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Südpolexpedition beschäftigt ist, scheint d’Urville noch gar nicht zu wissen; wer von den Klubmitgliedern und Fachkollegen in diesen Plan eingeweiht ist, hütet sich natürlich, auch nur ein Wort darüber verlauten zu lassen.

      Die Nachricht von der amerikanischen und französischen Expedition hat die geographischen Gesellschaften Englands alarmiert; sie dringen auf schleunige Ausführung dessen, was der Herzog von Sussex in seiner Antwort an Humboldt vom Juli 1836 der Wissenschaft verheissen hat. Aber die englische Regierung lässt sich durch fremden Wettbewerb nicht aus der Ruhe bringen. Die Expedition, die sie plant, hat keine andere Aufgabe als die Erforschung der Antarktis und die Feststellung des magnetischen Südpols; schon dadurch ist sie den beiden Nebenbuhlern überlegen. Sie soll dem Südpolproblem mit allen Mitteln moderner Wissenschaft zu Leibe gehen und an Gründlichkeit vorbildlich sein. Drei Jahre sind für ein Unternehmen angesetzt, das nur den befremden kann, der nicht weiss, dass auch das kleinste Rinnsal zuverlässiger wissenschaftlicher Forschung auf tausend Umwegen immer in den Strom des allgemeinen Lebens mündet. Und zum Führer dieser Expedition bestimmt die Admiralität einen der besten Männer der englischen Marine, den Kapitän James Ross, dessen erprobte Fähigkeiten als Seefahrer und Wissenschaftler die sichere Gewähr grössten Erfolges bieten. Er hat den magnetischen Nordpol gefunden und achtmal in der Polaris überwintert; ihm soll es auch vorbehalten sein, Englands Banner am magnetischen Südpol aufzupflanzen. Drei Jahre dauert schon die Vorbereitung der Expedition. Unterdes sind die beiden andern längst abgereist: d’Urville am 7. September 1837, Wilkes am 18. August 1838. Als Ross am 25. September 1839 die Anker lichtet, gehört zu den Aufgaben auch seiner Expedition: Verfolgung der Wege Weddells und Biscoes! Wenn es da etwas nachzuprüfen gibt, wird England das selbst besorgen.

      Die drei Expeditionen haben also das gleiche Ziel, trotz der Verschiedenheit ihrer sonstigen Aufgaben. Wer wird als erster — wer überhaupt jenes Ziel erreichen?

      Der erste Ringkampf mit dem Polareis

      D’Urvilles Aufgabe ist nicht beneidenswert. Er soll nicht frischweg möglichst weit zum Südpol hinunterfahren, da, wo er durchzukommen hofft. Solch einem Experiment darf er die beiden Schiffe gar nicht aussetzen, denn sie haben noch andere grosse Aufgaben wissenschaftlicher und handelspolitischer Art, genau so wie die amerikanische Expedition. Der berühmte Physiker Arago hat am 5. Juni 1837 in der französischen Deputiertenkammer heftig protestiert gegen alle Polarreisen, deren Hauptzweck die Erreichung des Südpols sei, und die Akademie der Wissenschaften hat sich daraufhin geweigert, die neue Expedition mit fachmännischen Instruktionen zu unterstützen! Für eine richtige Polarfahrt sind die Schiffe nur notdürftig und Hals über Kopf ausgerüstet, sie sollen ja nur feststellen, ob die vier Reisewege Weddells zwischen dem 50. und 30. Grad westlicher Länge, zweimal hin, zweimal zurück, auch jetzt noch so eisfrei sind, wie sie 1823 gewesen sein müssen, wenn der englische Walfänger nicht ebenso geschwindelt hat wie sein amerikanischer Kollege und Freund Morrell. Der ganze Auftrag zeigt, dass man von den ungeheuren und unberechenbaren Veränderungen der Polareismassen nur erst eine laienhafte Vorstellung hat. In die Antarktis macht man keinen „Abstecher“ im Vorübergehen, sie verlangt von einer wissenschaftlichen Expedition den Einsatz eines ganzen Unternehmens, wenn sie zuverlässige Ergebnisse mitbringen soll. Obendrein traut d’Urville den Angaben Weddells nicht; findet er dessen Wege jetzt durch Eis versperrt, so erscheint sein Misstrauen gerechtfertigt. Aber lohnt diese negative Feststellung die Anstrengungen und Gefahren eines Kampfes mit dem Polareis? Denn selbstverständlich muss die Expedition ihr Äusserstes tun und alle Möglichkeiten erschöpfen, ehe ihr Führer mit ruhigem Gewissen, wie ehemals Cook, der Welt sagen kann: „Nec plus ultra!“ „Weiter zu kommen war einfach unmöglich!“ Es wäre natürlich ein grosser Triumph für Frankreich, wenn es gelänge, auf den vorbezeichneten Wegen den Rekord Weddells zu überbieten, und d’Urville würde von Herzen gern bis zum 80. Grad und noch weiter stracks zum Südpol fahren, aber er glaubt an diese Möglichkeit nicht. An Erfolg und Sieg aber muss man glauben, sonst sind Arm und Hand gelähmt. Ist jemals ein Polarforscher in so resignierter Stimmung auf Fahrt gegangen?

      Die beiden Schiffe verlassen am 8. Januar 1838 die Magellanstrasse. Auf dem Flaggschiff „Astrolabe“ hat d’Urville auch seine beiden ersten Weltreisen gemacht; sein Freund und früherer Reisegefährte Kapitän Jacquinot kommandiert das Begleitschiff „Zelée“. Der Tüchtigste im Offizierstab ist der Seeingenieur Vincendon Dumoulin. Die Mannschaft ist dem Führer völlig fremd; von seinen früheren erprobten Begleitern hat auch nicht einer mitgehen wollen. Die Antarktis kennt noch keiner von der ganzen Besatzung.

