitete sich auf Shipleys Gesicht aus. »Das war's, was Ihrem arroganten Getue als Rettungssanitäter ein Ende gesetzt hat. Weshalb EMS Sie gefeuert hat.«

      Marcus fielen dazu unzählige Antworten ein, jedoch keine höfliche. »Ich denke, wir sind mit unserer kleinen Konferenz hier fertig.«

      »Ich bin noch lange nicht fertig«, brüllte Shipley.

      »Bist du doch, Pete.«

      Und damit verließ Marcus das Büro. Er ließ Shipleys Tür halb offen, da er wusste, dass sich sein Vorgesetzter darüber noch mehr, als über seine Aufsässigkeit ärgern würde.

      Er versuchte, Shipleys Worte zu verdrängen, aber der Mann hatte ihn damit getroffen. Vor sechs Jahren war Marcus in aller Öffentlichkeit bloß gestellt worden, als die Wahrheit über seine Sucht bekannt geworden war. Seine Zukunft als Rettungssanitäter hatte in dem Moment geendet, als er mit der Ambulanz in den falschen Stadtteil gefahren war, weil er zu high gewesen war, um sich zu merken, wohin er eigentlich unterwegs war.

      Damals hatte er sich für eine Weile zurückgezogen. Von der Arbeit … von Jane … von allem. Er war nach Cadomin gefahren, um den Kopf wieder klar zubekommen und um etwas angeln zu gehen. Zumindest hatte er das Jane erzählt. Dabei hatte er seine Drogen heimlich in das Holzkästchen gepackt. Sechs Tage später, als sich sein von Morphium benebeltes Hirn mit den Gestalten von geisterhaften Kindern füllte, klingelte plötzlich sein Handy. Mit bedrückter Stimme hatte Detective John Zur ihm erzählt, dass Jane und Ryan in einen Autounfall verwickelt worden waren, gar nicht weit entfernt von der Stelle, wo sich Marcus vergraben hatte.

      Das war der Anfang vom Ende für Marcus gewesen.

      Seitdem arbeitete er als alles Mögliche, um über

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