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das häufig vor?«, fragte ich.

      »Viel zu selten. Er verschwand natürlich weiterhin im Keller, dann konnte sie mich anrufen. Aber das hat er auch kontrolliert. Anhand der Telefonrechnung. Heutzutage wird ja jedes Telefonat aufgelistet, wann, mit wem, wie lange. Also habe ich ihr ein altes Handy von mir geschenkt, mit so einer Prepaid-Karte.«

      »Nicht leicht, mit einem Kontrollfreak zu leben, der alles überwacht«, sagte ich.

      Erwin hob fast unmerklich die Augenbraue, und ich schluckte nervös. Er hatte natürlich recht – der Begriff Kontrollfreak war unangemessen gewesen. Diese Bewertung stand mir nicht zu. Nicht der Klientin gegenüber. Selbst wenn sie ihn einen Erbsenzähler genannt hatte.

      »Ich mache mir wirklich Sorgen«, fuhr sie fort. »Wenn Sie Jutta persönlich kennen würden, dann würden Sie mich ganz sicher verstehen.«

      »Was glauben Sie denn, was passiert ist?«, fragte ich sie.

      Sie starrte mich erschrocken an, als hätte ich damit eine ganze Reihe von Horrorfantasien von der Leine gelassen, die sie sich bisher nicht erlaubt hatte.

      »Ich weiß es nicht«, wisperte sie schließlich. »Irgendetwas furchtbar Schlimmes, fürchte ich.«

      »Zum Beisp…«, wollte ich sofort nachhaken, aber Erwin stoppte mich mit einer Handbewegung.

      »Frau Berger«, sagte er dann, »sind Sie bei der Polizei gewesen und haben Ihre Sorgen dort vorgetragen? Eventuell sogar eine Vermisstenanzeige erstattet?«

      Sie sah ihn an, als hätte er eine Schraube locker. »Wie bitte? Selbstverständlich nicht. Glauben Sie, ich will mich dort von einem jungen Schnösel in Uniform abkanzeln lassen, dass ich zu viele schlechte Krimis lese? Andererseits bekomme ich genug von der Welt mit, um zu wissen, dass volljährige Menschen ein Aufenthaltsbestimmungsrecht haben.«

      Alle Wetter – mir schlackerten die Ohren, als sie plötzlich in die Kiste mit Fachbegriffen griff.

      »Nun ja, dass Jutta plötzlich fort ist, reicht der Polizei tatsächlich nicht für einen begründeten Anfangsverdacht aus, um Ermittlungen aufzunehmen. Da braucht es schon klare Indizien, dass es sich um ein Verbrechen handeln könnte. Zumal, wenn Herr Dengelmann als nächster Angehöriger nicht selbst aktiv wird …«, murmelte Erwin. »Wenn, dann müsste eigentlich er Vermisstenanzeige erstatten.«

      »Sehen Sie? Das hat er nicht getan. Denn sonst wären doch irgendwann Polizisten bei mir aufgetaucht, um mich zu befragen, oder? Und deshalb glaube ich auch, dass etwas nicht stimmt. Ich bleibe dabei: Jutta büxt nicht einfach aus. Wie hätte sie das heimlich vorbereiten sollen? Ohne eigenes Geld? Verstehen Sie? Sie hätte mich nur fragen müssen, und ich hätte ihr ein Flugticket nach sonst wo gebucht. Oder eine Zugfahrkarte gekauft. Sie hat sich doch nicht mit einem Köfferchen an die Straße gestellt und den Daumen rausgehalten!«

      Nun, wer wollte das beurteilen? Jedes Jahr verschwinden Hunderte Menschen, ohne dass ein Verbrechen dahintersteckt. Erst kürzlich waren die Zeitungen voll mit der Geschichte von einer Frau gewesen, die seit mehr als dreißig Jahren vermisst und nur durch einen dummen Zufall entdeckt wurde. Nicht etwa, weil sie es wollte, sondern weil sie in einen banalen Verkehrsunfall geraten war, eigentlich eine Bagatelle. Aber dann stellte sich heraus, dass ihre Papiere nicht in Ordnung waren, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Und selbst danach verweigerte sie jeglichen Kontakt mit ihrer Familie, die jahrzehntelang um sie getrauert hatte. Längst hatte man sie für tot erklärt. Sie war einfach plötzlich weg gewesen.

      Genau wie jetzt Jutta Dengelmann.

      So etwas kam tatsächlich vor.

      »Vielleicht hat Ihre Freundin seit Jahren heimlich gespart, könnte das eventuell sein?«, fragte ich.

