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die Eltern. Aber sie hatte diesen Baum der Liebe nie gesehen. Auch nicht bei ihnen.

      Fünf Jahre nacheinander gebar die Mutter zur Säzeit einen Knaben und ging hinter seiner Leiche zum Grab, ehe die Sicheln im September die Ähren des Strohs schnitten. Ides Kindheit war eine Angst vor allem Fremden gewesen. Gebete mit den Knien auf kaltem Boden. Schweigend eingenommene Mahlzeiten. Und dann das Familienporträt mit den zwei lebenden Brüdern, der Schwester und ihr selbst im ersten Schnürleibchen und die fünf mondbleichen Säuglinge auf einem finsteren Himmel schwebend, jeder einzeln gemalt, ehe der Sargdeckel zuschlug.

      Die Eltern feierten nie ein Fest. Das Lachen des Vaters wurde nur in Abwesenheit der Mutter freigelassen. Doch Ide hatte selbst auch nie ein Fest gefeiert. Sie hatte sich vor dem Lärm und den groben Geräuschen gefürchtet, vor dem Ungezähmten, dem Berauschten, davor, sich selbst zu verlieren. Und was würde Oluf zu soviel Ausgelassenheit sagen.

      Ide stand auf, zog sich rasch ein Hemd über den Kopf und öffnete das Fenster. Es lag ein Lichtgeflimmer über dem Wallgraben, und die Wasserpfützen glitzerten. Noch hatte die Erde nicht ihre Farben. Sowohl das Gras als auch die Bäume waren grau. Aber Gott hatte es regnen lassen. Gott hatte die Ernte gerettet. Gott hatte ihr Freude geschenkt. Sie atmete sie ein, und vielleicht war Mette auch als Freude gekommen. Vielleicht war Oluf deshalb so angetan von ihr. Und von Katrine, die immer lachte.

      Die Frau, die die Nachttöpfe holte, kam herein. Sie schleifte die Füße hinterher, ging zur einen Tür hinein und zur anderen hinaus. Ide sah an sich hinunter. Die Hände waren direkt unter der Brust fest gefaltet, als preßten sie etwas, das schmerzte. Sie erschrak bei diesem Anblick, zwang die Finger auseinander und schaute auf. Draußen kamen allmählich die Farben zum Vorschein, Schatten und Gebäude bekamen Linien und Umrisse. Ihr wurde plötzlich klar, daß sie eigentlich nie gedacht hatte. Sie hatte nur gelernt. Gebete, Bibelworte und Sternendeutung für den Hausgebrauch. Lesen, Rechnen und Sticken und sämtliche Ahnen von der Seite des Vaters und der Mutter her aufzählen. Alle die Toten. Sie hatte nie ihre Hände und Füße benutzt. Sie bewegte sich wie eine Maschine. In der Nacht, in der Mette geboren wurde, hatte sie zum ersten Mal über mehr nachgedacht als über die Ursachen des widerspenstigen Wetters.

      Sie mußte etwas unternehmen. Sie konnte nicht einfach in der morgendlichen Kühle dastehen und nichts tun. Sie hatte geschworen, daß sie lieben wollte und klug sein und treu sein. Das erforderte Großmut und Vergebung. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, hatte zwei Geburten überlebt und hatte vielleicht noch viele Jahre vor sich.

      Es sollte ein Fest gefeiert werden. Das kam wie eine plötzliche Eingebung. Ide kroch unter die Decke und merkte erst jetzt, wie kalt ihre Beine geworden waren, und sie rieb sie warm.

      Alle sechzehn Kerzen auf dem Kronleuchter sollten angezündet werden, und der Glanz würde die Erinnerung an fünf tote Kinder und einen Knaben mit braunem Huhn aus ihrem Gedächtnis verscheuchen. Die Silberbecher sollten aus dem Silberschrank geholt werden und aus dem Pretiosenschrank die kostbaren Bankettdecken und das silberbestickte Gedecktuch mit den Wappen der Munks und der Rosenkrantz’ aus Goldfäden. Die Zinnkannen sollten mit echtem spanischen Alicantewein gefüllt werden, schwer und süß, mit etwas Glück in der Stadt Køge zu kriegen.

      Über die Zugbrücke rumpelten die ersten Karren und übertönten den morgendlichen Gesang der Vögel, während sich in Ides Kopf das Menü zusammenstellte. Suppe aus Zuckererbsen gekocht, Lamm mit Soße aus Senf, Honig und Zwiebeln gerührt, dazu ein Glas Rheinwein, vermengt mit Waldsauerklee und Portulak für den saueren Geschmack. Danach eine frisch gesalzene Speckseite mit Meerrettich und Liebstöckel. Die Tauben brauchten den mit Anis und Zimt angesetzten Senf. Pfefferminze und Brunnenkresse zur Wildpastete und Waldbeeren und Mandeln für die Kuchen. Südländische Früchte sollten bei den Händlern am Hafen gekauft werden und schließlich die gesäuerten Käse.

      Seitdem man die Bettelmönche aus dem Køge-Kloster vertrieben hatte, war es unmöglich gewesen, Salat, Radieschen und Kürbisse aufzutreiben. Offenbar war für das Gedeihen der fremdartigen Gewächse sowohl die Enthaltsamkeit des Zölibats als auch eine Hand von oben nötig.