      Am 12. Januar verschwindet die Staaten-Insel, östlich von Kap Hoorn, am Horizont. In Nebel und Regen steuert d’Urville nach Südosten. Drei Tage später schwimmen die ersten Eisberge heran, erst kleinere Trümmer, dann mächtigere Blöcke von 40 Meter Höhe und 60 Meter Länge, die im brodelnden Nebel wie ungeheure graue Segel auftauchen und unheimlich nahe vorüberziehen, die Vorhut des zu bekämpfenden Feindes, an dessen Anblick sich die Mannschaft erst gewöhnen muss. Die Hauptgefahr aber ist zunächst der Nebel, der vom Meere aufsteigt und sich zu einer weissen Wolkenschicht darüber zusammenballt; oft sieht der Mann in der Ausgucktonne nur die Mastspitze des Begleitschiffes über dem Nebelmeer emporragen; verschwindet auch sie, dann muss man sich durch Kanonenschüsse verständigen. Hört alle Sicht auf, dann müssen die Schiffe beilegen, denn die Eisberge werden immer zahlreicher und gewaltiger. Die Wache, die den kleinsten Eisblock zu melden versäumt, muss doppelt langen Strafdienst tun, was bei der zunehmenden Kälte kein Vergnügen ist. Reisst der Nebel plötzlich, dann enthüllt sich ein phantastisches Bild. Die Gipfel der hohen Eisinseln umflattern Schwärme weisser Sturmvögel; an den steilen Abhängen aber stehen wunderliche Gestalten, ernst wie würdevolle Stiftsherren auf den Chorstühlen einer Kathedrale, mit vorn weisser, hinten schwarzer Robe, oder auch wie Soldaten, die regungs- und lautlos vor ihrer Festung auf Posten stehen; es sind Pinguine mit hocherhobenem Kopf und stramm angelegten Flügeln; sie begrüssen die näherkommenden Schiffe mit heiserm Geschrei, stürzen sich wie auf Kommando ins Wasser und tummeln sich pfeilschnell um Heck und Bug. Manche dieser Inseln sind Tausende von Metern lang, tafelförmig mit wilddurchfurchten Seiten, die bei flüchtigem Sonnenblick in allen Farben des Regenbogens leuchten. Eine von ihnen gleicht einer ungeheuren Turmruine, deren Inneres, von den Wellen ausgehöhlt, azurblau erstrahlt; ein Teil des Gemäuers ist mit blendendweissem Schnee bedeckt, der andere schmutzig braun vom Kot der Vögel; an einer Stelle aber ist ein richtiger Felsblock deutlich erkennbar. Er muss von irgendeiner Küste im Süden stammen. Ist etwa Land schon in der Nähe? Eine unabsehbare Kette von Eisbergen zwingt die Schiffe am 20. Januar, nach Nordosten auszuweichen; dann stossen sie wieder nach Süden vor und erreichen am 21. auf 62° s. B. bereits den Meridian, auf dem Weddell von seiner zweiten, so erfolgreichen Fahrt zurück nach Norden segelte. Die Sonne hat mit dem Nebel aufgeräumt; ein strahlend heller Tag; von Eis ist fast nichts mehr zu sehen, und nach Süden dehnt sich unermesslich weit das rätselhafte Polarmeer. Die Matrosen jubeln, denn auf Erreichung einer hohen südlichen Breite sind von Grad zu Grad sich steigernde Geldpreise ausgesetzt. Auch der Kommandant ist in freudiger Erregung. Hat Weddell am Ende doch recht gehabt? Ist hier der Weg zum Pol offen? Soll wirklich der Expedition das Glück beschieden sein, bis zum 74. Grad — vielleicht noch weit darüber hinaus zu kommen? Warum denn nicht? Die See ist ruhig, der Wind günstig, nirgends zeigt sich die Spur eines ernstlichen Hindernisses. Seit gestern ist d’Urville nicht aus der Steuermannshütte gewichen; nach achtzehnstündigem Dienst legt er sich am Abend dieses Tages voll stolzer Hoffnungen zur Ruhe. Morgen mittag schwimmen die Schiffe mindestens schon auf dem 65. Grad, über den auch Weddell auf seiner ersten Fahrt nicht hinaus kam; wann werden sie seine beiden Nussschalen überholt haben?

      Mitten in der taghellen Nacht Alarm auf Deck. D’Urville schreckt aus dem Schlafe auf und eilt nach oben. „Festes Eis in Sicht!“ brüllt ihm die Wache entgegen. Im Süden, kaum drei Kilometer entfernt, zieht sich eine ununterbrochene Eisküstenlinie von Ost nach West quer über den Weg, ein unendliches, überall den Horizont abschneidendes Feld von Packeis, das eine unwiderstehliche Elementarkraft zusammengeschoben, emporgeschraubt, übereinandergetürmt und ineinander verkeilt hat. Über dieser chaotischen Masse ragen zahllose hohe Eisberge empor wie unförmige Gebäude aus weissem Marmor. Die Kante dieser Eisdecke ist eine glatte Mauer von 4 bis 5 Meter Höhe, nur hier und da ein wenig angebröckelt und zersplittert, und an ihrem Fuss steht eine schäumende Brandung, die schwere Eistrümmer

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