      Wieder schüttelte sie entschieden den Kopf. »Unmöglich. Sie bekam ein bestimmtes Haushaltsgeld und hatte jeden ausgegebenen Pfennig zu belegen. Wenn ein Kassenbon fehlte oder eine Summe nicht belegbar war, selbst wenn es nur um ein paar Euro ging, machte Gerhard Theater. Nicht, dass er sie schlug oder so …«, erschrocken hielt sie inne. »Zumindest weiß ich nichts davon. Aber wenn sie einen Bon verloren hatte, half ich ihr mit der Summe aus, damit sie sich nicht wieder seine endlosen Litaneien anhören musste.« Sie beugte sich vor und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Ganz unter uns: Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie ihm irgendwann mal eine Pfanne über den Schädel gehauen hätte. Und ich hätte es verstanden. Nicht nur das: Ich hätte ihr sogar dabei geholfen, ihn irgendwo zu verbuddeln.« Sie verzog das Gesicht. »Dann hätte sie behaupten können, er hätte sie verlassen. Aber man kann auch jemanden terrorisieren, ohne die Hand zu erheben, wissen Sie? Und Gerhard hat sie seit mehr als dreißig Jahren terrorisiert, die Ärmste. Sicher fragen Sie sich, warum sie nicht längst gegangen ist, warum sie das all die Jahre ertragen hat. Nun, das will ich Ihnen sagen: Jutta ist eine ehrbare Frau. Für sie hat das Ehegelöbnis noch eine Bedeutung. Bis dass der Tod euch scheidet.« Sie hielt erschrocken inne und biss sich auf die Unterlippe. »Denken Sie ... denken Sie, dass er ... oh mein Gott.«

      Fahrig nestelte sie am Verschluss ihrer Handtasche. Endlich, als ich bereits kurz davor war, helfend einzugreifen, weil ich das Elend nicht mehr mit ansehen konnte, kriegte sie ihn auf. Sie kramte ein blütenweißes Stofftaschentuch heraus und schnäuzte sich geräuschvoll.

      »Nun, vielleicht sollten wir nicht gleich vom Allerschlimmsten ausgehen«, brummte Erwin. »Zumindest, solange wir keine Beweise oder wenigstens starke Indizien für ein Verbrechen haben. Ich frage mich allerdings, wie wir unauffällig an diesen Gerhard Dengelmann herankommen sollen, um etwas herauszufinden.«

      »Ach, das ist kein Problem!«, sagte Frau Berger zu unserer Verblüffung und kramte erneut in ihrer Handtasche. »Das war heute Morgen in der Zeitung. Die relevante Anzeige habe ich markiert.«

      Sie gab Erwin das ausgeschnittene Stück einer Zeitungsseite. Ich stand auf und setzte mich auf die Armlehne seines Sessels, um mitzulesen. Mit grünem Textmarker hatte sie eine Kleinanzeige eingekreist. Hilfe für leichte Tätigkeiten im Haushalt gesucht, las ich dort, drei Vormittage pro Woche. Dann folgte eine Telefonnummer.

      »Das ist Juttas Telefonnummer«, sagte Frau Berger. »Also die von den beiden, natürlich.« Sie schnaubte. »Natürlich ist Gerhard jetzt, wo Jutta nicht mehr da ist, vollkommen hilflos. Vermutlich kann er sich gerade mal eine Stulle schmieren.« Erneutes verächtliches Schnauben. »Wenn überhaupt. Ohne Hilfe würde der Mann in seinem eigenen Dreck untergehen. Jeden Tag steht der Pizzaservice vor der Tür. Und mindestens vier Haushaltshilfen hat er schon verschlissen.«

      »Das haben Sie alles während der letzten drei Wochen mitbekommen?«, fragte ich.

      Sie zuckte schuldbewusst zusammen. »Nicht, dass Sie denken, ich würde den lieben Tag lang hinter der Gardine lauern. Oder mit dem Ohr an der Wohnungstür kleben.«

      Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich?

      »Unser Haus ist sehr hellhörig, müssen Sie wissen. Da bekommen Sie alles mit. Natürlich höre ich es, wenn der Pizzaservice liefert. Und eine von den Haushaltshilfen habe ich im Hausflur getroffen, als ich meine Post reingeholt habe.«

      Oder du hast zufällig genau in dem Moment deine Post reingeholt, als du die Haushaltshilfe im Flur gehört hast, dachte ich.

      »Und mit der haben Sie sich unterhalten?«, hakte Erwin nach.

      Frau Berger nickte. »Unterhalten ist vielleicht zu viel gesagt, sie sprach kaum Deutsch. Sie hatte gerade gekündigt. Kann diese Mann da oben nicht aushalten, hat sie gesagt.«

      »Wie viele Mietparteien wohnen bei Ihnen im Haus?«, wollte ich wissen.

      »Vier«, entgegnete sie. »Die Dengelmanns und ich links, rechts unten Professor von Rabenstein, ein sehr höflicher älterer Herr, und über ihm ein kinderloses Lehrerehepaar. Sehr ruhige und gediegene Leute. Aber man hat nicht viel miteinander zu tun. Man grüßt sich im Hausflur und wünscht sich einen guten Tag und einen guten Weg.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das reicht mir auch vollkommen aus.«

      »Wie kam es, dass Frau Dengelmann und Sie sich angefreundet haben, wenn Sie ansonsten Distanz zu Ihren Nachbarn halten?«

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