      Es gab aber noch andere exotische Herrlichkeiten. Ide erinnerte sich an Feste bei ihrem Onkel, dem Bischof von Ribe, und den prachtvollen Anblick eines Pfaus mit entfaltetem Rad mitten auf der Tafel. Zuerst wurde er gebraten, dann stülpte man das Federkleid wieder darauf. Ein Genuß für Augen und Gaumen.

      Auf Vallø hatte man keinen Pfau, und einen zu kaufen war unglaublich teuer. Aber bei einem ordentlichen Fest mußte geschlemmt werden und galt kein Knausern, weder mit Talern noch mit Mark oder Schillingen. Ide bekam Herzklopfen bei dem Gedanken an diesen Überfluß. Das sollte ihre richtige Hochzeit werden. Alles von vorne anfangen. Immer wieder. Das Bisherige war nicht geschehen.

      Oluf wollte am Lucina-Tag nach Hause kommen, genau dann waren ihre sechsundsechzig unreinen Tage vorbei. Wenn er eintraf, hatte sie wieder die flüsternden Worte des Kanons gehört und war wie benommen von dem Weihrauch, und das Credo war gelesen worden. Sie hatte gebeichtet und war rein, geläutert und gereinigt.

      Eine Dienstmagd ging mit einer Brotsuppe durch die Kammer. Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Es war heller Tag, und vom Wallgraben ertönte das Geschwätz von Weibsleuten, die ihr Tagwerk damit begannen, Leinen mit Aschenlauge zu behandeln. Es roch nach feuchtem Gras, und Ide hörte drei Zimmer weiter Birgittes Stimme.

      Am Abend vorher war der Pfarrer deutlich erleichtert gewesen, nicht über seine Beichten ausgefragt zu werden. Er trank mit gespitzten Lippen von dem Klarett und erzählte nur über das aufrührerische Benehmen der Bauern den geistlichen und weltlichen Herren gegenüber. Aber als er aufbrechen wollte, starrte er – geblendet vom Feuerschein – Richtung Herfølge und erinnerte an Maria Magdalena. Sie verstehe, worum es gehe, sagte er leise, klappte den Kragen hoch und ging hinaus in den Regen, zu seinem Wagen beim Schuppentor.

      Ide sprang aus dem Bett. Es war nur noch eine Woche bis zum Lucina-Tag. Gewaltige Vorbereitungen standen bevor. Und eine gewaltige Aufgabe. Eine Seele sollte gerettet werden.

      Ide hatte ihr kostbares, tief ausgeschnittenes, goldenes Gewand aus der Truhe nehmen lassen. Die Röcke warfen Falten um ihre Beine. Die Goldketten wurden hervorgeholt. Das Haar war mit frisch geschnittenen Rosen hochgesteckt worden. Sie spiegelte sich und sah das Erröten ihrer Wangen und ihre breiten, weißen Zähne. Die hatte sie von der Mutter, und sie waren noch alle gesund. Sie wurde plötzlich schön. Beinahe hübsch. Ihr Haar hatte wirklich die braune Farbe der Nüsse, und die Augen waren so blau wie Kornblumen. Sie schwebte – wie einst über den Tanzboden auf Koldinghus.

      Der langgezogene Raum der Sommerstube bot einen prächtigen Anblick. Obwohl die Sonne noch am Himmel stand, waren alle Kerzen angezündet. Es funkelte in der Goldstickerei der Tischdecke, und Ide berührte mit einem Finger den Balken am Wappen der Rosenkrantz. Das Silber war geputzt, daß es blitzte. Das hatte ihr Vater zur Mitgift dazugegeben, nachdem die Verlobungsverhandlungen schon abgeschlossen waren. Vielleicht tat er es in der Hoffnung, daß seine jüngste Tochter die Freude finden möge, nur lebenstüchtige Kinder gebären würde und alle Gebete ein Dank über das Glück des Lebens wären. Daß sie lachen würde.

      Die Gesellen standen bereit, mit neuen Mützen in der gleichen Farbe wie der exotische Prachtvogel mitten auf der Tafel, und Ide hatte sämtliche Fingernägel kontrolliert und jedes hervorstehende Haarbüschel abgeschnitten.

      Die Gäste würden bald eintreffen. Alle Nachbarhöfe waren eingeladen. Die von Glob und von Bille und die Bjørns, die Familien Krognos und Basse waren ebenfalls unterwegs. Ide griff nach einem Löffel mit einer Inschrift. »Löffle langsam. Verbrenne dich nicht«, stand da. Sie lächelte, legte ihn dann aber entschlossen an Olufs Platz.

      Einen Augenblick wurde ihr schwindlig, sie spürte eine Hitze und Ohnmacht. Sie mußte sich beherrschen, um ihre Hände nicht auf den Punkt direkt unter der Brust zu heben. Im selben Moment ertönte Pferdegetrappel und Wiehern. Stimmen. Das Geklirr von Waffen. Rasche Schritte die Treppe herauf und hin zur Kammer der Kinder. Sie wußte, daß Oluf es tun würde. Birgitte kam mit einer Puppe im Arm angelaufen. Jetzt war es soweit.

      Oluf schritt herein, gefolgt von Rittern und Gesellen. Er trug immer noch eine Harnischbrust. Er lächelte breit und trug Mette in den Armen, hielt sie fest wie

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