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"Krieg, Seuchen und kein Stück Brot". Ernst Gusenbauer
Читать онлайн.Название "Krieg, Seuchen und kein Stück Brot"
Год выпуска 0
isbn 9783706561143
Автор произведения Ernst Gusenbauer
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Seine Kernthese machte den expansionistischen Drang der deutschen Reichsführung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und seine Folgen verantwortlich. Daneben gab es aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern eine intensive Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg. Seit den 1970er Jahren wurde die Zeit zwischen 1914 und 1918 vor allem aus dem Blickwinkel großer sozialer und wirtschaftlicher Zusammenhänge betrachtet.
Wichtige Beiträge auf diesem Gebiet stammen von zwei Historikern aus den USA und Deutschland. Gerald D. Feldman publizierte „Army, Industry and Labor in Germany 1914–1918“ (1966) und der Bielefelder Historiker Jürgen Kocka verfasste eine Studie über die deutsche „Klassengesellschaft im Krieg“, die erstmals 1973 veröffentlicht wurde.
Die Hinwendung zu Mentalitäten und Alltagserfahrungen seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts erfasste weite Teile der Geschichtswissenschaft und ging mit der Suche nach neuen Quellen einher. Dazu rückten Tagebücher, private Korrespondenzen, Frontzeitungen und Ansichtskarten in den Fokus der Betrachtungen.
Dieser sogenannte Paradigmenwechsel hatte mehrere Gründe. Vor allem in den angelsächsischen Ländern beschäftigte man sich schon sehr lange mit der Alltagsgeschichte des Krieges, hier im Besonderen jener der einfachen Soldaten. Außerdem gewann die französische Historikerschule der „Annales“ einen immer größeren Einfluss. Sie wandte sich der Analyse sozioökonomischer Strukturen und Prozesse zu und hat dabei bislang kaum berücksichtigte Bevölkerungsgruppen intensiver untersucht. Das führte zum Studium von Kultur- und Gefühlswelten. Die klassische Militärhistoriographie, auch Offiziersgeschichtsschreibung genannt, mit ihrem vorrangigen Metier der Waffentechnik, Schlachten und Feldzüge, Taktik und Strategie wurde obsolet, denn eine jüngere zivile Forschergeneration drängte immer vehementer in Richtung Alltags- und Mentalitätsgeschichte.24
Der Erfahrungs- und Kulturgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Massenstimmung und Kriegspropaganda in Deutschland widmet sich auch eine 1997 von Wolfgang Kruse herausgegebene Publikation.25
In Großbritannien wurden die Jahre 1998 und 2004 zu Gedenktagen mit kritischen Reflexionen genützt. Aber auch in Frankreich und Deutschland gab es zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen zu diesem Thema. Bücher, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendungen erlagen der Faszination runder Zahlen und widmeten dem Großereignis und Wendepunkt breiten Raum.26
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gewinnt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg, italienisch „La Grande Guerra“, französisch „La Grande Guerre“ oder englisch als „The Great War“27 bezeichnet, neuerlich an Attraktivität und hat dabei eine spürbare Neuorientierung erfahren. Geht es einerseits um die Problematisierung bislang erfolgter Datierungsversuche, so ist man andererseits skeptisch gegenüber den „großen Erzählungen“ und fühlt sich einer Multiperspektivität und einem Methodenpluralismus verpflichtet. Gleichzeitig erscheinen die Voraussetzungen für vergleichende Studien so gut wie nie.28
Die Weltkriegsforschung in Italien, einem der mit Österreich-Ungarn Krieg führenden Länder, blieb dem Topos vom gerechten Krieg bis zur Mitte der 1960er Jahre verbunden.29
