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je gesehen hatte. Ide entdeckte nichts von sich. Nicht einmal die Form der Ohrläppchen. Nicht einmal die Linie der Lippen besaß eine Spur von Ähnlichkeit, und kein Kämmen, weder mit Wasser noch mit Ölen, würde den Wirbel aus dem Haar der Kleinen entfernen können.

      Die Zinken des Kammes in ihre Finger gebohrt, dachte Ide an die vielen Male, wenn sie ihre Ringe und Halsketten angestarrt hatte, um ihre chemische Zusammensetzung zu sehen, die sie zu echtem Gold machten, während alles, was sie zusammenschmolz, nie dazu wurde. Sie warf den Kamm zur Seite und überließ Mette der Amme.

      Mette war Olufs Tochter. Jeden freien Augenblick trug er sie herum. Der große Mann formte seine Arme wie ein offenes Boot, und da lag das Kind und ließ es sich gutgehn. Sie hielt sich am Brustharnisch ihres Vaters fest, zupfte an den Streifen der geschlitzten Ärmel und drehte den Kopf mit ihrer pelzgefütterten Mütze, um die Enten in dem um das Schloß aufgestauten Teich zu betrachten. Oluf erklärte ihr umständlich den Avernakkedamm und warum der eine Wasserstand höher war als der andere und daß der Festungsturm »Die Weiße Jungfrau« gebaut wurde, um den Feind daran zu hindern, das Wasser wegzusprengen.

      Er nahm Mette mit zur Abrichtung der Falken, und allein ihr zu Ehren wurde eine der Kanonen mit schwarzem Pulver gestopft und abgefeuert. Während die Offiziere und Soldaten mit gezogenen Schwertern angerannt kamen in dem Glauben, die Lübecker stünden vor den Toren, klatschte Mette mitten in dem Pulverdampf und dem Gedröhne nur begeistert in die Hände, denn sie war natürlich von Geburt an Lärm und Spektakel gewöhnt.

      Birgitte stopfte sich voll mit Würsten und Pasteten. Jedesmal wenn sie ihre Schwester sah, fing sie zu betteln an. Die Backen wurden dick, und als Ide ihre Portionen bei Tisch rationierte, legte sich Birgitte heimlich Vorräte an Nüssen und Wurzeln an, sammelte Zweige und stibitzte im Keller Hühnerbeine. Selbst wenn sie nichts im Mund hatte, bewegten sich ihre Kiefer, sobald Mette in die Nähe kam. Sie schnappten, als bissen sie in Speck. Eines Tages fand man Birgittes Puppe im obersten Schloßteich schwimmend, in jedem Auge sieben Nadeln, und das Mädchen heulte und bekam Krämpfe, als sie ihr Spielzeug wiedersah.

      Ide konnte sich mitten in der Hektik des Schlachtmonats kaum um die Kinder kümmern. Mehr als hundertfünfzig Münder warteten täglich auf etwas zu essen. Es war genug abzuzählen, genug einzukellern. Abgesehen von den Osterlämmern des Vorjahres und vereinzeltem zusätzlichem Wild, mußten die Fleischvorräte reichen, bis das Geflügel und das übrige Vieh wieder für ein Jahr gemästet waren.

      Es wurde gerupft und enthäutet. Geteilt und zerhackt. Gesalzen und geräuchert. Brennholz und Fässer lagen stapelweise im großen Vierkant des Schlosses zusammen mit Tierkörpern, deren Beine steif in die Luft ragten, und haufenweise Hühner, Enten und Gänse, denen man den Hals umgedreht hatte. Es dröhnte, wenn die Wagen durch das Tor fuhren, die Räder knirschten in dem trockenen Laub, und Fuhre um Fuhre wurde von den Bauern, die sich Bänder mit den Farben der Oldenburger um ihre Peitschen gewickelt hatten, abgeladen.

      Hier wohnte Herzog Hans. Auch ein Oldenburger, aber nicht der Oldenburger, den sie im Sinne hatten, wenn sie im Ostwind und bei nebliger See mit der Peitsche knallten und die rotgelben Fähnchen wehen ließen, wie eine persönliche Kriegserklärung an das Pulver, die Kugeln, den Stahl und die Kanonen des Gutsherrn.

      Schloß Nyborg war die stärkste Festung auf Fünen und außerdem der Ort, wo Christian II. geboren wurde. Als er Säugling war, rettete ihm während eines Brandes ein Affe das Leben, indem er ihn auf dem Dach in Sicherheit brachte.

      Möge diesen Affen der Teufel holen, dachte Ide beim Anblick eines weiteren Bauern im Hof, der sich zur Abwechslung die Bänder an seine Mütze gebunden hatte. Ihre Erbitterung wurde nie in gleicher Weise zur Gewohnheit, wie die Rufe der Offiziere auf den Bastionen, das ewige Heulen des Windes an den Mauerekken oder die Freude, in der modernen Wohnung des Lehnsmannes zu wohnen.

