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hatte doch immer alles so lebendig geschildert. Noch bei ihrem letzten Besuch hatte sie eine amüsante Geschichte von einem jungen Mann erzählt, der bei ihr Eheringe erstehen wollte und dem sie nur mühsam begreiflich machen konnte, daß im Warenhaus kein echter Schmuck geführt wurde.

      Und das alles sollte erlogen sein? Ein Jahr, mehr als ein Jahr, sollte Helga ihr eine Existenz vorgegaukelt haben, die mit ihrem wirklichen Leben gar nichts zu tun hatte? Und warum nur? Warum?

      Frau Reimers fiel es nicht schwer, Entschuldigungen für ihre Tochter zu finden. Natürlich hatte sich das Mädchen geschämt weil man sie entlassen hatte. Sie hatte den Zorn des Vaters gefürchtet, die Eltern nicht enttäuschen wollen. Aber diese Entschuldigungen boten keine wirkliche Erklärung. Frau Reimers war klug genug, das einzusehen. Inzwischen mußte Helga doch längst wieder eine andere Stellung gefunden haben. Wenn sie sich schon schämte, die Wahrheit zuzugeben, wäre es doch viel einfacher gewesen, zu behaupten, sie hätte ihre Stellung bei Maak freiwillig aufgegeben, weil ihr der neue Arbeitsplatz mehr zusagte.

      Aber zu lügen, immer wieder zu lügen, mit offenen Augen und ohne eine Spur von Verlegenheit, nein, das überstieg das Fassungsvermögen der Mutter. Sie hatte das quälende Gefühl, daß sich ein schreckliches Geheimnis hinter alldem verbarg, und es kam ihr auch vor, als ob ihr Mann mehr wußte, als er sagte – aber was steckte dahinter? Frau Reimers Phantasie wurde nur von eigenen Erlebnissen gespeist; sie reichte nicht in eine Welt, die ihr so fern lag wie das Leben auf einem anderen Stern.

      In den nächsten Tagen versuchte sie immer wieder, das Gespräch auf Helga zu bringen. Aber sobald sie auch nur eine Andeutung in dieser Richtung machte, stand Paul Reimers auf und verließ das Zimmer, auch wenn sie mitten in einer gemeinsamen Mahlzeit waren. Sie mußte einsehen, daß er entschlossen war, seine Drohung wahr zu machen – für ihn existierte Helga nicht mehr.

      Anna Reimers hatte sich in all den Jahren ihrer Ehe noch nie so einsam gefühlt. Verstand Paul denn nicht, daß sie ihre Tochter nicht einfach aufgeben konnte? Ihre Älteste, die sie in so schweren Zeiten geboren, die ihr so viel Freude geschenkt, so viel Sorgen bereitet hatte!

      Das Gefühl unendlicher Einsamkeit verstärkte sich noch durch die Gleichgültigkeit ihrer anderen Kinder.

      »Hör doch endlich damit auf, Mutti«, sagte Karin, als Paul Reimers wieder einmal mit steinernem Gesicht zu seinem Hut gegriffen und die Wohnung verlassen hatte. »Das wird doch wirklich langsam zu dumm. Vater will einfach nicht darüber reden, begreifst du das denn nicht?«

      Und Rolf sagte: »Reg dich nicht auf, Mammutschka! Du kennst doch Vati. Lange hält er das sowieso nicht durch. Laß ihn doch in Ruhe, dann kommt alles ganz von selbst wieder in Ordnung.« Er erklärte das auf seine nette Art, die Frau Reimers sonst immer gut getan hatte. Jetzt aber spürte sie nur seine grenzenlose Verständnislosigkeit und hatte plötzlich das Gefühl, einem Fremden gegenüberzusitzen, dem fremden Sohn eines fremden Mannes.

      Sie stürzte aus dem Zimmer, weil sie ihren Kindern nicht das Schauspiel ihrer Tränen und ihrer Verzweiflung bieten wollte.

      Es gab für Anna Reimers nur einen einzigen Trost: Sie hatte Helgas Adresse. Sie bewahrte den Zettel des Einwohnermeldeamtes, den ihr Mann ihr im Zorn hingeschleudert hatte, wie eine Kostbarkeit auf. Mehr als einmal war sie nahe daran, Helga zu schreiben. Aber dann unterließ sie es doch wieder. Wenn Helga sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Gesicht hinein belogen hatte, wieviel leichter würde es ihr fallen, einen Bogen Papier mit Lügen zu bedecken.

      Nein, ein Brief konnte jetzt nichts mehr helfen. Sie mußte Helga sehen, mit eigenen Augen, wie sie lebte, was sie tat, wie es ihr ging. Sie mußte es wissen, sonst würde sie keine ruhige Minute mehr haben.

      Natürlich wagte sie nicht, mit ihrem Mann über diesen Plan zu sprechen. Sie war sich darüber klar, daß sie eine Lüge erfinden mußte, um wenigstens für zwei Tage von Bingen fortzukommen. Ihr Kummer verdoppelte sich noch bei diesem Gedanken. Zum erstenmal in ihrem Leben würde sie ihren Mann hintergehen. Aber es half nichts. Er zwang sie ja dazu. Es blieb ihr keine andere Wahl.