Ab dann finden sich Indizien für einen Paradigmenwechsel hin zur Untersuchung der Geschichte von unten. Es waren vor allem die Forschungsarbeiten von Giovanna Procacci, die neue Horizonte eröffneten. Ihre im Jahre 1994 erstmals veröffentlichte Studie widmete sich kritisch dem Verhältnis der italienischen Regierung zu ihren Kriegsgefangenen im Feindesland.30 Die Kriegsgefangenenlager waren nach Procacci das Produkt der modernen Industriegesellschaft.31
Mauthausen in Oberösterreich fungierte aus ihrer Sicht als Pandämonium der österreichisch-ungarischen Lager. Durch die miserablen Bedingungen sei die Sterblichkeitsrate ungewöhnlich hoch gewesen. Zur Untermauerung dieser Hypothese stützt sich Procacci auf Augenzeugenberichte aus oberösterreichischen Lagern, die die Briefzensur offensichtlich passieren ließ:
„[…] In Mauthausen sahen unsere Offiziere häufig die gefangenen Soldaten, die aus ihrer Gruppe jeden Morgen in eine Abteilung kamen, um Abfälle zu sammeln, wir sahen sie, wie sie sich in die Abwasserkanäle und in die Abfallbehälter warfen, um Heringsköpfe und -gräten sowie Kartoffelreste und jede Art roher, verdorbener und fauler Waren zusammenzukratzen […]“.32
Diese Missstände hätten schließlich zu einer moralischen Depression geführt. Dazu kam noch die desillusionierende Wirkung des Wissens um die ablehnende Haltung im eigenen Land.
Aber, so Procacci weiter:
„[…] Der Hass gegen das eigene Land […] schwächte bei vielen kriegsgefangenen Soldaten den Hass auf den Feind ab, dem weder eine besonders strenge Disziplin noch die Schuld für materielle Mängel zur Last gelegt werden konnte […]“.33
Die italienische Regierung lehnte nämlich staatlich finanzierte Hilfsgüterlieferungen an die Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn und Deutschland rundweg ab. Sie wurden abschätzig als Vaterlandsverräter oder als „Fahnenflüchtige jenseits der Alpen“ tituliert.34
Luca Gorgolini hat jüngst mit der Publikation „Kriegsgefangenschaft auf Asinara“ aufhorchen lassen.35
Ausgehend von den Forschungsarbeiten Giovanna Procaccis untersucht der Autor nunmehr die Bedingungen, denen österreichisch-ungarische Soldaten am Beispiel des sardischen Insellagers Asinara ausgesetzt waren. Er kommt zum Ergebnis, dass Hunger und Seuchen trotz mannigfaltiger Bemühungen aufgrund der gewaltigen und unvorhergesehenen Dynamik dieses Krieges nicht zu vermeiden waren.
Und welche Entwicklungslinien lassen sich für die österreichische Weltkriegsforschung verorten?
In den letzten zehn Jahren gab es, initiiert vom Institut für österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck, eine erfolgreiche transnationale und interregionale wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen österreichischen, deutschen und italienischen Historikern zur Thematik des Ersten Weltkriegs. Dies ist ein deutlicher Beleg dafür, dass die vielfach als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete kriegerische Epoche gerade die heutige jüngere Historikergeneration in ihren Bann zu ziehen vermag.36
In der historischen Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges in Österreich standen lange Zeit militärische Aspekte im Vordergrund. Diese einseitige Ausrichtung auf die militärische Sichtweise erzeugte aber ein Bild vom Krieg als einem „eigenständigen und losgelösten Raum“37, der anscheinend keinerlei Auswirkungen auf das zivile Leben hatte.
In der Ersten Republik besaß das Militär die alleinige historische Verfügungsgewalt, verbunden mit einer restriktiven Archivsperre. Nur einem kleinen Kreis nicht-militärischer Historiker wurde der Zugang zu den Archivbeständen erlaubt. Sie trachteten naturgemäß danach, den Kriegsschuldvorwurf zu entkräften. In dieser Zeit dominierte die sogenannte Offiziersgeschichtsschreibung. Sie galt als die einzig gültige Form der Weltkriegsaufarbeitung.
Klarerweise