      Ide war an einem sonnigen Augustabend mit dem Schiff in Nyborg angekommen. Vom Schiff aus konnte sie die aneinandergebauten Häuser im Norden sehen, eine Ansammlung niedriger senkrechter Linien unter den Rauchsäulen der Feuerstellen, und die Spitze der Frauenkirche. Hier wohnten Handwerker, Kaufleute und Krämer. Direkt vor ihr erhoben sich die erdig roten Mauern der Festung lotrecht aus dem Wasser. Sie reichten bis zum Himmel und boten Wohnung für Herzöge und Gutsherren. Die Stände waren dazu da, das Volk einzuteilen. Die einen sollten gebieten, die anderen gehorchen. Ide mochte es, wenn die Dinge sichtbar gemacht wurden, und schritt leicht und beschwingt auf ihr neues Zuhause zu.

      Oluf zeigte den Weg zur Wohnung des Lehnsmannes im östlichen Flügel. Er machte es mit weit ausholender Handbewegung. Ide ahnte seinen Stolz über all das Neue, Elegante und Moderne, aber sie wollte schon selber bestimmen, was ein imponiertes Staunen verdiente. Wenn überhaupt. Die Wände waren mit Kalkmalereien verziert. Das war schön. Ein Söller zog sich am oberen Stockwerk entlang, so daß man das Gesinde an den Räumen, in denen es nichts zu schaffen hatte, vorbeischicken konnte. Eine ausgezeichnete Idee.

      Nach zwei Schritten in der Sommerstube blieb Ide stehen. Geblendet und entzückt. Die Fenster nach Westen waren nicht die üblichen niedrigen Öffnungen im Mauerwerk. Es waren richtige Nischen. Ein Erwachsener konnte aufrecht darin stehen, und das Licht schlug ihr in großzügiger Helle entgegen. Ide wurde es heiß. Die Hitze kam von innen. Eine hemmungslose Freude, allein Gegenstand für die Aufmerksamkeit der Sonne zu sein. Ihre Hände griffen an den Hals und glitten langsam nach unten. Die Sonnenstrahlen waren wie ein Bad in goldenen florentinischen Ölen, sie rieb ihre Haut, und sie legte den Kopf in den Nacken und verharrte, die Augen halb geschlossen, in dem bisher völlig unbekannten Genuß.

      Plötzlich bemerkte sie Oluf. Unter den Augenlidern nahm sie die Umrisse seiner Gestalt wahr. Die schrägen Linien des Baretts, des Wamses und der weiten Beutelärmel über den langen dünnen Beinen im Gegenlicht, etwas links vom mittleren Fenster. Ide trat rasch aus dem Licht und begegnete Olufs Lächeln. Er amüsierte sich. Vielleicht lachte er. In einem Reflex riß sie die Hände hoch und wollte sich decken. Ihren Gesichtsausdruck. Ihren Körper. Sie rannte fieberhaft hin und her und kritisierte die geringe Tiefe des Kamins. Der würde mit Sicherheit nicht genügend Wärme geben, wenn der Winter kam.

      Oluf entfernte sich plötzlich. Ide hörte die Schritte hinter sich. Sie griff nach dem Kamin und sammelte sich.

      Die Sonne war gesunken und lag wie eine dicke, überreife Zitrusfrucht hinter dem Wetterhahn am Südwestturm des Königsflügels. Es roch frischer als daheim auf Vallø. Aber hier war auch mehr Wasser, mehr Platz und mehr Licht und Ruhe, nachdem das Gesinde nicht mehr ständig mit Brennholz, Töpfen und Eimern für den Nebenraum gelaufen kam. Hier konnte man mitten im Zimmer ein Buch lesen. Natürlich im Sommerhalbjahr und nur wenn die Sonne schien und alle Fenster geöffnet waren.

      Ide war die Frau des Lehnsmannes geworden. Es gab nun viermal soviel zu zählen. Viermal soviel zu kontrollieren. Aber wenn es Abend wurde, wenn die Talglichter und Fackeln in der gesamten Länge des Königssaales angezündet waren, fühlte sie sich viermal so erhaben.

      Hier wurde in früheren Zeiten hofgehalten. Sie gehörte jetzt zu den vornehmsten Frauen. Der Feuerschein flackerte über das kunstvolle Würfelmuster der Wand, und nur an den festgesetzten Fasttagen wurde Fisch aufgetragen, sonst stand Fleisch auf dem Tisch und natürlich Löffelspeisen und Milchgerichte für die, die alle Zähne verloren hatten.

      Am Allerheiligentag stand im Blickpunkt des Festessens ein Trojanisches Pferd, in dessen Bauch sich statt der Krieger des Agamemnon glänzendes Konfekt befand. Als die Heiligenkrone des Kalenderstabes das Fest der Schmerzhaften Jungfrau anzeigte, wurde die Domkirche von Reims hereingetragen, und Oluf jubelte, als Mette, die auf seinem Schoß saß, mit raschem Griff die vergoldete Turmspitze abbrach.

      Beim Fest des heiligen Klemens stand ein Pfau auf der Tafel. Strahlend zwischen Rittern und Gutsherren, und durch den knisternden Halbkreis des Rades begegnete Ide Olufs langen Seitenblicken unter dem Aderngeflecht seiner Augenlider. Er zeigte die Erhabenheit und Souveränität des Machthabers, doch ab und zu bemerkte sie ein Zögern, bevor er vom Braten nahm. Eine Gewohnheit nur, daß so viel gebüßt werden mußte. Er sollte lieber daran denken, daß die Nächte dort verbracht wurden, wo sie verbracht werden sollten. Jede Nacht seit Sankta Lucina.

      Vielleicht sehnte er sich direkt nach der demütigenden Askese oder

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