      Während Anna Reimers ihrer gewohnten Tätigkeit nachging, putzte, wusch, stopfte, kochte und einkaufte, zerbrach sie sich unentwegt den Kopf über dieses Problem, das sie bis in die Nächte hinein verfolgte.

      Endlich kam ihr eine Idee. Sie hatte nur wenige Stunden geschlafen, war früh erwacht, als der Morgen erst grau vor dem Fenster heraufdämmerte. Sie wagte sich nicht zu rühren, um ihren Mann nicht zu stören. Mit brennenden Augen starrte sie an die Zimmerdecke, da kam ihr ein Gedanke.

      In den nächsten Tagen hatte ihre Schwester Bertha, die in Hilden verheiratet war, Geburtstag. Das war ein guter Vorwand. Seit Monaten hatte sie ihre Schwester nicht gesehen, aber sie standen in enger brieflicher Verbindung. Paul würde keinen Verdacht schöpfen, wenn sie erklärte, Bertha besuchen zu wollen – und er würde bestimmt auch nicht auf die Idee kommen, sie zu begleiten, denn er schätzte die Familie ihrer Schwester nicht. Berthas Mann, ein gelernter Bäcker, hatte es vorgezogen, in die Fabrik zu gehen, wegen des besseren Verdienstes und der angenehmeren Arbeitszeit. Paul hatte ihm dieses »Absinken ins Proletariat«, wie er es nannte, nie verziehen.

      Anna Reimers mußte an sich halten, um ihren Mann nicht zu wecken. Am liebsten hätte sie sofort mit ihm darüber gesprochen. Aber sie lag starr und steif mit gefalteten Händen. Sie kannte ihn nur zu gut. Sie durfte nichts überstürzen, ihn auf keinen Fall verärgern, sonst war alles verloren.

      Als der Wecker klingelte, fuhr sie hoch. Sie konnte es nicht begreifen, aber sie war tatsächlich noch einmal eingeschlafen.

      Sie legte ihre Hände auf die Schulter ihres Mannes und rüttelte ihn leicht. »Paul, Paul . . . es ist Zeit! Du mußt aufstehen!«

      Er ächzte laut.

      Sie sprang aus dem Bett, ließ den Wecker weiter läuten, ging in die Küche und setzte Kaffeewasser auf. Dann klopfte sie gegen die Türen der Kinder. Aber sie ließ sich nicht wie sonst Zeit, sich zu vergewissern, ob sie wirklich wach geworden waren, sondern lief ins Schlafzimmer zurück.

      Paul Reimers saß auf der Bettkante, den Kopf in die Hände gestützt. Sein Gesicht war fahl vor Müdigkeit. Er wirkte in dem viel zu weiten Schlafanzug bemitleidenswert mager.

      »Paul«, sagte Frau Reimers so beiläufig wie möglich, »mir ist heute nacht ein Gedanke gekommen! Übermorgen hat doch Bertha Geburtstag . . . Wollen wir da nicht zusammen nach Hilden fahren? Sie würde sich bestimmt sehr, sehr freuen.«

      Er gähnte. »Warum?«

      »Aber Paul!« Sie zwang sich zu einem kleinen Lachen. »Sie hat uns doch so lange nicht mehr gesehen!«

      Er reckte sich, stand auf. »Fahr du von mir aus, wenn du gern möchtest. Mich laß gefälligst mit solchen Geschichten in Frieden . . .« Er angelte nach den Pantoffeln, schlurfte ins Bad.

      Sie lief hinter ihm her. »Du müßtest mir einen kleinen Zuschuß geben, Paul. Für die Fahrt hätte ich noch genug, aber ich muß Bertha doch schließlich irgend etwas mitbringen.«

      »Ein Narr, der mehr gibt, als er hat . . .« Paul Reimers starrte in den Spiegel über dem Waschbecken, fuhr sich mit der Hand über seine unrasierte Wange.

      »Paul!« sgte sie bittend.

      »Ich kann dir nicht helfen. Wenn du es dir nicht leisten kannst, mußt du eben drauf verzichten. Ich halte das Ganze sowieso für eine Kateridee.«

      Anna Reimers gab nicht auf. »Dann werde ich eben ohne ein Geschenk zu Bertha fahren. Aber was macht das für einen Eindruck!«

      Er prüfte die Klinge seines Rasierapparates. »Vor der Fabrikarbeitergattin brauchst du dich bestimmt nicht zu genieren«, sagte er verächtlich.

      Das Frühstück wurde eine einzige Hetze. Rolf war natürlich nicht rechtzeitig aufgestanden und schlang im Stehen sein Brötchen hinunter. Karin war wieder einmal beleidigt, daß der Vater das Bad zu lange in Beschlag genommen hatte. Paul Reimers, der gern in Ruhe frühstückte, verschanzte sich hinter der Zeitung.

      Anna Reimers atmete auf, als endlich alle gegangen waren.

      Sie

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